BILDBETRACHTUNGEN
London, im April 2019: War hier wieder einmal Verpackungskünstler Christo am Werk? Oder verstecken sich Big Ben und die Hauses of Parliament hinter Baugerüsten und Schutzwänden, weil sie sich für das aktuelle Geschehen im Innern ihrer altehrwürdigen Mauern schämen?
Bei genauem Hinschauen und ‑hören wird klar: Hier sind Menschen am Werk, deren Arbeit Wirkung zeigt. Es wird geschweisst, gehämmert, gebohrt und gebaut. Handfeste Restaurationsarbeiten zur Rettung und für den Erhalt der jahrhundertealte Repräsentationsgebäude eines längst untergegangenen Empires.
Vor dem Parlament ein paar Union Jack-Fahnen – und immer wieder auf blauem Grund die goldenen EU-Sterne. Ein paar wenige unermüdliche KämpferInnen schwenken ihre EU-Fahnen und Remain-Transparente. Von PassantInnen auf dem Gehsteig erhalten sie Applaus und Zuspruch, derweil hinter den streng bewachten Abschrankungen in den altehrwürdigen Hallen des britischen Unterhauses Politikerinnen und Politiker den Brexit-Leerlauf zelebrieren.
Seit Wochen, Monaten dominiert und lähmt das peinliche Ringen um den EU-Austritt Grossbritanniens Land und Leute. Wut, Verzweiflung und Ratlosigkeit wachsen von Tag zu Tag: Niemand weiss, wohin diese Brexit-Reise noch führt – und wie es in Zukunft auf der britischen Insel weiter geht.
Unberührt von den aktuellen Querelen wacht Admiral Nelson derweil auf seiner Säule über die Stadt. Zu seinen Füssen strömen fröhlich schwatzend und rufend Hundertschaften von Kindern mit bunten Rücksäcken und nach Landessitte in Schuluniformen gekleidet.
Sie erklimmen die Treppen der National Gallery, wo sie mit Buntstiften und Arbeitsblättern ausgerüstet die ehrwürdigen Museumshallen stürmen. Dort werden sie von MuseumspädagogInnen in Empfang genommen. Unter deren umsichtiger Anleitung nehmen sie nun Meisterwerk um Meisterwerk in Beschlag: «Die Badenden bei Asnières» von Georges Seurat, einem Künstler aus Continental Europe.
Jede Schule hat ihre eigene Uniform. Wer genau hinschaut erkennt die Unterschiede: Die in graue Tweed-Anzüge gekleideten Buben sind wohl Absolventen einer teuren Boy-Eliteschool, während die blaue Schuluniform eher auf eine öffentliche Schule schliessen lässt.
In kleinen Gruppen lassen sie sich auf dem Parkettboden vor einem Gemälde nieder. Ihre Aufmerksamkeit pendelt zwischen den PädagogInnen und dem Bild. Der Blick schweift über das Gemälde. Was ist darauf zu erkennen? Was für eine Geschichte erzählt uns das Bild? Psyche, die ihren Schwestern die Geschenke zeigt, die sie von Cupido erhalten hat. Was war die Absicht des Künstlers Fragonard?
Hände fliegen in die Höhe – Fragen, Antworten – Vermutungen, Informationen… Schliesslich beugen sich die Kinder über ihre Arbeitsblätter: Eine Skizze des Werks, und schon geht’s weiter. Ein paar Meter nur, bis in den nächsten Saal. Dort lassen sie sich zu Füssen des nächsten Meisterwerks nieder, um erneut einzutauchen.
Porträts, Landschaften, Mythen, Stillleben… Bild um Bild wiederholt sich das Ritual. Die Begegnungen mit den grossen Künstlern machen offensichtlich Spass. Und sind eine willkommene Abwechslung im Schulalltag. Zum Beispiel das spannende Experiment im Kerzenlicht mit der Luftpumpe und dem Vogel von Joseph Wright of Derby.
Auch eine Gruppe des Lycée Français de Londres hat an diesem Vormittag den Weg in die National Gallery gefunden – deutlich zu erkennen an den Gilets Jaunes (jene der Lehrerinnen sind sogar angeschrieben — wenngleich der Schriftzug diskret verdeckt ist…). Und daran, dass sie zielsicher den berühmten Seerosenteich von Claude Monet angesteuert haben.
Eigentlich unvorstellbar, dass solche Szenen bald der Vergangenheit angehören könnten. Es ist aber durchaus möglich, dass die Briten mit ihrem Brexit französische Schulen und ihre Kinder bald schon von der Insel vertreiben.
Und die Bilder von Monet & Co? Schliesslich heisst das Museum «National Gallery». Streng genommen müssten sich auch da die Briten künftig mit ihren eigenen Meistern begnügen…
Lesetipp zum Thema im Guardian vom 17.4.2019: One heritage, one story: that’s not the Europe we know