Weggesperrt und vergessen

Warteschlangen vor Baumärkten und Gartencentern am Montagmorgen. Selfies und Reportagen aus Coiffeursalons und Nagelstudios, wohin man schaut – in den Bezahlmedien wie auf den Social-Media-Kanälen oder in pri­va­ten Whatsappgruppen.

Kurz nach den ers­ten Lockerungsmassnahmen nach dem Corona-Lockdown staunt man, für wie vie­le Menschen hier­zu­lan­de es offen­bar nichts Dringlicheres gibt als Haare schnei­den und Geranien pflanzen.

Oder will man uns ein­fach weis­ma­chen, dass es jen­seits des Konsumierens kein Glück, kei­ne Zufriedenheit geben darf? Plötzlich wird eine neue Normalität ver­kün­det: die amt­lich ver­ord­ne­ten Zeiten von Entschleunigung sind schon wie­der vor­bei. Alle wie­der zurück ins Hamsterrad – genug der Zeit für­ein­an­der, mit den Kindern, fer­tig mit aus­ge­dehn­ten Quartier- und Waldspaziergängen. Nach Wochen der Geduld, Vorsicht und Zurückhaltung ist der Bann gebro­chen. Die viel­be­schwo­re­ne Solidarität löst sich in Luft auf. Nachdem SVP-Rechtsaussen-Milliardärin Martullo-Blocher in der Sonntagspresse bereits Mitte April unwi­der­spro­chen vor­ge­prescht ist: Tote sei­en in Kauf zu neh­men, zuguns­ten der Wirtschaft.

Ins glei­che Horn stösst jetzt auch Milliardär Samih Sawiris. «Es gehen Milliarden ver­lo­ren für ein paar weni­ger Tote», kri­ti­siert der Ägypter die Corona-Massnahmen in der Schweiz – eben­falls in der Sonntagspresse…

Der Ruf nach einer schnel­len Wieder-Öffnung von Restaurants und Bars, der Ankurbelung des Tourismus sowie der Unterstützung von Airlines wird immer lau­ter. Und scheint im Bundesrat auf Wohlwollen zu stossen.

Dies wird sich kaum ändern, wenn ab dem 4. Mai das eid­ge­nös­si­sche Parlament wie­der tagt. Wer dort das Sagen hat, ist alt­be­kannt. Bereits in den letz­ten Tagen hat sich gezeigt: Die nim­mer­mü­den Wirtschafts-Lobbyisten haben wie­der Oberhand – und leis­ten vol­le Arbeit.

Weitere viel dis­ku­tier­te Themen der letz­ten Tage sind die Umarmung von EnkelInnen durch Grosseltern, die Wiedereröffnung der Schulen, das Hochfahren des öffent­li­chen Verkehrs sowie die Frage Schutzmasken ja oder nein.

Völlig ver­ges­sen hin­ge­gen sind all jene Menschen, die seit Wochen iso­liert von ihren Liebsten leben müs­sen. Eingesperrt in Heimen, zu ihrem Schutz, wie es heisst. Weil sie als alte Menschen, Menschen mit Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen zur «Risikogruppe» gehörten.

Auch wenn die Pflegenden in die­sen Heimen ihr Bestes geben und sich in die­ser schwie­ri­gen Zeit beson­ders enga­gie­ren: Die Isolation, die man­cher­orts bereits über zwei Monate andau­ert, ist nicht län­ger zu recht­fer­ti­gen. Einsamkeit macht krank.

In Pflegeheimen gibt es durch­aus Mittel und Wege, sorg­fäl­tig mit der Situation umzu­ge­hen und Ansteckungen zu ver­hin­dern. Sicherheitskonzepte, die für Coiffeursalons, Schulen und Beizen gel­ten, kön­nen auch in sol­chen Institutionen orga­ni­siert werden.

Warum nur ist dies in die­sen Tagen kaum ein Thema? Wenn irgend­wo die Zeit drängt, für die Wiederaufnahme einer «Normalität», ist es in den Altenheimen: Hier leben Menschen, die nicht mehr viel Lebenszeit haben. Ihre Lebensqualität beschränkt sich oft auf die Nähe, die Besuche ihrer PartnerInnen, FreundInnen, Kinder und Enkelkinder.

Auf eine ent­spre­chen­de Journalistenfrage an der Medienkonferenz vom 29. April wies Bundesrat Berset ein­mal mehr dar­auf hin, dass dies Sache der Kantone sei. Der Bund hat­te Mitte März zwar eine Empfehlung betref­fend Besuchsverbot in Spitälern und Heimen aus­ge­spro­chen – seit­her ist aus dem Bundeshaus in die­ser Hinsicht nichts mehr zu hören.

Immerhin: Der Kanton Zürich hat sei­ne Verantwortung wahr­ge­nom­men und letz­te Woche Besuche in den Pflege- und Altersheimen wie­der zuge­las­sen. Andere Kantone wie etwa Appenzell Innerrhoden oder Thurgau ermög­li­chen seit Anfang Mai eben­falls wie­der Heimbesuche.

Im Kanton Bern hin­ge­gen, herrscht dies­be­züg­lich Schweigen. Kein Wort, wann mit einer Öffnung gerech­net wer­den darf, kein Hinweis dar­auf, wie der Ausstieg aus dem tota­len Besuchsverbot geplant ist.

Es ist eine Schande: Im all­ge­mei­nen Ankurbelungs- und Wiedereröffnungsfieber wird für jeg­li­ches Business offe­ne Türen gefor­dert und ermög­licht. Nur jene in den Alters- und Pflegeheimen blei­ben wei­ter­hin ver­schlos­sen. Die Menschen, die uns am meis­ten brau­chen, blei­ben weg­ge­sperrt, vergessen.

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