Die Energiestiftung Schweiz SES hat Anfang März eine äusserst spannende Studie publiziert. Basierend auf einer Analyse der geltenden Bundesgesetze zeigt sie auf, wie der Energiekonsum in der Schweiz durch Fehlanreize angeheizt wird: Aufgeführt werden 112 sogenannte «Massnahmen mit energetischem Fehlanreiz» – die Liste, so die Autor:innen der Studie, sei nicht abschliessend, die Zahl der Fehlanreize eher unterschätzt.
Die Expert:innen identifizierten Fehlanreize in zahlreichen Sektoren – dazu gehören insbesondere die Bereiche Energie, Verkehr, Landwirtschaft, Tourismus, Industrie/Unternehmen – aber auch Regulierungen im Steuerwesen sowie bei Bau und Raumplanung befördern den Energieverschleiss. Und zwar durch verschiedene Formen von Massnahmen wie Subventionen, Steuern, Vorschriften – aber auch Mängel im Vollzug oder bei der Kontrolle verhindern bislang einen effizienten Umgang mit Energie.
Beispiele für Fehlanreize sind etwa Tarife, die bei hohem Stromverbrauch sinken. Oder das Fehlen einer CO2-Abgabe auf Treibstoffen im Strassenverkehr. Und die Befreiung des Flugverkehrs von der Mineralölsteuer.
Allein die Korrektur von sieben in der Studie näher untersuchten Fehlanreizen beinhaltet ein Energiesparpotenzial von 9 bis 10 Terrawattstunden (TWh) pro Jahr, was knapp 5 Prozent des heutigen Schweizer Gesamtenergieverbrauchs entspricht. – Mit anderen Worten: Durch die Abschaffung oder Revision der Gesetzesartikel, die zum Mehrverbrauch an Energie animieren, könnte der Energiebedarf in der Schweiz massiv reduziert werden.
Dass nun ausgerechnet die SES das Ja-Lager der Umweltverbände zum neuen Stromgesetz, über das wir am 9. Juni 2024 abstimmen werden, anführt, ist absolut unverständlich. Handelt es sich doch bei der Vorlage («Mantelerlass») um ein Machwerk, das gleich in mehrfacher Hinsicht zusätzliche Fehlanreize in der Schweizer Energiepolitik produziert.
Wer das Feilen an den neuen Gesetzesartikeln mitverfolgt hat und sich die Mühe nimmt, die neuen Bestimmungen im Detail zu lesen, stellt mit grosser Verwunderung fest: Die Slogans für die Ja-Parole der Umweltverbände klingen wie ein Hohn und entspringen eher einem Wunschdenken als der Realität.
So wird etwa in Bezug auf Solaranlagen behauptet: «Über 80 Prozent der Anlagen entstehen auf Gebäuden und bestehender Infrastruktur.» – Stimmt nicht. Fakt ist: Die angedachte Solar-Pflicht für Fassaden und Dächer hatte im Parlament keine Chance. Was davon übrig blieb ist einzig die Vorschrift, dass beim «Bau neuer Gebäude mit einer anrechenbaren Gebäudefläche von mehr als 300m²» eine Photovoltaik oder Solarthermieanlage zu erstellen sei. Und noch da ermöglicht das Gesetz die Gewährung von Ausnahmen.
Dies, obschon etwa ein vom Bundesamt für Energie publizierter Solarkataster aufzeigt, dass allein geeignete Hausdächer und Fassaden 67 TWh Strom liefern könnten. Mit einer zusätzlichen Bestückung von Infrastrukturen wie Lärmschutzwänden, Verkehrsflächen oder Staumauern mit Photovoltaik-Anlagen könnten jährlich sogar 90 TWh Energie produziert werden. Das ist mehr als doppelt soviel Strom wie sämtliche Wasserkraftwerke der Schweiz liefern.*
Statt dieses enorme Potenzial mit einer konsequenten Förderung von Solaranlagen auf bestehenden Bauten zu nutzen, ermöglicht das neue Gesetz für Energieinfrastrukturen «von nationalem Interesse», dass bisherige Bestimmungen des Natur- und Heimatschutzgesetzes zugunsten der Energiegewinnung ausgehebelt werden. Und finanzielle Anreize für die grossen Energiekonzerne verhindern eine schlankere, dezentrale Energieproduktion. Denn der Bund soll bis zu 40 Prozent an die Projektierungskosten neuer grosser Wasserkraft‑, Windenergie- oder Geothermieanlagen zahlen, was den Elektrokonzernen bei ihren Plänen entgegenkommt.
Dies sind nur zwei einer ganzen Reihe von Beispielen, die zeigen, wie das neue Stromgesetz das veraltete Denken und die Energieverschwendung weiter zementiert. Keine Frage: Wir brauchen dringend neue Regeln und Vorschriften, um den Energieverbrauch in unserem Land nachhaltig zu gestalten – das heisst aber vor allem auch, ihn zu senken.
Dass dies möglich wäre, zeigt nicht nur die eingangs erwähnte SES-Studie. Laut einer anderen Studie der Schweizerischen Agentur für Energieeffizienz S.A.F.E. liegt das Sparpotenzial beim Strom – allein gestützt auf den technischen Fortschritt – bei rund 26 TWh. Laut dem Verein bräuchte die Schweiz 2035 – bei gleichbleibendem Wachstum – pro Jahr nur 46 TWh Strom, also 23 Prozent weniger als heute, wenn sie das technische Sparpotenzial ausschöpfen würde.
Das neue Stromgesetz macht in Bezug auf Energiesparmassnahmen bloss sehr allgemeine Angaben. Trotz hartem Ringen muss der erfeilschte Kompromiss als grottenschlecht bezeichnet werden – allzu viel von dem, was die Vertreter:innen der JA-Parole nun aus dem Mantelerlass herauslesen, steht dort mit keinem Wort. Im Gegenteil: Die Vorlage ist eine Mogelpackung, gefüllt mit Gummiparagraphen.
Mit der Kategorie Energieanlagen «von nationalem Interesse» schafft das Gesetz gar die Basis für einen ungebremsten Ausbau von Energie-Infrastrukturbauten auf Kosten von Natur und Umwelt: Eine von den Strombaronen zu definierende «Energiesicherheit» erhält explizit das Primat über Landschafts- und Heimatschutz. Mit- und Einspracherechte werden beschnitten, Bewilligungsverfahren beschleunigt und «verschlankt».
Das geht auf Kosten von Sorgfalt und Seriosität. Dies notabene ohne Not, wie oben erwähnte Studien beweisen: Die Schweiz verfügt aktuell nicht nur über genügend Energie, sie hat darüber hinaus ein grosses Energiespar-Potenzial. Dies muss erst einmal ausgeschöpft werden, bevor man dem Ausbau von Energie-Infrastruktur hemmungslos Tür und Tor öffnet. Es braucht ein griffiges Gesetz, das auch der Erkenntnis Rechnung trägt, dass Energieressourcen sorgfältig und nachhaltig genutzt werden müssen.
Ein NEIN am 9. Juni wird die Politiker:innen – und auch die Umweltverbände – zwingen, das Ganze neu aufzugleisen. Die Umweltorganisationen sollen ihre Aufgaben erfüllen und dürfen nicht Hand zu faulen Kompromissen mit den Elektroturbos bieten. Damit die Parole «Strom im Einklang mit der Natur» nicht bloss eine leere Worthülse bleibt, sondern tatsächlich umgesetzt wird.
*Quelle: Die Energiewende im Wartesaal, Rudolf Rechsteiner, hrsg. von der SES, Verlag Zocher&Peter, 2021