Kehrtwende oder Kampagne

Initiant Oswald Sigg: Grundeinkommen ist so nicht umsetzbar</em>» titeln Tages-Anzeiger und Der Bund heu­te in gros­sen Lettern auf der Frontseite.

«Kann das sein?», fragt sich die erstaun­te Leserin. Kann es sein, dass der pro­mi­nen­tes­te Mitinitiant der Initiative für das bedin­gungs­lo­se Grundeinkommen (BGE) sechs Wochen vor der Abstimmung abspringt?

Dies, nach­dem er sich wäh­rend Monaten expo­niert hat, trotz rau­em Gegenwind auch aus der SP, sei­ner eige­nen Partei. Noch am 16. April liess sich Sigg im Bieler Tagblatt auf den Hinweis, das BGE wer­de als link­suto­pisch bezeich­net, mit den Worten zitie­ren: «Das stört mich gar nicht. Vieles, was in der Schweizer Politik zu einem gros­sen Wurf gewor­den ist, wur­de zuerst als Utopie abge­tan. Das gilt für das Proporzwahlprinzip, das Frauenstimmrecht oder die AHV. Letztere ist sym­bo­lisch für das BGE: Es brauch­te 60 Jahre, bis das Gesetz in Kraft getre­ten ist.»

Und jetzt soll der erfah­re­ne und gewief­te Politfuchs sei­nen MitinitiantInnen plötz­lich mit einem Rückzieher in den Rücken fal­len? Dies näm­lich sug­ge­riert die Schlagzeile der Tages-Anzeiger Online-Version: «Überraschung im Lager der Grundeinkommen-Initianten.»

Als Aufhänger dient Siggs Aussage, er glau­be nicht, «dass man das bedin­gungs­lo­se Grundeinkommen in der Schweiz iso­liert umset­zen kann», dies wür­de «höchst­wahr­schein­lich zu einer noch grös­se­ren Zuwanderung führen.»

Wie die Aussage zustan­de gekom­men ist und in wel­chem Kontext sie steht: die Leserin sucht ver­geb­lich nach einem Quellenhinweis. Kolportiert wird ein­zig ein wenig über­zeu­gen­der Umsetzungsvorschlag: Man könn­te – bei Annahme der Initiative – das BGE qua­si «unter Laborbedingungen» vor­erst in einem ein­zel­nen Kanton umset­zen, statt – wie es der Initiativtext ver­langt – in der gan­zen Schweiz. Um so die Gefahr einer ver­mehr­ten Zuwanderung zu entschärfen.

Auf sol­che Spielereien reagiert Mitinitiant Daniel Häni unauf­ge­regt sach­lich: «Es geht jetzt um den Grundsatz», sagt er. Detailfragen der Umsetzung, die vom Gesetzgeber defi­niert wer­den müs­sen, wür­den zum heu­ti­gen Zeitpunkt von die­ser Grundsatzfrage ablen­ken. Gerade Oswald Sigg, so Häni, habe im Initiativkomitee stets dar­auf gedrängt, dass der Initiativtext auf die Grundsatzfrage fokus­siert. Und dafür sei er ihm dankbar.

Fakt ist, dass der Tages-Anzeiger-Artikel kri­ti­sche Äusserungen von Sigg, was die Herausforderung bei der Umsetzung anbe­langt, für einen bil­li­gen Kampagnenjournalismus miss­braucht. Wer sich die Mühe nimmt, den Artikel zu Ende zu lesen, merkt schnell, dass es hier nicht um die angeb­li­che Kehrtwende von Oswald Sigg geht. Für Iwan Städler, sei­nes Zeichens «Reporter Recherche» ist die Vorstellung, die Schweiz könn­te zu einem «Testlabor» für ein bedin­gungs­lo­ses Grundeinkommen wer­den, offen­bar ein Gräuel. So artet sein Artikel schliess­lich zu einem Pamphlet gegen die Initiative aus.

Progressiver den­ken­de ZeitgenossInnen sehen das anders. So zum Beispiel Yanis Varoufakis, am 18. April im TA: «Die Robotisierung ist längst im Gange, Roboter kau­fen aber kei­ne Produkte. Deshalb braucht es ein Grundeinkommen, um die­sen Wandel auf­zu­fan­gen und eine Gesellschaft mit zuneh­men­der Vermögensungleichheit zu stabilisieren.»

Angesichts der aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Entwicklungen müs­sen über kurz oder lang neue Lösungen für Arbeit und Einkommen gefun­den wer­den. Die Initiative, über die wir am 5. Juni abstim­men wer­den, bie­tet dafür eine reel­le Chance. Gerade weil sie den Weg frei macht, für die Suche nach krea­ti­ven, neu­en Wegen. Dazu noch ein­mal Varoufakis: «Genau weil es der Schweiz so gut geht, eig­net sie sich ide­al für Experimente mit dem Grundeinkommen. Aber ver­ges­sen Sie nicht: Trotz des Reichtums nimmt die Lebensqualität schon heu­te ab. Was nützt Ihnen ein gut bezahl­ter Job, wenn Sie Angst haben, ihn zu ver­lie­ren? Diese stän­di­ge Furcht lähmt und macht krank. Die Schweiz soll­te das Grundeinkommen als eine Investition in die Zukunft betrach­ten.» – Ich bin mir ziem­lich sicher, dass auch Oswald Sigg das immer noch so sieht.
<div>Nachtrag 1</div>
<div>Kampagnenjournalismus, noch bil­li­ger: Bereits um 10.51 zieht die NZZ nach. Inlandredaktor Marc Tribelhorn schreibt den Artikel aus dem Tages-Anzeiger ab. 1:1 – ganz ohne eige­ne, wei­ter füh­ren­de Recherchen.</div>
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<div>Nachtrag 2</div>
<div>Auch der Blick schreibt ab, Le Matin springt auf die Kampagne auf, die Ticinonews… Am Mittag greift Radio SRF die Geschichte auf. Immerhin: Hier wird nicht bloss der Tagi-Artikel zitiert. Oswald Sigg kommt sel­ber noch ein­mal zu Wort – und plötz­lich haben die im Tages-Anzeiger zitier­ten Aussagen eine etwas ande­re Stossrichtung…</div>
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Plattform für Petry

Die von Christoph Blocher gegrün­de­te Auns – Aktion für eine unab­hän­gi­ge und neu­tra­le Schweiz – ist eine Organisation wie vie­le ande­re auch. Sie poli­ti­siert rechts­aus­sen, gefällt sich dar­in, zu pro­vo­zie­ren und ver­steht es, damit viel Staub aufzuwirbeln.

Ihr aktu­el­ler Coup: Die angeb­lich um die Erhaltung des tra­di­tio­nel­len Schweizertums so besorg­te Bewegung, fliegt zu ihrer Jahresversammlung – nicht zum ers­ten Mal – eine Rednerin aus dem Ausland ein. Nachdem sich 2014 bereits der bri­ti­sche Rechtspopulist Nigel Farage bei der Auns fei­ern liess und damit schweiz­weit für Schlagzeilen sorg­te, tritt die­ses Wochenende die deut­sche Rechtsaussen-Politikerin Frauke Petry als Promi-Gast auf.

Die Rechnung der Auns-Veranstalter ist wie­der auf­ge­gan­gen: Schon im Vorfeld konn­ten sie ers­te Schlagzeilen ver­bu­chen, weil die ursprüng­lich in Bern geplan­te Veranstaltung wegen Protesten aus dem links­au­to­no­men Lager ins Berner Oberland ver­legt wur­de. Sinnigerweise in den Mistery Park, der sich laut Wikipedia «der Präsentation uner­klär­li­cher und doch real fass­ba­rer Welträtsel widmet».

Noch bevor die Sonntagspresse auf­sprin­gen und aus­gie­big über den sams­täg­li­chen Auftritt der Afd-Chefin berich­ten kann, hat sich bereits Radio SRF als flin­ke Trittbrettfahrerin und will­fäh­ri­ge Multiplikatorin pro­fi­liert: Als Gast im Freitagstagesgespräch erhält Frauke Petry die ein­ma­li­ge Gelegenheit, sich dem Schweizer Publikum als net­te, elo­quen­te und besorg­te Politikerin zu prä­sen­tie­ren, die mit Rechts und Rassismus nichts, aber auch gar nichts am Hut habe.

Moderatorin Susanne Brunner hat ihr jour­na­lis­ti­sches Werkzeug zuhau­se gelas­sen und fasst ihre Gesprächspartnerin nicht nur mit Samthandschuhen an – viel­mehr ermög­licht sie Petry mit einer Reihe von wohl­wol­len­den Steilpässen, ein Tor nach dem andern zu erzie­len. Keine wirk­lich kri­ti­schen Fragen, schon gar kein Nachhaken – Brunner lässt Petry 20 lan­ge Minuten kom­men­tie­ren, rela­ti­vie­ren, zurechtrücken.

Unwidersprochen darf die AfD-Chefin etwa behaup­ten, ihre Partei sei gegen Gewalt. Nachdem sie sel­ber vor weni­gen Wochen mit ihrer Forderung, Polizisten müss­ten not­falls an der Grenze gegen Flüchtlinge «auch von der Schusswaffe Gebrauch machen», euro­pa­weit für Empörung gesorgt hatte.

Bei Petrys Forderung nach einer «öffent­li­chen Diskussion über die Frage, ob Deutschland so vie­le Muslime woll­te» müss­ten eigent­lich alle Alarmglocken schril­len. Die Aussage, getarnt als Ruf nach mehr Demokratie, erin­nert an Zeiten, als Deutschland Massnahmen ergriff, weil man nicht so vie­le Juden woll­te… Doch Stichwortlieferantin Brunner zeigt empa­thi­sches Verständnis und geht wei­ter, zur nächs­ten Frage.

Ein öffent­lich-recht­li­cher Sender, der die Jahresversammlung einer poli­ti­schen Randgruppe mit­tels eines naiv-unkri­ti­schen «Tagesgesprächs» mit einer füh­ren­den Rechtsaussenfigur aus Deutschland pro­mo­tet, ver­spielt sei­ne Glaubwürdigkeit und ver­dient die Höchststrafe: Schluss mit der Gebührenfinanzierung – so wie es sich die Auns und Frauke Petry wünschen.

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