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Die Vermessung der Seele

Abge­wählt! Auch eine Woche und hun­dert Wahl­ana­ly­sen spä­ter kann ich es nicht fas­sen: Kaum habe ich mein Glück ent­deckt, ist es wie­der weg.

Noch keine zwei Wochen sind es her, dass ich mich an einem küh­len Herbst­abend durch die 75 Fra­gen des smart­vote deluxe-Kata­logs gekämpft habe. Meine Wahl­zet­tel waren längst aus­ge­füllt und abge­schickt, mich trieb ein­zig und allein die Neu­gierde: Hatte ich rich­tig gewählt? – Oder anders gefragt: Stimmt die Selbst­wahr­neh­mung mit dem Resul­tat einer pro­fes­sio­nell erfolg­ten Ver­mes­sung mei­ner Gesin­nung überein?

Der Test war schwie­ri­ger, als ich gedacht hatte. Obschon ich mir ein­bilde, klare poli­ti­sche Posi­tio­nen zu ver­tre­ten, wusste ich bei man­chen Fra­gen nicht, ob und wo ich nun klicken sollte. Und tat es dann doch – genau wie vor Jah­ren bei Par­ship. Auch dies war ein Selbst­ver­such, damals unter jour­na­li­sti­schem Vorwand. 

Vor zehn Jah­ren galt Par­ship als bahn­bre­chende neue Methode für die Part­ner­su­che – smart­vote, der Ver­dacht ist nicht von der Hand zu wei­sen, dürfte beim Ver­kup­pe­lungs­dienst abge­kup­fert haben. Nahe­lie­gend wäre es auf alle Fälle.

Nicht nur das Vor­ge­hen, auch die Ziel­set­zung ist ja die Glei­che: Sowohl bei Par­ship wie bei smart­vote geht es um die best­mög­li­che Wahl. Nur, dass bei der Online-Part­ner­schafts­su­che weni­ger poli­ti­sche Über­zeu­gun­gen abge­fragt wer­den. Beim Part­ner­schafts­test muss sich die Pro­ban­din viel­mehr mit sich sel­ber dar­auf eini­gen, ob sie ein extro­ver­tier­ter Typ oder doch eher intro­ver­tiert sei. Wie sie es mit (Un)Tugenden wie Eifer­sucht oder Gross­zü­gig­keit hält, und ob sie des Nachts lie­ber bei offe­nem oder geschlos­se­nem Fen­ster schlafe.

Mit psy­cho­lo­gisch aus­ge­klü­gel­ten Fra­gen, mehr­fach ver­schlüs­selt gegen Selbst­be­trug und TÜV-zer­ti­fi­ziert, wird in einem viel­schich­ti­gen Fra­gen­ka­ta­log die Seele nach allen Sei­ten hin ver­mes­sen. Als Beloh­nung winkt ein kla­res Resul­tat, das ein- und zuteilt. Und eine wis­sen­schaft­lich fun­dierte Part­ner­wahl verspricht.

Genau so die Online-Wahl­hil­fe­tools der Poli­to­lo­gen: Die stan­dar­di­sier­ten Fra­gen ver­mit­teln den Ein­druck einer kla­ren und neu­tra­len Bewer­tung. Poli­ti­sche Hal­tun­gen und Stel­lung­nah­men von Par­teien und Kan­di­da­tIn­nen wer­den in ein­gän­gige Sche­mata gezwängt, aus der akri­bisch genau berech­ne­ten Posi­tion im Spin­nen­netz gibt es kein Ent­rin­nen. Dabei kann durch­aus gesche­hen, dass vor­der­grün­dig wis­sen­schaft­li­che Ein­tei­lun­gen wie kon­ser­va­tiv, libe­ral oder links und rechts auch ein­mal durch­ein­an­der gera­ten. Was nicht wei­ter schlimm ist, schliess­lich wusste ja bereits Ernst Jandl: man­che mei­nen lechts und rinks kann man nicht vel­wech­sern. Werch ein illtum!

Dies wäre ja alles hin­zu­neh­men, inklu­sive das geschwät­zige Zurecht­bie­gen von Fehl­ge­wich­tun­gen und Pro­gno­sen nach erfolg­ten Wah­len. Behaup­ten und schön­re­den gehö­ren nun mal zum Kern­ge­schäft der Poli­to­lo­gen. Damit ver­die­nen sie schliess­lich gutes Geld.

Was aber wirk­lich geschmerzt hat und bis heute weh tut, ist das reale Wahl­re­sul­tat, frei von allen vir­tu­el­len Berech­nun­gen. Dies nur wenige Tage, nach­dem mir smart­vote die Augen geöff­net und gezeigt hatte, dass ich in Bern meine ganz per­sön­li­che Ver­tre­tung habe. Dank jener Natio­nal­rä­tin, deren Ant­wor­ten im deluxe-Fra­ge­bo­gen zu 84% mit den mei­ni­gen übereinstimmten!

Umso grös­ser der Schock, als klar wurde: Sie ist – wir wur­den abgewählt.

Morales lenkt ein

Das Thema für mei­nen 50. Blog war schon gesetzt: Ein Wahl­kom­men­tar sollte es wer­den. Einer der beson­de­ren Art. Noch bevor die ersten Hoch­rech­nun­gen und hand­fe­sten Zah­len dem Hof­fen ein jähes Ende berei­ten, wollte ich über ein bahn­bre­chen­des Resul­tat schreiben: 

Erst­mals in der über 150jährigen Geschichte der Schweiz, musste das bür­ger­li­che Lager eine schwere Nie­der­lage ein­stecken. Im neuen Par­la­ment ver­fü­gen Grüne und Sozi­al­de­mo­kra­ten fortan über eine solide Mehrt­heit. Damit hatte nie­mand gerechnet.

Ein­zig die gros­sen Ver­lu­ste der FDP ent­spre­chen den Vor­aus­sa­gen der Wahl­pro­gno­sti­ker. Der mas­sive Ein­bruch der SVP hin­ge­gen, die gerade noch auf einen Stim­men­an­teil von 9 Pro­zent kommt, traf alle poli­ti­schen Dia­gno­sti­ker und Kaf­fee­satz­le­ser völ­lig unvor­be­rei­tet. Dass auch CVP und Grün­li­be­rale nur mäs­sig abschnei­den zeigt, dass eine über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Wäh­le­rIn­nen den kapi­ta­li­sti­schen Losun­gen nicht mehr traut, und sich für die Schweiz eine gerech­tere und zukunfts­ori­en­tierte Poli­tik wünscht.

Wei­ter hätte ich aus­füh­ren kön­nen, dass auch die SP ihre Denk­zet­tel erhal­ten hat. So etwa im Kan­ton Bern, wo Ricardo Lumengo die Wie­der­wahl in den Natio­nal­rat schaffte. Dies, nach­dem er wegen angeb­li­chen Wahl­be­trugs, von dem er schliess­lich frei­ge­spro­chen wurde, von sei­nen Genos­sin­nen und Genos­sen fal­len gelas­sen wor­den ist. Ange­sichts der neuen Mehr­heits­ver­hält­nisse steht nun sogar seine Wahl in den Bun­des­rat zur Dis­kus­sion – er gilt als pro­fi­lier­ter Anwär­ter für das Depar­te­ment „Kul­tu­relle Kom­mu­ni­ka­tion“, wel­ches anstelle des bis­he­ri­gen VBS für die Schwei­ze­ri­sche Sicher­heits­po­li­tik zustän­dig sein wird.

So und ähn­lich hätte ich geschrie­ben und mich mei­nen Fan­ta­sien dar­über hin­ge­ge­ben, wie es her­aus­kom­men könnte, wenn es ein­mal anders herauskäme…

Die Mel­dung, die meine ursprüng­li­che The­men­wahl umge­stos­sen hat, war ebenso über­ra­schend, wie der Wahl­sieg der sozia­len Kräfte in der Schweiz. Im Gegen­satz zu mei­ner bloss hin­ge­b­logg­ten Träu­me­rei ist sie aber real: Der boli­via­ni­sche Prä­si­dent Evo Mora­les hat bekannt gege­ben, dass die geplante Schnell­strasse durch den Ama­zo­nas nicht gebaut wird.

Dies, nach­dem der Pro­test der direkt betrof­fe­nen Men­schen, die ihren Lebens­raum durch das Stras­sen­bau­pro­jekt akut bedroht sahen, lange auf taube Ohren gestos­sen ist. Noch im Juni sagte Mora­les: „Wir wer­den diese Strasse bauen – ob es den Leu­ten dort passt oder nicht.“ Sol­che Infra­struk­tur­bau­ten brau­che es für die Ent­wick­lung des Lan­des – dies die Argu­men­ta­tion des Präsidenten.

Die von Bra­si­lien finan­zierte Schnell­strasse hätte mit­ten durch einen Natio­nal­park geführt. Die dort leben­den Indios befürch­te­ten zu Recht, dass die­ses Bau­werk nicht nur eine Schneise durch ihr Gebiet schla­gen würde, son­dern auch neue Sied­ler und damit die Zer­stö­rung wei­te­rer Wald­ge­biete des Ama­zo­nas und ihrer Kul­tur nach sich zöge.

Um sich gegen das Pro­jekt zur Wehr zu set­zen, bra­chen sie zu einem mehr­wö­chi­gen Marsch Rich­tung Haupt­stadt auf. Die Regie­rung ging zunächst mit bru­ta­ler Härte gegen die Demon­strie­ren­den vor, was zur Folge hatte, dass sich in ganz Boli­vien Men­schen mit den Anlie­gen der Pro­te­stie­ren­den solidarisierten.

Als der Pro­test­zug letz­ten Mitt­woch in La Paz ein­traf, wurde er von Tau­sen­den freu­dig begrüsst. Am Frei­tag dann, noch vor einem Tref­fen mit 2000 Ver­tre­te­rIn­nen der direkt Betrof­fe­nen, lenkte Evo Mora­les ein, trug den sozia­len und öko­lo­gi­schen For­de­run­gen der Bevöl­ke­rung Rech­nung und gab den Ver­zicht auf die Schnell­strasse durch das Ama­zo­nas­ge­biet bekannt. – Ein Prä­si­dent, der auf sein Volk hört – kein Traum, son­dern für ein­mal wirk­li­che und wahr­haf­tige Realität.

Kohle aus der Mongolei

Im Juni 2011 ging die Mel­dung um die Welt, dass die För­der­li­zen­zen für die Koh­le­vor­kom­men von Tavan Tol­goi in der Mon­go­lei, an drei inter­na­tio­nale Bie­ter ver­ge­ben wor­den seien: Mit 40 Pro­zent des Ter­rains fiel der grösste Brocken dem chi­ne­si­schen Koh­le­gi­gan­ten Shen­hua zu, 24 Pro­zent gin­gen an den US-ame­ri­ka­ni­schen Kon­zern Pea­body Energy und die rest­li­chen 36 Pro­zent an ein mon­go­lisch-rus­si­sches Konsortium.

Tavan Tol­goi liegt im Süden der Mon­go­lei, in der Wüste Gobi, nahe der chi­ne­si­schen Grenze. Eine Gegend, die bis vor kur­zem weit­ge­hend unbe­rührt blieb. Sie gehörte nie­man­dem, aus­ser den wild leben­den Tie­ren. Und den Noma­den, die mit ihren Her­den durch die schier end­lo­sen Wei­ten zogen. 

Damit ist es nun vor­bei: Unter dem Boden von Tavan Tol­goi wer­den die gröss­ten noch unge­ho­be­nen Koh­le­schätze der Welt ver­mu­tet. Rund 6,4 Mil­li­ar­den Ton­nen sol­len hier lagern, min­de­stens ein Drit­tel davon hoch­wer­tige Stein­kohle. Das bedeu­tet für die Inve­sto­ren: beste Aus­sicht auf fette Gewinne – Kli­ma­wan­del hin oder her.

Der Abbau und die Umwäl­zung der Land­schaft sind bereits in vol­lem Gange. Nicht nur in Tavan Tol­goi. In der Mon­go­lei, einem der roh­stoff­reich­sten Län­der der Welt, herrscht Gold­grä­ber­stim­mung: Die stei­gen­den Preise für Roh­stoffe wie Kohle, Kup­fer, Gold und Sil­ber haben zur Folge, dass über­all im Land Berg­werke aus dem Boden schies­sen – mit ver­hee­ren­den Fol­gen für das fra­gile Öko­sy­stem. Und für die Noma­den, deren Wei­de­gründe der wil­den Jagd nach Geld und Pro­fit unwie­der­bring­lich zum Opfer fallen.

Dass in der Mon­go­lei rei­che Boden­schätze schlum­mer­ten, wusste man bereits zu Sowjet­zei­ten. Damals ver­zich­tete man aber auf einen Abbau im gros­sem Stil. Zu abge­le­gen waren die Step­pen, Berge und Wüsten im Süden von Sibi­rien, zu lang die Trans­port­wege nach Russland.

So konn­ten die Noma­den ihre tra­di­tio­nelle Lebens­weise und Kul­tur bis in die heu­tige Zeit hin­über­ret­ten. Die Schön­heit der mon­go­li­schen Wei­ten blieb erhal­ten. Und war auch noch intakt, als ich das Land 1992, anläss­lich der ersten demo­kra­ti­schen Wah­len, besuchte.

Damals, so kurz nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union, war die Mon­go­lei wirt­schaft­lich am Boden: Jah­re­lang waren reich­lich Mit­tel aus Mos­kau ins Vor­zeige-Ent­wick­lungs­land des Ost­blocks geflos­sen. Nun fehlte es plötz­lich an allem. Nahe­lie­gend, dass bald die Frage im Zen­trum stand, wie Staat und Gesell­schaft künf­tig die not­wen­di­gen Mit­tel beschaf­fen könn­ten, um in einer zuneh­mend glo­ba­li­sier­ten Welt zu über­le­ben. Und wei­ter zu kommen.

Wir haben Glück, weil wir die Feh­ler der bereits ent­wickel­ten Län­der sehen: Zuerst haben sie die Natur kaputt gemacht, und erst im Nach­hin­ein an die Öko­lo­gie gedacht“, sagte damals Gasan­dasch, ein Ver­tre­ter der neu gegrün­de­ten Grü­nen Par­tei. „Wir Mon­go­len lie­ben die Natur über alles – wir wol­len eine par­al­lele Entwicklung.“

Eine ver­we­gene Zukunfts­vi­sio­nen hatte der Chef­re­dak­tor einer gros­sen Zeit­schrift: “Die Sehn­sucht nach Frei­heit und Noma­den­tum ver­bin­det alle Men­schen welt­weit. Nir­gendwo gibt es diese Kul­tur noch so unver­sehrt, wie in der Mon­go­lei. Die ande­ren Staa­ten müss­ten uns finan­zi­ell unter­stüt­zen, damit wir – wie in einem Museum – die­ses Erbe erhal­ten können.”

Zwan­zig Jahre nach die­sem Inter­view flies­sen end­lich, wie erhofft, finan­zi­elle Mit­tel in die Mon­go­lei. Aller­dings die­nen sie einem ganz ande­ren Zweck und wer­den dem Noma­den­tum den end­gül­ti­gen Todes­stoss ver­set­zen. – Denn was diese Inve­sto­ren inter­es­siert, ist ein­zig und allein: Kohle aus der Mongolei.

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