Geld, Gier und Geschäft
Eine Berliner Reportage von Gabriela Neuhaus
Um die einst hoch gelobte und von Architekten aus aller Welt beachtete Wohnanlage am Lützowplatz, mitten in Berlin, ist es längst still geworden. Der Postbote beendet seine Runde hier immer schneller: die Mehrzahl der Briefkästen ist zugeklebt, die Häuserzeile im Hof bereits platt gemacht und vom Erdboden verschwunden. Keine dreissig Jahre nach dem Einzug der ersten Mieter. Wo einst Kinder in den Gärten und auf dem Spielplatz der Siedlung herumtobten, steht jetzt ein Bauzaun. Dahinter wuchert Unkraut.
Dass die Frontreihe der einstigen Vorzeigehäuser zum Lützowplatz hin überhaupt noch steht, ist einzig ihren Bewohnerinnen und Bewohnern zu verdanken. Über zehn Jahre kämpften sie für die Erhaltung ihrer innerstädtischen Wohnoase und gegen die Zermürbungstaktik eines milliardenschweren Investors aus dem fernen Bayern.
„Das war einmal eine gute Gemeinschaft hier“, seufzt Dorothea Oellrich und schüttelt traurig den Kopf. In ihrer Wohnküche duftet es nach Kaffee und Kuchen. Sie liebt es, Gäste zu verwöhnen. Auch für ihre gefiederten Freunde, die Kohlmeisen und Spatzen, hält sie stets kleine Leckereien bereit, wenn sie zur Balkontür hereinflattern.
Draussen, auf der grossen Terrasse im dritten Stock, grünt und blüht es sogar jetzt, im Spätherbst noch. „So üppig wie in diesem Jahr, haben die Engelstrompeten noch nie geblüht“, schwärmt die 85jährige Rentnerin. Die bange Frage, was im kommenden Jahr aus ihren Pflanzen wird, lässt sie gar nicht erst aufkommen. Lieber erzählt sie von damals.
Wie sie 1985 mit ihrem Karl in die nagelneue Wohnung eingezogen ist und er ihr versprochen hat, dass sie hier nun für immer bleiben könne. Nur zwei Jahre später war Karl tot. Erst da habe sie den wirklichen Wert ihres Daheims kennen gelernt: „Wir Nachbarn waren wie eine Familie und haben uns gut verstanden, ohne dass wir ständig zusammengluckten. Bald kamen die ersten Kinder und die jungen Eltern freuten sich, wenn sie die Kleinen bei mir abgegeben konnten.“
Es sind aber nicht nur Erinnerungen, die Dorothea Oellrich dazu bewogen haben, bis zuletzt zu bleiben und zu kämpfen. Ihr, die während des Kriegs in zerbombten und halb zerstörten Häusern gelebt hat, will nicht in den Kopf, dass ihre mit viel Liebe eingerichtete Wohnung aus purer Profitgier zerstört werden soll.
Daran, dass es wirklich soweit kommen würde, mochte auch der Rentner Siegfried Piotrzkowski lange nicht glauben. Er vertraute auf Recht und Gerechtigkeit. Zumal er Tausende von Euros in den Innenausbau seiner Wohnung investiert hat, in der Annahme, dass er hier auf Dauer bleiben würde. Schliesslich ist er nicht mehr der Jüngste, die Zeiten seines Nomadenlebens längst vorbei. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass man ihn, den ordentlichen und stets pünktlich zahlenden Mieter, einmal vertreiben könnte. Doch mittlerweile sind sein Glaube an Politik und Behörden, zu guter Letzt sogar an die Unabhängigkeit der Justiz, völlig dahin. Was bleibt sind Bitterkeit und Ohnmacht.
„Als Bürgerin fühlt man sich völlig ausgeliefert“, klagt auch Angelika Sauermann, die in ihrer Parterrewohnung am Lützowplatz zwanzig Jahre lang als Tagesmutter Kinder betreut hat. Ihre Nachbarin, Gisela Eckstein fasst zusammen: „Eine vergleichbare Wohnqualität, mitten in der Stadt und für uns Normalverdienende erschwinglich, findet man nie wieder. – So etwas könnte heute auch gar nicht mehr gebaut werden, weil es sich für den Investor nicht rechnet.“
Für die damalige Architekturstudentin war es Liebe auf den ersten Blick. Als sie Mitte der 1980er Jahre die Entwürfe für das Projekt des Stararchitekten Mathias O. Ungers am Lützowplatz erstmals zu Gesicht bekam, wusste Gisela Eckstein sofort: „Dort will ich einmal wohnen.“ Vor allem die grosszügigen, unkonventionellen Wohnungsgrundrisse und Terrassen hatten es ihr angetan. Als Fachfrau schätzte sie aber auch weniger augenfällige Qualitäten wie den für damalige Verhältnisse ausgezeichneten Schallschutz und die Wärmedämmung in den Häusern.
Die besondere Qualität der Siedlung am Lützowplatz weist aber weit über die einzelnen Wohnungen hinaus: Während kurzer Zeit lebte hier, an einer der meist befahrenen Strassen der Stadt und doch im Grünen, eine sozial durchmischte und multikulturelle Gemeinschaft. Möglich geworden war dies dank einer besonderen Konstellation in den 1980er Jahren, als die Westberliner Stadtbehörden die IBA 1984–87 lancierten: Von dieser Internationalen Bauausstellung erhoffte man sich neue Impulse für innerstädtisches Wohnen, um dem damaligen Exodus aus der Stadt Gegensteuer zu geben.
Zu den visionären Wohnideen, die im Rahmen der IBA umgesetzt wurden, gehörte auch die 86 Wohnungen umfassende Anlage am Lützowplatz. Die Stadt stellte dafür auf einer Kriegsbrache in Sichtweite der Mauer ein 11’500 Quadratmeter grosses Grundstück zur Verfügung sowie Subventionen in der Höhe von 22 Millionen D‑Mark.
Das war eine stattliche Summe, reichte aber nicht, um den ursprünglichen Entwurf von Mathias O. Ungers eins zu eins umzusetzen. Angesichts des knappen Budgets entschied sich die Bauherrschaft für die Beibehaltung der einmaligen Grundrisse und Grünräume, sparte dafür aber andernorts, wie etwa bei der Fassadengestaltung. Dies führte dazu, dass sich der Stararchitekt später auch kritisch über die bautechnische Umsetzung seines Vorzeigeprojekts äusserte.
Die Mieterinnen und Mieter jedoch erkannten sehr bald die Besonderheiten der Überbauung und schätzen die Lebensqualität, für die der Architekt mit seinem Siedlungskonzept die Grundlage geschaffen hatte. Von Anfang an waren die neuen Wohnungen am Lützowplatz äusserst begehrt.
Anlässlich der letzten Gerichtsverhandlung, in der die Mieter noch einmal um ihr Bleiberecht kämpften, erinnerte sich einer der letzten noch gebliebenen Bewohner: „Über zehn Jahre lang haben wir uns damals darum bemüht, in dieser Siedlung unterzukommen. Als wir endlich einziehen konnten, ging ein Traum in Erfüllung.“
Ursprünglich wurde nur ein Drittel der Wohnungen auf dem freien Markt angeboten. Den Rest vermittelte die Stadt als Sozialwohnungen. „Das war perfekt und führte zu einer tollen Mischung,“ sagt Gisela Eckstein, die damals als Studentin ebenfalls in den Genuss einer Mietreduktion kam. „Jeder zahlte soviel er konnte. Probleme hat das nie gegeben, im Gegenteil. Wir waren schon multi-kulti, als es den Begriff noch gar nicht gab. Da wohnten Türken, Italiener, Araber, Perser, Amerikaner – und als Ende der 1980er Jahre immer mehr Aussiedler in den Westen zogen, brachte die Stadt hier Familien aus Bulgarien, Rumänien und Russland unter.“
Auch die vierköpfige Familie Schwarz aus St. Petersburg zog 1987 in eine Duplex-Gartenwohnung am Lützowplatz. „Deutsch lernt man nicht auf der Strasse,“ erinnert sich Margerita Schwarz. „Hier in der Siedlung konnten wir unsere Sprachkenntnisse im direkten Kontakt mit den Nachbarn verbessern.“ Die architektonische Gestaltung der ineinander verschachtelten Häuser und Gärten förderte das gegenseitige Kennenlernen. „Wir haben 1000 Sachen zusammen gemacht. Wenn ich spät von der Arbeit kam, brauchte ich mich nicht zu sorgen. Ich wusste, dass meine Kinder nie allein draussen stehen.“
Margerita Schwarz ist kaum zu bremsen, wenn sie von ihrer einstigen Nachbarschaft schwärmt. „In Berlin kämpft man jetzt vielerorts gegen die Bildung von Migranten-Ghettos“, fährt sie fort. „Hier hatten wir die Lösung. Wenn wir gemeinsam Feste feierten, sass die ganze Welt am Tisch. Jeder brachte seine eigenen Spezialitäten mit. Wir hätten jedem Fünfsterne-Koch Konkurrenz gemacht.“
Natürlich gab es auch Streit. Wo über 80 Mietparteien in Sicht- und Hörweite voneinander leben, gehören Konflikte zum Alltag. „Die haben wir gemeinsam gelöst“, sagt Leo Schwarz und fügt bei: „Für die Kinder war das eine wunderbare Lebensschule, in der sie gelernt haben, Probleme zu lösen und miteinander umzugehen.“ Dass dies nun alles vorbei sein soll und sie aus ihrer Wohnung vertrieben werden, ist für das Ehepaar Schwarz ein schwerer Schlag. Nach ihrer Flucht aus Russland glaubten sie, in Deutschland endlich in einem Rechtsstaat angekommen zu sein, der seine Bürgerinnen und Bürger schützt.
Gut möglich, dass die letzten Bewohner, die geblieben sind, die Vergangenheit ein Stück weit verklären. Unbestritten ist und bleibt aber, dass Ungers mit seiner Siedlung am Lützowplatz ein Wurf gelungen war, der dem Ideal von gelebter Nachbarschaft und Integration sehr nahe gekommen ist.
Einen Negativpunkt hatte die Siedlung allerdings, den langjährige Mieterinnen und Mieter immer wieder erwähnen: Bis zur Wende lag der Lützowplatz im Mauerrandgebiet, in unmittelbarer Nachbarschaft von Autoimbiss und Strassenstrich. „Auf dem Schulweg mussten die Kinder stets begleitet werden,“ erinnert sich Gisela Eckstein, deren Töchter heute längst erwachsen sind. „Was haben wir nicht alles für Aktionen initiiert, um dieses Rotlichtviertel wegzubekommen und die Gegend sicherer zu machen!“ Unablässig hätten sie für die Aufwertung des Quartiers gekämpft. Da seien sie Pioniere gewesen.
Der Durchbruch gelang jedoch erst nach dem Fall der Mauer, als der Lützowplatz sozusagen über Nacht ins Zentrum der Stadt gerückt und zu einer sogenannt guten Adresse geworden war. Darüber sollten sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Ungers-Bauten allerdings nicht lange freuen können: Ausgerechnet die lang ersehnte Verbesserung, für die sie sich so eingesetzt hatten, führte bald zu ihrer Verdrängung.
Mitte der 1990er Jahre ging die damalige Eigentümerin der Wohnanlage Konkurs, die Liegenschaften kamen unter Zwangsverwaltung. Gleichzeitig verschwand ein Bebauungsplanverfahren, das bereits 1988 zur langfristigen Sicherung der IBA-Siedlung eingeleitet worden war, in den Schubladen der Stadtplaner. Es bestehe kein Handlungsbedarf, hiess es damals vonseiten der Verwaltung. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich später herausstellen sollte.
Natürlich liessen die Turbulenzen um die Besitzverhältnisse die Mieter am Lützowplatz nicht kalt. Als ihre Wohnungen 1998 unter den Hammer kamen, verfolgte Uwe Ackermann die Versteigerung vor Ort. Dreizehn Jahre später wird er vor Gericht zu Protokoll geben: „Der kleine Mann fiel sofort auf – der war völlig verbissen und hat allen erklärt, er müsse die Häuser unbedingt haben. Er liess nicht locker, bis er den Zuschlag hatte.“
Mit dem Verkauf der Ungers-Liegenschaften an den „kleinen Mann“ Alfons Doblinger, bzw. seine Immobilienfirma DIBAG aus München, war das Ende der Idylle am Lützowplatz besiegelt. Schon damals gehörte der Immobilienspekulant in Deutschland zu den erfolgreichsten seiner Zunft, allerdings mit zweifelhaftem Ruf: Mit ..….….….….….….….….…… .….….….….….….….….….….….….…. .….. .….….….….….….….….. (*) An- und Verkäufen von Liegenschaften und Firmen hatte sich der Selfmademan aus Bayern laut dem Forbes-Magazin bereits Ende der 1980er Jahre ein Privatvermögen von 270 Millionen DM erwirtschaftet. Deutschlandweit erstmals in die Schlagzeilen geraten ist er mit dem Kauf von 33’000 Wohnungen der Neuen Heimat Bayern, für die Doblinger 1990 eine Milliarde Mark hingeblättert hat.
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Ein Blick auf den Stadtplan genügt, um zu verstehen, weshalb der umtriebige Alfons Doblinger die wenig lukrativen Wohnungen am Lützowplatz auf Teufel komm raus haben wollte: Sein Interesse galt nicht den viel gelobten Liegenschaften, sondern einzig und allein dem Grundstück. Die Wende hatte den Lützowplatz mit einem Schlag vom Mauerrandgebiet ins Stadtzentrum katapultiert und das einst unattraktive Gebiet zur begehrten Adresse im Zentrum Berlins gemacht.
So kriegte die Ungers-Siedlung gleich reihenweise prominente Nachbarn: Zuerst das Konrad-Adenauer-Haus, die künftige CDU-Parteizentrale. Dann rundherum, auf ehemaligem Brachland, das Diplomaten- und Nobelviertel Köbis-Dreieck. Und etwas weiter, aber immer noch in Gehdistanz, schossen die neuen Hochhäuser am Potsdamer-Platz in die Höhe.
Der clevere Investor aus München hatte das Rendite-Potenzial, das sich mit der Versteigerung der Lützowplatz-Häuser abzeichnete, schnell erkannt und sich die Immobilie gesichert. Als alter Fuchs in der Branche machte er sich keine allzu grossen Sorgen über die für die Verwirklichung seiner Immobilienträume notwendige Entmietung.
Als ihm zwei Jahre später der Berliner Liegenschaftsfonds auch noch das Grundstück zu einem Schnäppchenpreis überliess, muss er sich bereits am Ziel gewähnt haben: Noch bevor der Kaufvertrag definitiv unterzeichnet war, reichte die DIBAG im März 2001 beim Bezirksamt Mitte einen Abbruchantrag für die IBA-Häuser ein, um an deren Stelle unter maximaler Ausnützung der Grundstückfläche einen Rendite versprechenden Gewerbe und Bürokomplex hochzuziehen.
Da waren die international gefeierten Ungers-Bauten gerade mal 17 Jahre alt. Bei der Stadt reagierte man entsprechend konsterniert und rieb sich die Augen. „Nie hätte ich auch nur in Erwägung gezogen, dass so etwas im Westen möglich ist“, sagt Dorothee Dubrau, die damals als Baustadträtin des Bezirks Mitte für das Geschäft zuständig war. Sofort versuchte die in Ostberlin aufgewachsene grüne Politikerin und Architektin, ein Abbruchverbot zu erwirken.
Unterstützt wurde ihr Vorstoss vom einflussreichen damaligen Senatsbaudirektor Hans Stimmann. In einem Schreiben an den Liegenschaftsfonds hielt er unmissverständlich fest, dass ein Abriss geförderter Wohnungen zugunsten eines Büroneubaus „die Bemühungen unterlaufen würden, die Berliner Innenstadt für breite Bevölkerungsschichten attraktiv zu gestalten“.
Darauf konterte der Liegenschaftsfonds, dass ein Abbruchverbot den Investor dazu veranlassen könnte, vom Kaufvertrag für das Grundstück zurückzutreten. Dies wiederum wollte man bei der Stadt nicht riskieren und verzichtete deshalb auf eine entsprechende Vertragsklausel. „Die Stadt wollte preiswertes Wohnen ermöglichen, gleichzeitig brauchte sie Geld. Dieser generelle Widerspruch war immer da – und meist schlug das Pendel in solchen Fällen Richtung Geld“, fasst Dorothee Dubrau rückblickend zusammen.
Hinter den Kulissen war das Seilziehen um ein Abbruchverbot seit Monaten im Gang, als endlich auch die direkt Betroffenen von Alfons Doblingers Absichten erfuhren. Ein Flyer, verfasst von Mitgliedern des Bündnis 90/Die Grünen, informierte die Mieterinnen und Mieter über die Abrissgelüste ihres Hausherrn und bot Unterstützung.
Ein Schock sei das gewesen, erinnert sich Dorothea Oellrich. Obschon man bereits seit einiger Zeit ungute Entwicklungen registriert hatte. So wurde beispielsweise der Unterhalt der Liegenschaften seit der Übernahme durch die DIBAG notorisch vernachlässigt. Wer die Verwaltung auf notwendige Reparaturarbeiten hinzuweisen wagte, wurde mit dem Hinweis, es handle sich um „Bagatellen“, abgewimmelt.
Ein klares Signal erhielt Familie Sauermann, die gleich nach dem Handwechsel von 1998 das Gespräch mit der neuen Hausbesitzerin gesucht hatte. „Wir wollten die Wohnung kaufen, um sicher zu gehen, dass wir bleiben können“, erinnert sich Angelika Sauermann. „Die DIBAG hat unser Vorhaben aber rundum abgelehnt und uns durch die Blume klar gemacht, dass die Häuser leer gemietet würden.“
Als die latente Bedrohung nun handfest wurde, reagierten die Mieter vom Lützowplatz entschlossen und solidarisch: Am 9. September 2001, am Tag der Anschläge aufs Worldtrade Center in New York, gründeten sie eine Interessengemeinschaft, um gemeinsam für die Erhaltung ihrer Oase zu kämpfen. An deren Spitze stellten sich Peter Nitsch und Claudia Kleiner, beides Mieter der ersten Stunde. Über Jahre hinweg setzten sie sich von da weg mit unermüdlichem Engagement für die Erhaltung der Stadtutopie am Lützowplatz ein.
Anfänglich mit beachtlichem Erfolg: Alle Berliner Tageszeitungen, aber auch Rundfunk und Fernsehen berichteten prominent über die Gründung der IG Lützowplatz und deren Anliegen. Die Abendschau zeigte Bilder von Mieterinnen und Mietern mit Transparenten, die vor dem Bezirksamt für die Fertigstellung des liegen gebliebenen Bebauungsplans demonstrierten.
Stadträtin Dubrau und Senatsbaudirektor Stimmann äusserten im TV-Beitrag erneut ihr Befremden über das Ansinnen des Investors. Und Claudia Kleiner, mittlerweile offizielle Sprecherin der IG Lützowplatz, bezichtigte die DIBAG der Lüge, weil sie unreparierbare Baumängel als Grund für den Abriss vorschiebe.
In der Tat hatte der „kleine Mann“ Alfons Doblinger bald gemerkt, dass sein Antrag auf Abriss der internatonal bekannten IBA-Bauten chancenlos bleiben würde, wenn er nicht eine stichhaltige Begründung lieferte. Deshalb liess er von der renommierten Berliner CRP Ingenieurgemeinschaft Cziesielski, Ruhnau und Partner GmbH eine Studie erstellen, welche die Wirtschaftlichkeit einer allfälligen Sanierung abklären sollte.
Zwei Jahre später, als sich das Gerangel um eine Abbruchbewilligung immer noch hinzog, ging ein weiterer Auftrag für eine Machbarkeitsstudie an Mathias O. Ungers, den Erbauer der Anlage. Ganz im Sinne des Auftraggebers kamen beide Gutachten zum Schluss, dass die Sanierung der Anlage immense Kosten verursachen würde, die sich für den Investor niemals rechneten.
Damit glaubte die DIBAG, die richtigen Argumente für den Abbruch der Liegenschaften in der Hand zu haben. Bei der Stadt war man jedoch nicht bereit, bedingungslos darauf einzutreten. Baustadträtin Dorothee Dubrau konnte gegenüber dem Investor schliesslich durchsetzen, dass ein Teil des Areals auch bei einer künftigen Neubebauung für Wohnungen reserviert werden müsse. Dieser Forderung, die zu einem späteren Zeitpunkt in einem Bebauungsplan noch konkretisiert werden sollte, kam die DIBAG bei der Ausschreibung eines Wettbewerbs für die Neubebauung des Grundstücks nach.
Dessen erster Preis ging an das Projekt der Berliner Architekten Modersohn & Freiesleben: Eine Überbauung, auf Mischnutzung der gehobenen Preisklasse ausgerichtet, mit welcher der Investor auf den Markt reagieren kann. Im hinteren Teil Luxuswohnungen, gegen die Strasse hin Raum für Büros, Gewerbe und ein Hotel. Ein Allerwelts-Renditeobjekt, wie sie heute zu Dutzenden gebaut werden – ohne Gesicht und Vision.
Mit diesem Entwurf in der Hand, erachtete die DIBAG den Moment für gekommen, nun auch die direkt Betroffenen aus erster Hand zu informieren. Viereinhalb Jahre nach dem ersten Abbruchgesuch stand, als Folge der konsequenten Entmietungspolitik, bereits über die Hälfte der Wohnungen leer. Der Zustand der Liegenschaften verschlechterte sich laufend. Trotzdem kämpften die verbliebenen Mieter weiter für die Rettung ihres mittlerweile stark ramponierten Paradieses. Noch immer hofften sie auf eine versöhnliche Lösung.
Stattdessen lag eines Tages, kurz vor Weihnachten 2006, die Kündigung im Briefkasten. Inklusive der Aufforderung, diese innerhalb von acht Wochen, schriftlich zu akzeptieren. Wer sich nicht daran halte, drohte die DIBAG, müsse „damit rechnen, dass eine Räumungsklage bereits vor dem 1.7.2007 erhoben wird.“ Dies führte zu einem weiteren Exodus aus der Siedlung. Zurück blieb eine kleine Gruppe von zunehmend verzweifelten Idealisten, die weiterhin mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für die Modellsiedlung am Lützowplatz kämpften.
Zuerst mit einem Appell an die Menschlichkeit. Claudia Kleiner und Peter Nitsch trafen Alfons Doblinger persönlich. Anfänglich waren sie beeindruckt vom Gespräch. Ein umgänglicher Mann, aufgestiegen aus einfachen Verhältnissen und in bayerisch-katholischen Werten verhaftet, sagt Claudia Kleiner. Mit dem man gut habe reden können, von Mensch zu Mensch. Gebracht hat das allerdings nichts: Die DIBAG versuchte unvermindert weiter, die Häuser am Lützowplatz endlich leer zu kriegen.
Siegfried Piotrzkowski recherchierte tage- und nächtelang im Internet und verfasste juristisch fundierte Abhandlungen, in denen er aufzeigt, wie die IBA-Wohnanlage geschützt werden könnte. Mit seinen Erwägungen blitzte der ehemalige Beamte jedoch sowohl beim Denkmalschutz, wie beim Bund der Steuerzahler und beim Rechnungshof von Berlin ab.
Baufachfrau Gisela Eckstein versuchte, gemeinsam mit ihrem Nachbarn, dem persischen Bauingenieur Barfi, die originalen Baudokumente aus den 1980er Jahren zu konsultieren. Bis heute ist sie überzeugt, dass damit Doblingers Behauptung, beim Bau sei gepfuscht worden, ein für alle mal hätten widerlegt werden können. Doch bei der Investitionsbank Berlin, wo die Akten lagern, verweigerte man den Mietern die Einsicht. Weil Bauunterlagen nur mit Einverständnis des Hausbesitzers herausgerückt werden dürfen – worauf sich der kleine Mann aus München natürlich nicht einliess.
Auch die Bemühungen, Behördenvertreter, Politiker, Rechtsanwälte und Richter zu einem Augenschein einzuladen, blieben ohne Erfolg. Meist ernteten die Mieter auf ihre Einladungen bloss ein müdes Lächeln. Zu gross der Aufwand, beschieden die Vielbeschäftigten, die ihr Urteil über den Zustand und die Zukunft der Liegenschaften lieber gestützt auf Gutachten, Paragrafen und Konventionen fällten, als sich der Emotionalität der Betroffenen vor Ort auszusetzen.
„Gemeinschaften werden auseinandergerissen und Familien irgendwohin versetzt, ohne dass sich jemand dafür interessiert, was dabei zerstört wird,“ sagt eine empörte und enttäuschte Angelika Sauermann. „ Nicht einmal jene, die wir gewählt haben, nehmen unsere Anliegen ernst.“
Dass der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit angesichts seiner unzähligen Repräsentationspflichten keine Zeit finden würde, sich der bedrohten Siedlung am Lützowplatz anzunehmen, war schnell einmal klar. Doch auch Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer stellte sich taub und verweigerte trotz mehrmaligem Nachhaken die Entgegennahme einer Petition mit über 1000 Unterschriften, welche die Mieter nach Erhalt der Kündigung in kürzester Zeit gesammelt hatten.
Ihrem Ärger über die Arroganz der politisch Verantwortlichen machten die Bewohner mit Plakaten Luft, die sie in ihre Fenster hängten. So wurden zumindest einige der Passanten, die täglich zu Tausenden den Lützowplatz überqueren, auf den drohenden Abriss der Ungers-Siedlung aufmerksam.
Die Hilferufe stachen im Frühjahr 2007 auch der frisch gewählten und aus der Schweiz zugezogenen Senatsbaudirektorin Regula Lüscher ins Auge. „Was ist hier los? Bei uns zeichnet man solche Bauten mit Architekturpreisen aus!“ war ihre spontane Reaktion, als sie auf einer Erkundigungsfahrt durch ihr neues Wirkungsgebiet die Plakate sah. Der Fahrer ihres Dienstwagens, der bereits im Dienst von Vorgänger Hans Stimmann gestanden hatte, konnte sie aus erster Hand informieren.
Das Ganze sei ein heisses Eisen, die Stadt könne aber nichts mehr ausrichten, sagte er. Später legte man ihr auch auf dem Amt nahe, die Hände von dieser Geschichte zu lassen. Was sie denn auch tat, angesichts der hohen Arbeitsbelastung und der Aussicht auf eine künftige IBA des 21. Jahrhunderts, mit neuen städtebaulichen Visionen und Bauprojekten, für deren Lancierung sie sich fortan engagierte.
Währenddessen ging der Kampf um den Erhalt der mittlerweile 23jährigen IBA-Siedlung am Lützowplatz weiter. Im Sommer 2007 kam es zu den ersten Gerichtsverhandlungen, nachdem die DIBAG gegen die verbliebenen Mietparteien Räumungsklagen eingereicht hatte. Allerdings hatte der Investor zu diesem Zeitpunkt immer noch keine Abrissgenehmigung, weshalb das Berliner Landgericht die Klagen abwies. Zudem kamen die Richter zum Schluss, dass es sich bei den von der DIBAG vorgebrachten Baumängeln um einen „Reparaturstau handle, der die Klägerin nicht zur Kündigung berechtigt.“
Deren Behauptung, die Schäden hätten schon zum Zeitpunkt der Ersteigerung bestanden, konterte das Gericht mit einem klaren Verdikt: „Wer eine Bauruine erwirbt, erlangt dadurch nicht zusätzliche Kündigungsbefugnisse.“ Damit hatten die Mieter einen ersten Sieg gegen den Investor errungen und die Zuversicht wuchs, dass sich das Blatt doch noch zu ihren Gunsten wenden könnte.
Auf politischer Ebene allerdings hatte der Wind definitiv gedreht: Während der geplante Abbruch der öffentlich geförderten Wohnanlage anfänglich von allen Parteien kritisiert worden war, setzte sich nun die von der DIBAG verbreitete Ansicht durch, die bestehende Anlage sei nicht mehr zu retten. Der SPD-Politiker Ephraim Gothe, der im Frühjahr 2006 als Baustadtrat die Nachfolge von Dorothee Dubrau angetreten hatte, entpuppte sich bald als vehementer Verfechter eines Neubauprojekts, das grössere Verdichtung und damit eine bessere Ausnutzung des Grundstücks versprach. Die IBA-Gebäude, so Gothe, seien nicht mehr zeitgemäss, würden zuwenig Rendite bringen und müssten ersetzt werden.
Der neue Bebauungsplan, der nach jahrelangen Verhandlungen im August 2008 endlich verabschiedet wurde, schrieb als einzigen Tribut an die bestehende Situation fest, dass 75% der bisherigen Wohnfläche auch in einer neuen Überbauung für Wohnungen reserviert werden müssten. „Politisch sind alle Mittel ausgeschöpft – die einzige Hoffnung für den Erhalt dieser einmaligen Anlage liegt nun in den Händen der mutigen Mieterinnen und Mieter, die vor Gericht weiter kämpfen,“ sagte damals ein resignierter Frank Bertermann. Der grüne Abgeordnete hatte sich während Jahren für den Erhalt der Anlage eingesetzt und gehörte nebst Dorothee Dubrau zu den wenigen Politikern, die die Menschen vom Lützowplatz direkt und engagiert unterstützten.
Schon Wochen vor der Verabschiedung des Bebauungsplans, hatte der kleine Mann aus München anfangs Juni am Lützowplatz die Bagger auffahren lassen, um neue Tatsachen zu schaffen: Die vier bereits leer gemieteten Häuser im Innenhof sollten verschwinden. Dank einer Änderung in der Berliner Bauverordnung brauchte er dafür nicht einmal mehr eine Genehmigung. Die Aktion war völlig legal .
So versank die einstige Idylle in einer Wolke von Lärm und Staub. Vor den Augen der verbliebenen Mieterinnen und Mieter wurde Haus um Haus zertrümmert und zerstört. „Wie schön weiss die Wände noch sind!“ entfährt es Dorothea Oellrich, als eine herausbrechende Mauer den Blick in den Innenraum des Nachbarhauses freigibt.
Die Gebäude sind zäh, die Abriss-Arbeiten dauern länger als erwartet. Erst im Dezember sollte wieder Ruhe einkehren. „Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass hier nicht schlecht gebaut worden ist und unsere Häuser nicht marode sind“, sagt Gisela Eckstein. Fortan wird sie die warmen Lichter aus den Nachbarhäusern im Hinterhof vermissen. Wo einst Freunde wohnten, gähnt nun nichts als Leere. Der Platz, wo man im Sommer zusammen grillte, wo die Kinder spielten, bleibt abgesperrt: Ein hoher Bauzaun verwehrt den Zurückgebliebenen den direkten Zutritt zu ihren Parkplätzen und Mülltonnen. Dies ist nur eine von zahlreichen Schikanen, mit denen die DIBAG in den folgenden Monaten versuchte, die noch bestehenden Häuser leer zu kriegen.
Denn in der Konzernzentrale in München wuchs die Ungeduld. Bereits zehn Jahre waren seit dem Kauf der Liegenschaften vergangen. „Die Baukosten sind in dieser Zeit enorm gestiegen“, klagt im Herbst 2008 Wolfgang Kasper, Doblingers rechte Hand und zuständig für den Problemfall in Berlin. Was er verschweigt, ist die Tatsache, dass sich in der gleichen Zeit der Wert des Grundstücks massiv erhöht hat. Für die Anliegen und Nöte der Mieter hat der christliche Unternehmer Doblinger wenig Verständnis. .….. .….….….….. .… .….…. .….….. .….… .….….….… .…. .….….….. .….….….… .….….…. .….….….…. .…… .….….….… .….….….….…… .….….….… .…. .….. … .…. .… .….…. .…. .…… .… .….….. .….….… .….….….. (*).
„Es gibt einen Renditesatz, den wir erreichen müssen. Deshalb ist die Tatsache, dass am Lützowplatz etwas Neues hin muss, das Ergebnis von Mathematik und hat nichts mit Weltanschauung zu tun,“ erklärt dazu Wolfgang Kasper und macht unmissverständlich klar, dass er damit nicht bloss eine bessere Ausnutzung des Grundstücks durch höhere Dichte, sondern auch mehr Luxus meint. Anfänglich hatten einige Mieter, unter ihnen das Aussiedlerpaar Schwarz, darauf gehofft, sich in der neuen Überbauung eine Wohnung sichern zu können, falls die alten Häuser nicht zu retten wären.
Auf eine solche Abmachung hat sich die DIBAG nie eingelassen. Wohl wissend, dass sich die bisherigen Bewohner die künftigen Mietzinse niemals würden leisten können. Die sogenannt „kleinen Leute“ sind in der geplanten Neu-Überbauung nicht vorgesehen. Für sie wird es am Lützowplatz künftig keinen Platz mehr geben.
Auch wenn dies in Berlin nie so deutlich formuliert wurde, wie am DIBAG-Hauptsitz in München, herrschte in dieser Hinsicht längst Einigkeit zwischen den Stadtbehörden und dem Investor. Mit der Propagierung sogenannt „guter Adressen“ will die Berliner Politik und Stadtplanung attraktive Lagen am Wasser und in der Innenstadt für die Unterbringung einer zahlungskräftigen Klientel nutzen. Stadt und Bezirk pushen Investitionen in teure Town Houses, Luxuswohnungen und andere Renditeobjekte der gehobenen Preisklasse.
Finanzkräftige Investoren treffen auf offene Türen, während Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen kein Gehör finden. Siegfried Piotrzkowski brachte es im Dezember 2006 in einem Leserbrief auf den Punkt: „Wenn Herr Gothe beabsichtigt, sich von DIBAG-Vertretern über das Neubauvorhaben informieren zu lassen, die Mieter aber nicht hören will, kann das nur bedeuten, dass er parteiisch ist und die Mieter ihm völlig egal sind.“
Nachdem der Bebauungsplan im Trockenen und die Hofhäuser am Lützowplatz dem Erdboden gleich gemacht worden waren, blieb den Mietern als einzige Hoffnung die Justiz. Im Frühjahr 2009 war es wieder soweit: Vor der Verhandlung trafen sich die kleine Gruppe der verbliebenen Bewohner und ihre Anwälte vor dem Amtsgericht an der Littenstrasse, um den schweren Gang gemeinsam anzutreten.
Die Anwälte der DIBAG hatten zur Stützung ihrer Klage zwei Aktenordner mit neuem Material eingereicht. Vergeblich: Schon bald nach Verhandlungsbeginn zeichnete sich ab, dass die rein wirtschaftliche, aber wenig konkrete Argumentation des Investors auf tönernen Füssen stand. Ein Aufatmen ging durch die Reihen, als Richterin Regina Paschke den Anwälten der DIBAG vorhielt, dass vage Renditevorstellungen eines Investors keine Kündigung von Wohn- und Lebensraum rechtfertige.
Trotz des unerwarteten Sieges wollte bei den Betroffenen keine rechte Freude aufkommen: Da war einerseits das ungute Gefühl, dass ein Teil des Erfolgs der ungeschickten Verhandlungsführung der DIBAG-Anwälte zu verdanken sei. Vor allem aber das Bewusstsein, dass man damit zwar erneut eine Fristverlängerung erreicht hat, eine Rettung der Gebäude aber immer unwahrscheinlicher wurde.
Nach über zehn Jahren ohne Unterhalt verschlechterte sich der Zustand der Liegenschaften zusehends. „Wenn nicht saniert wird, verfällt so ein Haus immer mehr,“ klagte Gisela Eckstein nach der Verhandlung. „Hätte ich gewusst, dass es so schlimm wird, wäre ich längst gegangen. Aber jetzt, nach allem, was wir schon durchgemacht haben – da bricht man einfach nicht ab.“
Der kleine Mann in München muss getobt haben. Die DIBAG versuchte, den Entscheid des Berliner Gerichts beim Bundesgerichtshof anzufechten, wurde aber abgewiesen. Parallel dazu versuchte sie es mit neuen Kündigungen, auf die bald erneute Räumungsklagen folgten.
Diesmal lautete die Begründung des Klägers auf „Hinderung an wirtschaftlicher Verwertung“: Weil die Mieter durch ihr Verbleiben den Abbruch der Liegenschaften verhinderten, könne der „dem Grundstück innewohnende Wert nicht ausgenützt“ werden. Obschon just in dieser Zeit der Bundesgerichtshof mit seiner langjährigen mieterfreundlichen Praxis gebrochen hatte und in zwei neuen Urteilen das Recht auf Wohnen gegenüber wirtschaftlichen Argumenten zurückstufte, entschied das Berliner Amtsgericht 2010 noch einmal zu Gunsten der Mietparteien vom Lützowplatz. Die DIBAG versuchte daraufhin erneut, den Fall vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, wurde aber wiederum abgewiesen.
Nun änderte Alfons Doblinger seine Strategie: Im Frühjahr 2011 suchte er über Claudia Kleiner und Peter Nitsch das Gespräch mit den Mietern – und lud sie auf ein nobles Essen nach Potsdam ein. Die Einladung erstaunte und stiess auf Skepsis. „Wir alle gemeinsam in einem Bus nach Potsdam – eine merkwürdige Idee“, erinnert sich eine der Eingeladenen. „Da kommt einem schnell der Gedanke, ob sich da einer mit einem kleinen Unfall eines Problems entledigen wolle…“
Schliesslich beschloss man ein Treffen im Hotel Berlin, das am Lützowplatz, gleich gegenüber den Ungers-Häusern liegt. In seiner schriftlichen Einladung zu einem „Verständigungsgespräch“ gab der kleine Mann aus München der Hoffnung Ausdruck, dass „eine aufrichtige und gute Aussprache möglich wird, so dass jeder sein Interesse ansprechen kann und es dann zu einer sachgerechten Information kommt.“ Für die meisten war es die erste persönliche Begegnung mit ihrem Hausbesitzer. Die Veranstaltung verfehlte ihre Wirkung nicht, zumal der 68jährige Alfons Doblinger plötzlich Emotionen zeigte und im Verlauf des Nachmittags gar ein paar Tränen verdrückte.
„Das ist ja ein Mensch, der hat ein Herz – mit dem kann man reden“, erinnert sich Dorothea Oellrich an ihre damaligen Gefühle. Ihr sei ganz leicht gewesen und sie hätte Hoffnung geschöpft, dass alles doch noch gut werde.
Voller Energie und Optimismus habe sie ein paar Tage später gerade den vernachlässigten Hauseingang auf Hochglanz geschrubbt, als ihr Nachbar Peter Nitsch vorbei gekommen sei und sie auf das Schreiben der DIBAG in ihrem Briefkasten aufmerksam machte. Darin stand in dürren Worten der endgültige Entscheid des Herrn Doblinger: Abbruch sei die einzige Lösung.
Da sich die Geschichte wegen immer noch hängiger Räumungsklagen weiter in die Länge zu ziehen drohte, zeigte sich die DIBAG nun aber verhandlungsbereit. Zwar hatte sie schon früher mit auszugswilligen Mietparteien immer wieder über finanzielle Entschädigungen verhandelt und diese in begrenztem Rahmen auch zugebilligt. Regelmässig hatte der Investor aber die Unterzeichnung von bereits ausgehandelten Vereinbarungen im letzten Moment verweigert, wohl weil er hoffte, bei einem allfälligen Sieg vor Gericht billiger wegzukommen.
Ein ähnliches Spiel setzte nach dem „Verständigungsgespräch“ im Hotel Berlin wieder ein: Doblinger bot einzelnen Mietparteien im Falle eines baldigen Auszugs beachtliche Summen an. Allerdings geknüpft an die Auflagen, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner innerhalb einer vorgegebenen Frist auszuziehen und die einzelnen Parteien über die Höhe der Entschädigung Stillschweigen zu geloben hätten.
Müde geworden vom langjährigen Abnützungskampf, willigten auch Claudia Kleiner, die langjährige Sprecherin der IG Lützowplatz und ihr Partner Peter Nitsch in Entschädigungs-Verhandlungen ein. Dies, nachdem sie während Jahren immer wieder beteuert hatten, ein Auszug käme für sie nicht in Frage, sie würden die Letzten sein, die gingen. „Das Ganze hat uns immer mehr zugesetzt, auch gesundheitlich. Und schliesslich sahen wir rechtlich keine Chance mehr“, begründen sie ihr Aufgeben.
Die steigenden Mieten in Berlin und die Angst, bei einem nächsten Gerichtstermin nicht mehr Recht zu bekommen und damit alles zu verlieren, hätten sie zu diesem Schritt veranlasst. Ihre Verhandlungen mit dem Investor waren von Erfolg gekrönt – allerdings erst nach einem erniedrigenden Besuch von Peter Nitsch in München, wie er im Abschiedsbrief an seine Mitkämpfer schreibt. Dort habe er mit Doblinger „die vertraglichen Grundlagen weitestgehend geklärt und dann die Basis für einen Vergleich gemeinsam gefunden und auch beidseitig unterschrieben.“ Über die Höhe der Abfindung schweigt Nitsch – man darf aber davon ausgehen, dass sich die DIBAG den Wegzug der langjährigen Rädelsführer einiges kosten liess.
Doch sie waren nicht die einzigen, die im Sommer 2011 mit der DIBAG verhandelten. Bei zwei weiteren Mietparteien tauchte Alfons Doblinger sogar persönlich auf, um ihnen grosszügige Entschädigungen im Falle eines baldigen Auszugs anzubieten. Mit einer Partei einigte er sich auf stattliche 65’000 Euro. Den fertig ausgehandelten Vertrag, in dem verschiedene Punkte auf Verlangen der DIBAG noch nachgebessert worden waren, hat Alfons Doblinger allerdings nie unterzeichnet. Auch mehrmaliges Nachhaken des Mieter-Anwalts blieb ohne Erfolg: Im entscheidenden Moment war der Investor nicht mehr zu erreichen.
Dafür betrat auf Seiten der DIBAG ein neuer Anwalt die Bühne: Der Kölner Jurist Klaus Lützenkirchen, Fachmann für Mietrecht und bekannt für seinen skrupellosen Methoden. Im Frühsommer liess er den verbliebenen Bewohnern am Lützowplatz denn auch gleich ein Schreiben zukommen, in dem er – völlig widerrechtlich, gestützt auf eine von ihm zitierte „ortsübliche Vergleichsmiete“ – Mietnachzahlungen einforderte sowie mit Schadenersatzforderungen drohte. „Wir sind mit dem Brief gleich zu unserem Rechtsanwalt, der hat uns dann beruhigt“, sagt Gisela Eckstein.
Auch Dorothea Oellrich geriet in Panik. Sie hatte seit der bitteren Enttäuschung nach dem Treffen im Hotel Berlin intensiv Wohnungsannoncen studiert, sich auch ein paar Angebote angeschaut. Doch das meiste war zu teuer, mit ihrer bescheidenen Rente kann sie sich nicht viel leisten. Dazu kommt ihr Alter: „Kürzlich fragte mich ein Makler am Telefon, wie alt ich sei“, erzählt sie. „Als ich es ihm sagte, hängte er grusslos auf.“
Trotz ihrer schwierigen Situation beteiligte sich Dorothea Oellrich an der Finanzierung von zwei Gegengutachten, die von den zehn noch verbliebenen Mietparteien gemeinsam in Auftrag gegeben worden waren. Die Beklagten hofften, damit die bisherige Argumentationslinie der DIBAG in Frage zu stellen: Die vom Investor behaupteten irreparablen Schäden an den Häusern wurden von der Gutachterin, die zu diesem Zweck vor Ort recherchiert hatte, nicht bestätigt. Die Überprüfung des von der DIBAG bei Ungers bestellten Berichts zeigte zudem, dass das Büro des Stararchitekten völlig überrissene Sanierungskosten errechnet hatte. Statt einer sinnvollen Restaurierung des Bestehenden, zielten seine Berechnungen auf die Herstellung des ursprünglich von ihm geplanten teuren Projekts.
Anlässlich der nächsten Gerichtsverhandlung zeigte sich aber bald, dass sich nun auch die Justiz auf die Seite des Investors geschlagen hatte. Der Vorsitzende Richter Manfred Hoffmann stellte von Anfang an klar, dass für ihn nur die längst bekannten Studien zählten: „Wollen Sie etwa Herrn Professor Cziesielski unterstellen, er habe das Gutachten gefälscht?“ hielt Hoffmann dem Einwand der Mieteranwälte entgegen, die darauf aufmerksam machten, dass diese Untersuchungen von der DIBAG in Auftrag gegeben worden und entsprechend parteiisch seien.
Damit waren die eigenen Gegengutachten, auf welche die Mieter ihre Verteidigung aufgebaut hatten, unbeachtet vom Tisch gefegt. Einzig der Nachweis von Unstimmigkeiten in einem weiteren, vom Gericht in Auftrag gegebenen, Bericht verhinderte ein sofortiges Urteil zugunsten der DIBAG. Richter Hoffmann setzte dafür einen neuen Gerichtstermin für Mai 2012 in Aussicht, legte den Beklagten aber gleichzeitig nahe, mit der DIBAG vorher zu einem Vergleich zu kommen.
Schon zu Verhandlungsbeginn hatte DIBAG-Anwalt Lützenkirchen, im Einvernehmen mit dem Gerichtsvorsitzenden, den Parteien im Falle eines baldigen Auszugs aus den Wohnungen eine Entschädigung von 35’000 Euro pro Partei in Aussicht gestellt. Die Beklagten vermuteten dahinter eine neue Finte des Investors und gingen auf das mündliche Angebot gar nicht erst ein. Vielmehr liessen sie in ihren Voten die soziale, grüne Wohnanlage aus IBA-Zeiten noch einmal aufleben. Ihr Utopia, das von einem geldgierigen Investor mutwillig und gezielt zerstört worden ist.
„Für den Investor ist meine Wohnung bloss ein Spekulationsobjekt. Für uns ist sie aber der Lebensmittelpunkt“, fasste ein Vertreter der Mieter zusammen, was sie alle fühlten. Ein anderer brachte das Dilemma auf den Punkt: „Hier geht es um Menschen und Grundrechte.“
Diesen Argumenten konnte sich Richter Hoffmann nur schwer entziehen und räumte ein, hier stünden in der Tat zwei Grundrechte in Konkurrenz zueinander. Allerdings seien in diesem Fall, so der Richter, die wirtschaftlichen Interessen des Immobilienkonzerns höher zu gewichten, als das Recht der Mieterinnen und Mieter auf Erhaltung ihres Wohnraums. Weil es dem Eigentümer frei stehe, in welcher Art und Weise er mit seinen Liegenschaften verfahren wolle. Und Anwalt Lützenkirchen doppelte nach: „Es ist nicht verboten, in diesem Land Geld zu verdienen.“
Die Machtdemonstration der vereinten Kräfte von Gericht und Investor blieb nicht ohne Wirkung: Im ersten Augenblick sträubten sich die Mieter noch einmal gegen das drohende Ende. „Was sollen wir mit dem Geld? Wir lassen uns nicht aus unserem Paradies rauskaufen“, lautete der Tenor. Gisela Eckstein griff zu einem Brecht-Zitat: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ und Siegfried Piotrzkowski zog den Weiterzug des Falls nach Karlsruhe an den Bundesgerichtshof in Erwägung. Doch eigentlich wussten sie alle: Der Kampf war zu Ende. Der Milliardär mit dem Konzern im Rücken und der Politik auf seiner Seite, der sich renommierte Gutachter und Staranwälte ohne Ende leisten kann, hatte sein Ziel erreicht.
Ende Januar 2012 – bitter kalte Tage in Berlin. Dorothea Oellrich ist am Packen. Wenige Wochen sind es noch, dann müssen sie und ihre Nachbarn aus dem geliebten Nest am Lützowplatz ausziehen. Sie hat ein paar Strassen weiter, nicht mehr so zentral, aber immerhin im gleichen Quartier, eine Wohnung gefunden. Mit Wintergarten, deshalb hat sie gleich zugegriffen. So kann sie zumindest einen Teil ihrer Pflanzen mitnehmen. Allerdings wird sie einiges mehr an Miete bezahlen müssen. „Ich habe lange gerechnet: Mit der Abfindung, die ich von der DIBAG erhalte, müsste ich die nächsten Jahre über die Runden kommen,“ sagt die 85jährige Frau. „Ich darf einfach nicht mehr lange leben, sonst reicht es nicht.“
© Gabriela Neuhaus, Zürich/Berlin 2024
(*) geschwärzt, aufgrund Urteil 9 O 6586/17 Landgericht München I, vom 28.03.2018, i.S. Doblinger Alfons und DIBAG AG vs. OFFROAD REPORTS GmbH
Mehr zu den Ungers-Häusern am Lützowplatz:
www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1687206
www.denkmalberlinfilm.ch
… und zum Renditeobjekt, das nun an deren Stelle steht: