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REPORTAGEN

Geld, Gier und Geschäft

Eine Ber­li­ner Repor­tage von Gabriela Neuhaus

Um die einst hoch gelobte und von Archi­tek­ten aus aller Welt beach­tete Wohn­an­lage am Lüt­zow­platz, mit­ten in Ber­lin, ist es längst still gewor­den. Der Post­bote been­det seine Runde hier immer schnel­ler: die Mehr­zahl der Brief­kä­sten ist zuge­klebt, die Häu­ser­zeile im Hof bereits platt gemacht und vom Erd­bo­den ver­schwun­den. Keine dreis­sig Jahre nach dem Ein­zug der ersten Mie­ter. Wo einst Kin­der in den Gär­ten und auf dem Spiel­platz der Sied­lung her­um­tob­ten, steht jetzt ein Bau­zaun. Dahin­ter wuchert Unkraut.

Dass die Front­reihe der ein­sti­gen Vor­zei­ge­häu­ser zum Lüt­zow­platz hin über­haupt noch steht, ist ein­zig ihren Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern zu ver­dan­ken. Über zehn Jahre kämpf­ten sie für die Erhal­tung ihrer inner­städ­ti­schen Wohn­oase und gegen die Zer­mür­bungs­tak­tik eines mil­li­ar­den­schwe­ren Inve­stors aus dem fer­nen Bayern.

Das war ein­mal eine gute Gemein­schaft hier“, seufzt Doro­thea Oell­rich und schüt­telt trau­rig den Kopf. In ihrer Wohn­kü­che duf­tet es nach Kaf­fee und Kuchen. Sie liebt es, Gäste zu ver­wöh­nen. Auch für ihre gefie­der­ten Freunde, die Kohl­mei­sen und Spat­zen, hält sie stets kleine Lecke­reien bereit, wenn sie zur Bal­kon­tür hereinflattern.

Draus­sen, auf der gros­sen Ter­rasse im drit­ten Stock, grünt und blüht es sogar jetzt, im Spät­herbst noch. „So üppig wie in die­sem Jahr, haben die Engels­trom­pe­ten noch nie geblüht“, schwärmt die 85jährige Rent­ne­rin. Die bange Frage, was im kom­men­den Jahr aus ihren Pflan­zen wird, lässt sie gar nicht erst auf­kom­men. Lie­ber erzählt sie von damals.

Wie sie 1985 mit ihrem Karl in die nagel­neue Woh­nung ein­ge­zo­gen ist und er ihr ver­spro­chen hat, dass sie hier nun für immer blei­ben könne. Nur zwei Jahre spä­ter war Karl tot. Erst da habe sie den wirk­li­chen Wert ihres Daheims ken­nen gelernt: „Wir Nach­barn waren wie eine Fami­lie und haben uns gut ver­stan­den, ohne dass wir stän­dig zusam­men­gluck­ten. Bald kamen die ersten Kin­der und die jun­gen Eltern freu­ten sich, wenn sie die Klei­nen bei mir abge­ge­ben konnten.“

Es sind aber nicht nur Erin­ne­run­gen, die Doro­thea Oell­rich dazu bewo­gen haben, bis zuletzt zu blei­ben und zu kämp­fen. Ihr, die wäh­rend des Kriegs in zer­bomb­ten und halb zer­stör­ten Häu­sern gelebt hat, will nicht in den Kopf, dass ihre mit viel Liebe ein­ge­rich­tete Woh­nung aus purer Pro­fit­gier zer­stört wer­den soll.

Daran, dass es wirk­lich soweit kom­men würde, mochte auch der Rent­ner Sieg­fried Pio­trz­kow­ski lange nicht glau­ben. Er ver­traute auf Recht und Gerech­tig­keit. Zumal er Tau­sende von Euros in den Innen­aus­bau sei­ner Woh­nung inve­stiert hat, in der Annahme, dass er hier auf Dauer blei­ben würde. Schliess­lich ist er nicht mehr der Jüng­ste, die Zei­ten sei­nes Noma­den­le­bens längst vor­bei. Nie wäre er auf die Idee gekom­men, dass man ihn, den ordent­li­chen und stets pünkt­lich zah­len­den Mie­ter, ein­mal ver­trei­ben könnte. Doch mitt­ler­weile sind sein Glaube an Poli­tik und Behör­den, zu guter Letzt sogar an die Unab­hän­gig­keit der Justiz, völ­lig dahin. Was bleibt sind Bit­ter­keit und Ohnmacht.

Als Bür­ge­rin fühlt man sich völ­lig aus­ge­lie­fert“, klagt auch Ange­lika Sau­er­mann, die in ihrer Par­terre­woh­nung am Lüt­zow­platz zwan­zig Jahre lang als Tages­mut­ter Kin­der betreut hat. Ihre Nach­ba­rin, Gisela Eck­stein fasst zusam­men: „Eine ver­gleich­bare Wohn­qua­li­tät, mit­ten in der Stadt und für uns Nor­mal­ver­die­nende erschwing­lich, fin­det man nie wie­der. – So etwas könnte heute auch gar nicht mehr gebaut wer­den, weil es sich für den Inve­stor nicht rechnet.“

Für die dama­lige Archi­tek­tur­stu­den­tin war es Liebe auf den ersten Blick. Als sie Mitte der 1980er Jahre die Ent­würfe für das Pro­jekt des Star­ar­chi­tek­ten Mathias O. Ungers am Lüt­zow­platz erst­mals zu Gesicht bekam, wusste Gisela Eck­stein sofort: „Dort will ich ein­mal woh­nen.“ Vor allem die gross­zü­gi­gen, unkon­ven­tio­nel­len Woh­nungs­grund­risse und Ter­ras­sen hat­ten es ihr ange­tan. Als Fach­frau schätzte sie aber auch weni­ger augen­fäl­lige Qua­li­tä­ten wie den für dama­lige Ver­hält­nisse aus­ge­zeich­ne­ten Schall­schutz und die Wär­me­däm­mung in den Häusern.

Die beson­dere Qua­li­tät der Sied­lung am Lüt­zow­platz weist aber weit über die ein­zel­nen Woh­nun­gen hin­aus: Wäh­rend kur­zer Zeit lebte hier, an einer der meist befah­re­nen Stras­sen der Stadt und doch im Grü­nen, eine sozial durch­mischte und mul­ti­kul­tu­relle Gemein­schaft. Mög­lich gewor­den war dies dank einer beson­de­ren Kon­stel­la­tion in den 1980er Jah­ren, als die West­ber­li­ner Stadt­be­hör­den die IBA 1984–87 lan­cier­ten: Von die­ser Inter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung erhoffte man sich neue Impulse für inner­städ­ti­sches Woh­nen, um dem dama­li­gen Exodus aus der Stadt Gegen­steuer zu geben.

Zu den visio­nä­ren Wohn­ideen, die im Rah­men der IBA umge­setzt wur­den, gehörte auch die 86 Woh­nun­gen umfas­sende Anlage am Lüt­zow­platz. Die Stadt stellte dafür auf einer Kriegs­bra­che in Sicht­weite der Mauer ein 11’500 Qua­drat­me­ter gros­ses Grund­stück zur Ver­fü­gung sowie Sub­ven­tio­nen in der Höhe von 22 Mil­lio­nen D‑Mark.

Das war eine statt­li­che Summe, reichte aber nicht, um den ursprüng­li­chen Ent­wurf von Mathias O. Ungers eins zu eins umzu­set­zen. Ange­sichts des knap­pen Bud­gets ent­schied sich die Bau­herr­schaft für die Bei­be­hal­tung der ein­ma­li­gen Grund­risse und Grün­räume, sparte dafür aber andern­orts, wie etwa bei der Fas­sa­den­ge­stal­tung. Dies führte dazu, dass sich der Star­ar­chi­tekt spä­ter auch kri­tisch über die bau­tech­ni­sche Umset­zung sei­nes Vor­zei­ge­pro­jekts äusserte.

Die Mie­te­rin­nen und Mie­ter jedoch erkann­ten sehr bald die Beson­der­hei­ten der Über­bau­ung und schät­zen die Lebens­qua­li­tät, für die der Archi­tekt mit sei­nem Sied­lungs­kon­zept die Grund­lage geschaf­fen hatte. Von Anfang an waren die neuen Woh­nun­gen am Lüt­zow­platz äus­serst begehrt.

Anläss­lich der letz­ten Gerichts­ver­hand­lung, in der die Mie­ter noch ein­mal um ihr Blei­be­recht kämpf­ten, erin­nerte sich einer der letz­ten noch geblie­be­nen Bewoh­ner: „Über zehn Jahre lang haben wir uns damals darum bemüht, in die­ser Sied­lung unter­zu­kom­men. Als wir end­lich ein­zie­hen konn­ten, ging ein Traum in Erfüllung.“

Ursprüng­lich wurde nur ein Drit­tel der Woh­nun­gen auf dem freien Markt ange­bo­ten. Den Rest ver­mit­telte die Stadt als Sozi­al­woh­nun­gen. „Das war per­fekt und führte zu einer tol­len Mischung,“ sagt Gisela Eck­stein, die damals als Stu­den­tin eben­falls in den Genuss einer Miet­re­duk­tion kam. „Jeder zahlte soviel er konnte. Pro­bleme hat das nie gege­ben, im Gegen­teil. Wir waren schon multi-kulti, als es den Begriff noch gar nicht gab. Da wohn­ten Tür­ken, Ita­lie­ner, Ara­ber, Per­ser, Ame­ri­ka­ner – und als Ende der 1980er Jahre immer mehr Aus­sied­ler in den Westen zogen, brachte die Stadt hier Fami­lien aus Bul­ga­rien, Rumä­nien und Russ­land unter.“

Auch die vier­köp­fige Fami­lie Schwarz aus St. Peters­burg zog 1987 in eine Duplex-Gar­ten­woh­nung am Lüt­zow­platz. „Deutsch lernt man nicht auf der Strasse,“ erin­nert sich Mar­ge­rita Schwarz. „Hier in der Sied­lung konn­ten wir unsere Sprach­kennt­nisse im direk­ten Kon­takt mit den Nach­barn ver­bes­sern.“ Die archi­tek­to­ni­sche Gestal­tung der inein­an­der ver­schach­tel­ten Häu­ser und Gär­ten för­derte das gegen­sei­tige Ken­nen­ler­nen. „Wir haben 1000 Sachen zusam­men gemacht. Wenn ich spät von der Arbeit kam, brauchte ich mich nicht zu sor­gen. Ich wusste, dass meine Kin­der nie allein draus­sen stehen.“

Mar­ge­rita Schwarz ist kaum zu brem­sen, wenn sie von ihrer ein­sti­gen Nach­bar­schaft schwärmt. „In Ber­lin kämpft man jetzt vie­ler­orts gegen die Bil­dung von Migran­ten-Ghet­tos“, fährt sie fort. „Hier hat­ten wir die Lösung. Wenn wir gemein­sam Feste fei­er­ten, sass die ganze Welt am Tisch. Jeder brachte seine eige­nen Spe­zia­li­tä­ten mit. Wir hät­ten jedem Fünf­sterne-Koch Kon­kur­renz gemacht.“

Natür­lich gab es auch Streit. Wo über 80 Miet­par­teien in Sicht- und Hör­weite von­ein­an­der leben, gehö­ren Kon­flikte zum All­tag. „Die haben wir gemein­sam gelöst“, sagt Leo Schwarz und fügt bei: „Für die Kin­der war das eine wun­der­bare Lebens­schule, in der sie gelernt haben, Pro­bleme zu lösen und mit­ein­an­der umzu­ge­hen.“ Dass dies nun alles vor­bei sein soll und sie aus ihrer Woh­nung ver­trie­ben wer­den, ist für das Ehe­paar Schwarz ein schwe­rer Schlag. Nach ihrer Flucht aus Russ­land glaub­ten sie, in Deutsch­land end­lich in einem Rechts­staat ange­kom­men zu sein, der seine Bür­ge­rin­nen und Bür­ger schützt.

Gut mög­lich, dass die letz­ten Bewoh­ner, die geblie­ben sind, die Ver­gan­gen­heit ein Stück weit ver­klä­ren. Unbe­strit­ten ist und bleibt aber, dass Ungers mit sei­ner Sied­lung am Lüt­zow­platz ein Wurf gelun­gen war, der dem Ideal von geleb­ter Nach­bar­schaft und Inte­gra­tion sehr nahe gekom­men ist.

Einen Nega­tiv­punkt hatte die Sied­lung aller­dings, den lang­jäh­rige Mie­te­rin­nen und Mie­ter immer wie­der erwäh­nen: Bis zur Wende lag der Lüt­zow­platz im Mau­er­rand­ge­biet, in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft von Auto­im­biss und Stras­sen­strich. „Auf dem Schul­weg muss­ten die Kin­der stets beglei­tet wer­den,“ erin­nert sich Gisela Eck­stein, deren Töch­ter heute längst erwach­sen sind. „Was haben wir nicht alles für Aktio­nen initi­iert, um die­ses Rot­licht­vier­tel weg­zu­be­kom­men und die Gegend siche­rer zu machen!“ Unab­läs­sig hät­ten sie für die Auf­wer­tung des Quar­tiers gekämpft. Da seien sie Pio­niere gewesen.

Der Durch­bruch gelang jedoch erst nach dem Fall der Mauer, als der Lüt­zow­platz sozu­sa­gen über Nacht ins Zen­trum der Stadt gerückt und zu einer soge­nannt guten Adresse gewor­den war. Dar­über soll­ten sich die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner der Ungers-Bau­ten aller­dings nicht lange freuen kön­nen: Aus­ge­rech­net die lang ersehnte Ver­bes­se­rung, für die sie sich so ein­ge­setzt hat­ten, führte bald zu ihrer Verdrängung.

Mitte der 1990er Jahre ging die dama­lige Eigen­tü­me­rin der Wohn­an­lage Kon­kurs, die Lie­gen­schaf­ten kamen unter Zwangs­ver­wal­tung. Gleich­zei­tig ver­schwand ein Bebau­ungs­plan­ver­fah­ren, das bereits 1988 zur lang­fri­sti­gen Siche­rung der IBA-Sied­lung ein­ge­lei­tet wor­den war, in den Schub­la­den der Stadt­pla­ner. Es bestehe kein Hand­lungs­be­darf, hiess es damals von­sei­ten der Ver­wal­tung. Eine fatale Fehl­ein­schät­zung, wie sich spä­ter her­aus­stel­len sollte.

Natür­lich lies­sen die Tur­bu­len­zen um die Besitz­ver­hält­nisse die Mie­ter am Lüt­zow­platz nicht kalt. Als ihre Woh­nun­gen 1998 unter den Ham­mer kamen, ver­folgte Uwe Acker­mann die Ver­stei­ge­rung vor Ort. Drei­zehn Jahre spä­ter wird er vor Gericht zu Pro­to­koll geben: „Der kleine Mann fiel sofort auf – der war völ­lig ver­bis­sen und hat allen erklärt, er müsse die Häu­ser unbe­dingt haben. Er liess nicht locker, bis er den Zuschlag hatte.“

Mit dem Ver­kauf der Ungers-Lie­gen­schaf­ten an den „klei­nen Mann“ Alfons Dob­lin­ger, bzw. seine Immo­bi­li­en­firma DIBAG aus Mün­chen, war das Ende der Idylle am Lüt­zow­platz besie­gelt. Schon damals gehörte der Immo­bi­li­en­spe­ku­lant in Deutsch­land zu den erfolg­reich­sten sei­ner Zunft, aller­dings mit zwei­fel­haf­tem Ruf: Mit ..….….….….….….….….…… .….….….….….….….….….….….….…. .….. .….….….….….….….….. (*) An- und Ver­käu­fen von Lie­gen­schaf­ten und Fir­men hatte sich der Self­made­man aus Bay­ern laut dem For­bes-Maga­zin bereits Ende der 1980er Jahre ein Pri­vat­ver­mö­gen von 270 Mil­lio­nen DM erwirt­schaf­tet. Deutsch­land­weit erst­mals in die Schlag­zei­len gera­ten ist er mit dem Kauf von 33’000 Woh­nun­gen der Neuen Hei­mat Bay­ern, für die Dob­lin­ger 1990 eine Mil­li­arde Mark hin­ge­blät­tert hat.

.… .….….….….….….…. .….….….….. .….. .… .….… .….…. .….….….….. .….….….….. .….. .….….…… .….….….….…. .…..  (*). Mit sei­nem Fir­men­im­pe­rium ver­folgt er ein ein­zi­ges Ziel: höchst­mög­li­che Ren­dite und rück­sichts­lose Ver­meh­rung sei­nes Reich­tums. Dies alles schien jedoch in Ber­lin nie­man­den zu kümmern.

Ein Blick auf den Stadt­plan genügt, um zu ver­ste­hen, wes­halb der umtrie­bige Alfons Dob­lin­ger die wenig lukra­ti­ven Woh­nun­gen am Lüt­zow­platz auf Teu­fel komm raus haben wollte: Sein Inter­esse galt nicht den viel gelob­ten Lie­gen­schaf­ten, son­dern ein­zig und allein dem Grund­stück. Die Wende hatte den Lüt­zow­platz mit einem Schlag vom Mau­er­rand­ge­biet ins Stadt­zen­trum kata­pul­tiert und das einst unat­trak­tive Gebiet zur begehr­ten Adresse im Zen­trum Ber­lins gemacht.

So kriegte die Ungers-Sied­lung gleich rei­hen­weise pro­mi­nente Nach­barn: Zuerst das Kon­rad-Ade­nauer-Haus, die künf­tige CDU-Par­tei­zen­trale. Dann rund­herum, auf ehe­ma­li­gem Brach­land, das Diplo­ma­ten- und Nobel­vier­tel Köbis-Drei­eck. Und etwas wei­ter, aber immer noch in Geh­di­stanz, schos­sen die neuen Hoch­häu­ser am Pots­da­mer-Platz in die Höhe.

Der cle­vere Inve­stor aus Mün­chen hatte das Ren­dite-Poten­zial, das sich mit der Ver­stei­ge­rung der Lüt­zow­platz-Häu­ser abzeich­nete, schnell erkannt und sich die Immo­bi­lie gesi­chert. Als alter Fuchs in der Bran­che machte er sich keine allzu gros­sen Sor­gen über die für die Ver­wirk­li­chung sei­ner Immo­bi­li­en­träume not­wen­dige Entmietung.

Als ihm zwei Jahre spä­ter der Ber­li­ner Lie­gen­schafts­fonds auch noch das Grund­stück zu einem Schnäpp­chen­preis über­liess, muss er sich bereits am Ziel gewähnt haben: Noch bevor der Kauf­ver­trag defi­ni­tiv unter­zeich­net war, reichte die DIBAG im März 2001 beim Bezirks­amt Mitte einen Abbruch­an­trag für die IBA-Häu­ser ein, um an deren Stelle unter maxi­ma­ler Aus­nüt­zung der Grund­stück­flä­che einen Ren­dite ver­spre­chen­den Gewerbe und Büro­kom­plex hochzuziehen.

Da waren die inter­na­tio­nal gefei­er­ten Ungers-Bau­ten gerade mal 17 Jahre alt. Bei der Stadt reagierte man ent­spre­chend kon­ster­niert und rieb sich die Augen. „Nie hätte ich auch nur in Erwä­gung gezo­gen, dass so etwas im Westen mög­lich ist“, sagt Doro­thee Dubrau, die damals als Bau­stadt­rä­tin des Bezirks Mitte für das Geschäft zustän­dig war. Sofort ver­suchte die in Ost­ber­lin auf­ge­wach­sene grüne Poli­ti­ke­rin und Archi­tek­tin, ein Abbruch­ver­bot zu erwirken.

Unter­stützt wurde ihr Vor­stoss vom ein­fluss­rei­chen dama­li­gen Senats­bau­di­rek­tor Hans Stim­mann. In einem Schrei­ben an den Lie­gen­schafts­fonds hielt er unmiss­ver­ständ­lich fest, dass ein Abriss geför­der­ter Woh­nun­gen zugun­sten eines Büro­neu­baus „die Bemü­hun­gen unter­lau­fen wür­den, die Ber­li­ner Innen­stadt für breite Bevöl­ke­rungs­schich­ten attrak­tiv zu gestalten“.

Dar­auf kon­terte der Lie­gen­schafts­fonds, dass ein Abbruch­ver­bot den Inve­stor dazu ver­an­las­sen könnte, vom Kauf­ver­trag für das Grund­stück zurück­zu­tre­ten. Dies wie­derum wollte man bei der Stadt nicht ris­kie­ren und ver­zich­tete des­halb auf eine ent­spre­chende Ver­trags­klau­sel. „Die Stadt wollte preis­wer­tes Woh­nen ermög­li­chen, gleich­zei­tig brauchte sie Geld. Die­ser gene­relle Wider­spruch war immer da – und meist schlug das Pen­del in sol­chen Fäl­len Rich­tung Geld“, fasst Doro­thee Dubrau rück­blickend zusammen.

Hin­ter den Kulis­sen war das Seil­zie­hen um ein Abbruch­ver­bot seit Mona­ten im Gang, als end­lich auch die direkt Betrof­fe­nen von Alfons Dob­lin­gers Absich­ten erfuh­ren. Ein Flyer, ver­fasst von Mit­glie­dern des Bünd­nis 90/​Die Grü­nen, infor­mierte die Mie­te­rin­nen und Mie­ter über die Abriss­ge­lü­ste ihres Haus­herrn und bot Unterstützung.

Ein Schock sei das gewe­sen, erin­nert sich Doro­thea Oell­rich. Obschon man bereits seit eini­ger Zeit ungute Ent­wick­lun­gen regi­striert hatte. So wurde bei­spiels­weise der Unter­halt der Lie­gen­schaf­ten seit der Über­nahme durch die DIBAG noto­risch ver­nach­läs­sigt. Wer die Ver­wal­tung auf not­wen­dige Repa­ra­tur­ar­bei­ten hin­zu­wei­sen wagte, wurde mit dem Hin­weis, es handle sich um „Baga­tel­len“, abgewimmelt.

Ein kla­res Signal erhielt Fami­lie Sau­er­mann, die gleich nach dem Hand­wech­sel von 1998 das Gespräch mit der neuen Haus­be­sit­ze­rin gesucht hatte. „Wir woll­ten die Woh­nung kau­fen, um sicher zu gehen, dass wir blei­ben kön­nen“, erin­nert sich Ange­lika Sau­er­mann. „Die DIBAG hat unser Vor­ha­ben aber rundum abge­lehnt und uns durch die Blume klar gemacht, dass die Häu­ser leer gemie­tet würden.“

Als die latente Bedro­hung nun hand­fest wurde, reagier­ten die Mie­ter vom Lüt­zow­platz ent­schlos­sen und soli­da­risch: Am 9. Sep­tem­ber 2001, am Tag der Anschläge aufs Worldtrade Cen­ter in New York, grün­de­ten sie eine Inter­es­sen­ge­mein­schaft, um gemein­sam für die Erhal­tung ihrer Oase zu kämp­fen. An deren Spitze stell­ten sich Peter Nit­sch und Clau­dia Klei­ner, bei­des Mie­ter der ersten Stunde. Über Jahre hin­weg setz­ten sie sich von da weg mit uner­müd­li­chem Enga­ge­ment für die Erhal­tung der Stadtu­to­pie am Lüt­zow­platz ein.

Anfäng­lich mit beacht­li­chem Erfolg: Alle Ber­li­ner Tages­zei­tun­gen, aber auch Rund­funk und Fern­se­hen berich­te­ten pro­mi­nent über die Grün­dung der IG Lüt­zow­platz und deren Anlie­gen. Die Abend­schau zeigte Bil­der von Mie­te­rin­nen und Mie­tern mit Trans­pa­ren­ten, die vor dem Bezirks­amt für die Fer­tig­stel­lung des lie­gen geblie­be­nen Bebau­ungs­plans demonstrierten.

Stadt­rä­tin Dubrau und Senats­bau­di­rek­tor Stim­mann äus­ser­ten im TV-Bei­trag erneut ihr Befrem­den über das Ansin­nen des Inve­stors. Und Clau­dia Klei­ner, mitt­ler­weile offi­zi­elle Spre­che­rin der IG Lüt­zow­platz, bezich­tigte die DIBAG der Lüge, weil sie unre­pa­rier­bare Bau­män­gel als Grund für den Abriss vorschiebe.

In der Tat hatte der „kleine Mann“ Alfons Dob­lin­ger bald gemerkt, dass sein Antrag auf Abriss der inter­na­to­nal bekann­ten IBA-Bau­ten chan­cen­los blei­ben würde, wenn er nicht eine stich­hal­tige Begrün­dung lie­ferte. Des­halb liess er von der renom­mier­ten Ber­li­ner CRP Inge­nieur­ge­mein­schaft Czie­siel­ski, Ruh­nau und Part­ner GmbH eine Stu­die erstel­len, wel­che die Wirt­schaft­lich­keit einer all­fäl­li­gen Sanie­rung abklä­ren sollte.

Zwei Jahre spä­ter, als sich das Geran­gel um eine Abbruch­be­wil­li­gung immer noch hin­zog, ging ein wei­te­rer Auf­trag für eine Mach­bar­keits­stu­die an Mathias O. Ungers, den Erbauer der Anlage. Ganz im Sinne des Auf­trag­ge­bers kamen beide Gut­ach­ten zum Schluss, dass die Sanie­rung der Anlage immense Kosten ver­ur­sa­chen würde, die sich für den Inve­stor nie­mals rechneten.

Damit glaubte die DIBAG, die rich­ti­gen Argu­mente für den Abbruch der Lie­gen­schaf­ten in der Hand zu haben. Bei der Stadt war man jedoch nicht bereit, bedin­gungs­los dar­auf ein­zu­tre­ten. Bau­stadt­rä­tin Doro­thee Dubrau konnte gegen­über dem Inve­stor schliess­lich durch­set­zen, dass ein Teil des Are­als auch bei einer künf­ti­gen Neu­be­bau­ung für Woh­nun­gen reser­viert wer­den müsse. Die­ser For­de­rung, die zu einem spä­te­ren Zeit­punkt in einem Bebau­ungs­plan noch kon­kre­ti­siert wer­den sollte, kam die DIBAG bei der Aus­schrei­bung eines Wett­be­werbs für die Neu­be­bau­ung des Grund­stücks nach.

Des­sen erster Preis ging an das Pro­jekt der Ber­li­ner Archi­tek­ten Moder­sohn & Frei­es­le­ben: Eine Über­bau­ung, auf Misch­nut­zung der geho­be­nen Preis­klasse aus­ge­rich­tet, mit wel­cher der Inve­stor auf den Markt reagie­ren kann. Im hin­te­ren Teil Luxus­woh­nun­gen, gegen die Strasse hin Raum für Büros, Gewerbe und ein Hotel. Ein Aller­welts-Ren­di­te­ob­jekt, wie sie heute zu Dut­zen­den gebaut wer­den – ohne Gesicht und Vision.

Mit die­sem Ent­wurf in der Hand, erach­tete die DIBAG den Moment für gekom­men, nun auch die direkt Betrof­fe­nen aus erster Hand zu infor­mie­ren. Vier­ein­halb Jahre nach dem ersten Abbruch­ge­such stand, als Folge der kon­se­quen­ten Ent­mie­tungs­po­li­tik, bereits über die Hälfte der Woh­nun­gen leer. Der Zustand der Lie­gen­schaf­ten ver­schlech­terte sich lau­fend. Trotz­dem kämpf­ten die ver­blie­be­nen Mie­ter wei­ter für die Ret­tung ihres mitt­ler­weile stark ram­po­nier­ten Para­die­ses. Noch immer hoff­ten sie auf eine ver­söhn­li­che Lösung.

Statt­des­sen lag eines Tages, kurz vor Weih­nach­ten 2006, die Kün­di­gung im Brief­ka­sten. Inklu­sive der Auf­for­de­rung, diese inner­halb von acht Wochen, schrift­lich zu akzep­tie­ren. Wer sich nicht daran halte, drohte die DIBAG, müsse „damit rech­nen, dass eine Räu­mungs­klage bereits vor dem 1.7.2007 erho­ben wird.“ Dies führte zu einem wei­te­ren Exodus aus der Sied­lung. Zurück blieb eine kleine Gruppe von zuneh­mend ver­zwei­fel­ten Idea­li­sten, die wei­ter­hin mit allen ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln für die Modell­sied­lung am Lüt­zow­platz kämpften.

Zuerst mit einem Appell an die Mensch­lich­keit. Clau­dia Klei­ner und Peter Nit­sch tra­fen Alfons Dob­lin­ger per­sön­lich. Anfäng­lich waren sie beein­druckt vom Gespräch. Ein umgäng­li­cher Mann, auf­ge­stie­gen aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen und in baye­risch-katho­li­schen Wer­ten ver­haf­tet, sagt Clau­dia Klei­ner. Mit dem man gut habe reden kön­nen, von Mensch zu Mensch. Gebracht hat das aller­dings nichts: Die DIBAG ver­suchte unver­min­dert wei­ter, die Häu­ser am Lüt­zow­platz end­lich leer zu kriegen. 

Sieg­fried Pio­trz­kow­ski recher­chierte tage- und näch­te­lang im Inter­net und ver­fasste juri­stisch fun­dierte Abhand­lun­gen, in denen er auf­zeigt, wie die IBA-Wohn­an­lage geschützt wer­den könnte. Mit sei­nen Erwä­gun­gen blitzte der ehe­ma­lige Beamte jedoch sowohl beim Denk­mal­schutz, wie beim Bund der Steu­er­zah­ler und beim Rech­nungs­hof von Ber­lin ab.

Bau­fach­frau Gisela Eck­stein ver­suchte, gemein­sam mit ihrem Nach­barn, dem per­si­schen Bau­in­ge­nieur Barfi, die ori­gi­na­len Bau­do­ku­mente aus den 1980er Jah­ren zu kon­sul­tie­ren. Bis heute ist sie über­zeugt, dass damit Dob­lin­gers Behaup­tung, beim Bau sei gepfuscht wor­den, ein für alle mal hät­ten wider­legt wer­den kön­nen. Doch bei der Inve­sti­ti­ons­bank Ber­lin, wo die Akten lagern, ver­wei­gerte man den Mie­tern die Ein­sicht. Weil Bau­un­ter­la­gen nur mit Ein­ver­ständ­nis des Haus­be­sit­zers her­aus­ge­rückt wer­den dür­fen – wor­auf sich der kleine Mann aus Mün­chen natür­lich nicht einliess.

Auch die Bemü­hun­gen, Behör­den­ver­tre­ter, Poli­ti­ker, Rechts­an­wälte und Rich­ter zu einem Augen­schein ein­zu­la­den, blie­ben ohne Erfolg. Meist ern­te­ten die Mie­ter auf ihre Ein­la­dun­gen bloss ein müdes Lächeln. Zu gross der Auf­wand, beschie­den die Viel­be­schäf­tig­ten, die ihr Urteil über den Zustand und die Zukunft der Lie­gen­schaf­ten lie­ber gestützt auf Gut­ach­ten, Para­gra­fen und Kon­ven­tio­nen fäll­ten, als sich der Emo­tio­na­li­tät der Betrof­fe­nen vor Ort auszusetzen.

Gemein­schaf­ten wer­den aus­ein­an­der­ge­ris­sen und Fami­lien irgend­wo­hin ver­setzt, ohne dass sich jemand dafür inter­es­siert, was dabei zer­stört wird,“ sagt eine empörte und ent­täuschte Ange­lika Sau­er­mann. „ Nicht ein­mal jene, die wir gewählt haben, neh­men unsere Anlie­gen ernst.“

Dass der Regie­rende Bür­ger­mei­ster Klaus Wowe­reit ange­sichts sei­ner unzäh­li­gen Reprä­sen­ta­ti­ons­pflich­ten keine Zeit fin­den würde, sich der bedroh­ten Sied­lung am Lüt­zow­platz anzu­neh­men, war schnell ein­mal klar. Doch auch Bau­se­na­to­rin Inge­borg Junge-Reyer stellte sich taub und ver­wei­gerte trotz mehr­ma­li­gem Nach­ha­ken die Ent­ge­gen­nahme einer Peti­tion mit über 1000 Unter­schrif­ten, wel­che die Mie­ter nach Erhalt der Kün­di­gung in kür­ze­ster Zeit gesam­melt hatten.

Ihrem Ärger über die Arro­ganz der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen mach­ten die Bewoh­ner mit Pla­ka­ten Luft, die sie in ihre Fen­ster häng­ten. So wur­den zumin­dest einige der Pas­san­ten, die täg­lich zu Tau­sen­den den Lüt­zow­platz über­que­ren, auf den dro­hen­den Abriss der Ungers-Sied­lung aufmerksam.

Die Hil­fe­rufe sta­chen im Früh­jahr 2007 auch der frisch gewähl­ten und aus der Schweiz zuge­zo­ge­nen Senats­bau­di­rek­to­rin Regula Lüscher ins Auge. „Was ist hier los? Bei uns zeich­net man sol­che Bau­ten mit Archi­tek­tur­prei­sen aus!“ war ihre spon­tane Reak­tion, als sie auf einer Erkun­di­gungs­fahrt durch ihr neues Wir­kungs­ge­biet die Pla­kate sah. Der Fah­rer ihres Dienst­wa­gens, der bereits im Dienst von Vor­gän­ger Hans Stim­mann gestan­den hatte, konnte sie aus erster Hand informieren.

Das Ganze sei ein heis­ses Eisen, die Stadt könne aber nichts mehr aus­rich­ten, sagte er. Spä­ter legte man ihr auch auf dem Amt nahe, die Hände von die­ser Geschichte zu las­sen. Was sie denn auch tat, ange­sichts der hohen Arbeits­be­la­stung und der Aus­sicht auf eine künf­tige IBA des 21. Jahr­hun­derts, mit neuen städ­te­bau­li­chen Visio­nen und Bau­pro­jek­ten, für deren Lan­cie­rung sie sich fortan engagierte.

Wäh­rend­des­sen ging der Kampf um den Erhalt der mitt­ler­weile 23jährigen IBA-Sied­lung am Lüt­zow­platz wei­ter. Im Som­mer 2007 kam es zu den ersten Gerichts­ver­hand­lun­gen, nach­dem die DIBAG gegen die ver­blie­be­nen Miet­par­teien Räu­mungs­kla­gen ein­ge­reicht hatte. Aller­dings hatte der Inve­stor zu die­sem Zeit­punkt immer noch keine Abriss­ge­neh­mi­gung, wes­halb das Ber­li­ner Land­ge­richt die Kla­gen abwies. Zudem kamen die Rich­ter zum Schluss, dass es sich bei den von der DIBAG vor­ge­brach­ten Bau­män­geln um einen „Repa­ra­tur­stau handle, der die Klä­ge­rin nicht zur Kün­di­gung berechtigt.“

Deren Behaup­tung, die Schä­den hät­ten schon zum Zeit­punkt der Erstei­ge­rung bestan­den, kon­terte das Gericht mit einem kla­ren Ver­dikt: „Wer eine Bau­ruine erwirbt, erlangt dadurch nicht zusätz­li­che Kün­di­gungs­be­fug­nisse.“ Damit hat­ten die Mie­ter einen ersten Sieg gegen den Inve­stor errun­gen und die Zuver­sicht wuchs, dass sich das Blatt doch noch zu ihren Gun­sten wen­den könnte.

Auf poli­ti­scher Ebene aller­dings hatte der Wind defi­ni­tiv gedreht: Wäh­rend der geplante Abbruch der öffent­lich geför­der­ten Wohn­an­lage anfäng­lich von allen Par­teien kri­ti­siert wor­den war, setzte sich nun die von der DIBAG ver­brei­tete Ansicht durch, die bestehende Anlage sei nicht mehr zu ret­ten. Der SPD-Poli­ti­ker Ephraim Gothe, der im Früh­jahr 2006 als Bau­stadt­rat die Nach­folge von Doro­thee Dubrau ange­tre­ten hatte, ent­puppte sich bald als vehe­men­ter Ver­fech­ter eines Neu­bau­pro­jekts, das grös­sere Ver­dich­tung und damit eine bes­sere Aus­nut­zung des Grund­stücks ver­sprach. Die IBA-Gebäude, so Gothe, seien nicht mehr zeit­ge­mäss, wür­den zuwe­nig Ren­dite brin­gen und müss­ten ersetzt werden.

Der neue Bebau­ungs­plan, der nach jah­re­lan­gen Ver­hand­lun­gen im August 2008 end­lich ver­ab­schie­det wurde, schrieb als ein­zi­gen Tri­but an die bestehende Situa­tion fest, dass 75% der bis­he­ri­gen Wohn­flä­che auch in einer neuen Über­bau­ung für Woh­nun­gen reser­viert wer­den müss­ten. „Poli­tisch sind alle Mit­tel aus­ge­schöpft – die ein­zige Hoff­nung für den Erhalt die­ser ein­ma­li­gen Anlage liegt nun in den Hän­den der muti­gen Mie­te­rin­nen und Mie­ter, die vor Gericht wei­ter kämp­fen,“ sagte damals ein resi­gnier­ter Frank Ber­ter­mann. Der grüne Abge­ord­nete hatte sich wäh­rend Jah­ren für den Erhalt der Anlage ein­ge­setzt und gehörte nebst Doro­thee Dubrau zu den weni­gen Poli­ti­kern, die die Men­schen vom Lüt­zow­platz direkt und enga­giert unterstützten.

Schon Wochen vor der Ver­ab­schie­dung des Bebau­ungs­plans, hatte der kleine Mann aus Mün­chen anfangs Juni am Lüt­zow­platz die Bag­ger auf­fah­ren las­sen, um neue Tat­sa­chen zu schaf­fen: Die vier bereits leer gemie­te­ten Häu­ser im Innen­hof soll­ten ver­schwin­den. Dank einer Ände­rung in der Ber­li­ner Bau­ver­ord­nung brauchte er dafür nicht ein­mal mehr eine Geneh­mi­gung. Die Aktion war völ­lig legal .

So ver­sank die ein­stige Idylle in einer Wolke von Lärm und Staub. Vor den Augen der ver­blie­be­nen Mie­te­rin­nen und Mie­ter wurde Haus um Haus zer­trüm­mert und zer­stört. „Wie schön weiss die Wände noch sind!“ ent­fährt es Doro­thea Oell­rich, als eine her­aus­bre­chende Mauer den Blick in den Innen­raum des Nach­bar­hau­ses freigibt.

Die Gebäude sind zäh, die Abriss-Arbei­ten dau­ern län­ger als erwar­tet. Erst im Dezem­ber sollte wie­der Ruhe ein­keh­ren. „Dies ist ein wei­te­rer Beweis dafür, dass hier nicht schlecht gebaut wor­den ist und unsere Häu­ser nicht marode sind“, sagt Gisela Eck­stein. Fortan wird sie die war­men Lich­ter aus den Nach­bar­häu­sern im Hin­ter­hof ver­mis­sen. Wo einst Freunde wohn­ten, gähnt nun nichts als Leere. Der Platz, wo man im Som­mer zusam­men grillte, wo die Kin­der spiel­ten, bleibt abge­sperrt: Ein hoher Bau­zaun ver­wehrt den Zurück­ge­blie­be­nen den direk­ten Zutritt zu ihren Park­plät­zen und Müll­ton­nen. Dies ist nur eine von zahl­rei­chen Schi­ka­nen, mit denen die DIBAG in den fol­gen­den Mona­ten ver­suchte, die noch bestehen­den Häu­ser leer zu kriegen.

Denn in der Kon­zern­zen­trale in Mün­chen wuchs die Unge­duld. Bereits zehn Jahre waren seit dem Kauf der Lie­gen­schaf­ten ver­gan­gen. „Die Bau­ko­sten sind in die­ser Zeit enorm gestie­gen“, klagt im Herbst 2008 Wolf­gang Kas­per, Dob­lin­gers rechte Hand und zustän­dig für den Pro­blem­fall in Ber­lin. Was er ver­schweigt, ist die Tat­sa­che, dass sich in der glei­chen Zeit der Wert des Grund­stücks mas­siv erhöht hat. Für die Anlie­gen und Nöte der Mie­ter hat der christ­li­che Unter­neh­mer Dob­lin­ger wenig Ver­ständ­nis. .….. .….….….….. .… .….…. .….….. .….… .….….….… .…. .….….….. .….….….… .….….…. .….….….…. .…… .….….….… .….….….….…… .….….….… .…. .….. … .…. .… .….…. .…. .…… .… .….….. .….….… .….….…..  (*).

Es gibt einen Ren­di­te­satz, den wir errei­chen müs­sen. Des­halb ist die Tat­sa­che, dass am Lüt­zow­platz etwas Neues hin muss, das Ergeb­nis von Mathe­ma­tik und hat nichts mit Welt­an­schau­ung zu tun,“ erklärt dazu Wolf­gang Kas­per und macht unmiss­ver­ständ­lich klar, dass er damit nicht bloss eine bes­sere Aus­nut­zung des Grund­stücks durch höhere Dichte, son­dern auch mehr Luxus meint. Anfäng­lich hat­ten einige Mie­ter, unter ihnen das Aus­sied­ler­paar Schwarz, dar­auf gehofft, sich in der neuen Über­bau­ung eine Woh­nung sichern zu kön­nen, falls die alten Häu­ser nicht zu ret­ten wären.

Auf eine sol­che Abma­chung hat sich die DIBAG nie ein­ge­las­sen. Wohl wis­send, dass sich die bis­he­ri­gen Bewoh­ner die künf­ti­gen Miet­zinse nie­mals wür­den lei­sten kön­nen. Die soge­nannt „klei­nen Leute“ sind in der geplan­ten Neu-Über­bau­ung nicht vor­ge­se­hen. Für sie wird es am Lüt­zow­platz künf­tig kei­nen Platz mehr geben.

Auch wenn dies in Ber­lin nie so deut­lich for­mu­liert wurde, wie am DIBAG-Haupt­sitz in Mün­chen, herrschte in die­ser Hin­sicht längst Einig­keit zwi­schen den Stadt­be­hör­den und dem Inve­stor. Mit der Pro­pa­gie­rung soge­nannt „guter Adres­sen“ will die Ber­li­ner Poli­tik und Stadt­pla­nung attrak­tive Lagen am Was­ser und in der Innen­stadt für die Unter­brin­gung einer zah­lungs­kräf­ti­gen Kli­en­tel nut­zen. Stadt und Bezirk pushen Inve­sti­tio­nen in teure Town Hou­ses, Luxus­woh­nun­gen und andere Ren­di­te­ob­jekte der geho­be­nen Preisklasse.

Finanz­kräf­tige Inve­sto­ren tref­fen auf offene Türen, wäh­rend Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mit ihren Anlie­gen kein Gehör fin­den. Sieg­fried Pio­trz­kow­ski brachte es im Dezem­ber 2006 in einem Leser­brief auf den Punkt: „Wenn Herr Gothe beab­sich­tigt, sich von DIBAG-Ver­tre­tern über das Neu­bau­vor­ha­ben infor­mie­ren zu las­sen, die Mie­ter aber nicht hören will, kann das nur bedeu­ten, dass er par­tei­isch ist und die Mie­ter ihm völ­lig egal sind.“

Nach­dem der Bebau­ungs­plan im Trocke­nen und die Hof­häu­ser am Lüt­zow­platz dem Erd­bo­den gleich gemacht wor­den waren, blieb den Mie­tern als ein­zige Hoff­nung die Justiz. Im Früh­jahr 2009 war es wie­der soweit: Vor der Ver­hand­lung tra­fen sich die kleine Gruppe der ver­blie­be­nen Bewoh­ner und ihre Anwälte vor dem Amts­ge­richt an der Lit­ten­strasse, um den schwe­ren Gang gemein­sam anzutreten.

Die Anwälte der DIBAG hat­ten zur Stüt­zung ihrer Klage zwei Akten­ord­ner mit neuem Mate­rial ein­ge­reicht. Ver­geb­lich: Schon bald nach Ver­hand­lungs­be­ginn zeich­nete sich ab, dass die rein wirt­schaft­li­che, aber wenig kon­krete Argu­men­ta­tion des Inve­stors auf töner­nen Füs­sen stand. Ein Auf­at­men ging durch die Rei­hen, als Rich­te­rin Regina Paschke den Anwäl­ten der DIBAG vor­hielt, dass vage Ren­di­te­vor­stel­lun­gen eines Inve­stors keine Kün­di­gung von Wohn- und Lebens­raum rechtfertige.

Trotz des uner­war­te­ten Sie­ges wollte bei den Betrof­fe­nen keine rechte Freude auf­kom­men: Da war einer­seits das ungute Gefühl, dass ein Teil des Erfolgs der unge­schick­ten Ver­hand­lungs­füh­rung der DIBAG-Anwälte zu ver­dan­ken sei. Vor allem aber das Bewusst­sein, dass man damit zwar erneut eine Frist­ver­län­ge­rung erreicht hat, eine Ret­tung der Gebäude aber immer unwahr­schein­li­cher wurde.

Nach über zehn Jah­ren ohne Unter­halt ver­schlech­terte sich der Zustand der Lie­gen­schaf­ten zuse­hends. „Wenn nicht saniert wird, ver­fällt so ein Haus immer mehr,“ klagte Gisela Eck­stein nach der Ver­hand­lung. „Hätte ich gewusst, dass es so schlimm wird, wäre ich längst gegan­gen. Aber jetzt, nach allem, was wir schon durch­ge­macht haben – da bricht man ein­fach nicht ab.“

Der kleine Mann in Mün­chen muss getobt haben. Die DIBAG ver­suchte, den Ent­scheid des Ber­li­ner Gerichts beim Bun­des­ge­richts­hof anzu­fech­ten, wurde aber abge­wie­sen. Par­al­lel dazu ver­suchte sie es mit neuen Kün­di­gun­gen, auf die bald erneute Räu­mungs­kla­gen folgten.

Dies­mal lau­tete die Begrün­dung des Klä­gers auf „Hin­de­rung an wirt­schaft­li­cher Ver­wer­tung“: Weil die Mie­ter durch ihr Ver­blei­ben den Abbruch der Lie­gen­schaf­ten ver­hin­der­ten, könne der „dem Grund­stück inne­woh­nende Wert nicht aus­ge­nützt“ wer­den. Obschon just in die­ser Zeit der Bun­des­ge­richts­hof mit sei­ner lang­jäh­ri­gen mie­ter­freund­li­chen Pra­xis gebro­chen hatte und in zwei neuen Urtei­len das Recht auf Woh­nen gegen­über wirt­schaft­li­chen Argu­men­ten zurück­stufte, ent­schied das Ber­li­ner Amts­ge­richt 2010 noch ein­mal zu Gun­sten der Miet­par­teien vom Lüt­zow­platz. Die DIBAG ver­suchte dar­auf­hin erneut, den Fall vor das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zu zie­hen, wurde aber wie­derum abgewiesen.

Nun änderte Alfons Dob­lin­ger seine Stra­te­gie: Im Früh­jahr 2011 suchte er über Clau­dia Klei­ner und Peter Nit­sch das Gespräch mit den Mie­tern – und lud sie auf ein nobles Essen nach Pots­dam ein. Die Ein­la­dung erstaunte und stiess auf Skep­sis. „Wir alle gemein­sam in einem Bus nach Pots­dam – eine merk­wür­dige Idee“, erin­nert sich eine der Ein­ge­la­de­nen. „Da kommt einem schnell der Gedanke, ob sich da einer mit einem klei­nen Unfall eines Pro­blems ent­le­di­gen wolle…“

Schliess­lich beschloss man ein Tref­fen im Hotel Ber­lin, das am Lüt­zow­platz, gleich gegen­über den Ungers-Häu­sern liegt. In sei­ner schrift­li­chen Ein­la­dung zu einem „Ver­stän­di­gungs­ge­spräch“ gab der kleine Mann aus Mün­chen der Hoff­nung Aus­druck, dass „eine auf­rich­tige und gute Aus­spra­che mög­lich wird, so dass jeder sein Inter­esse anspre­chen kann und es dann zu einer sach­ge­rech­ten Infor­ma­tion kommt.“ Für die mei­sten war es die erste per­sön­li­che Begeg­nung mit ihrem Haus­be­sit­zer. Die Ver­an­stal­tung ver­fehlte ihre Wir­kung nicht, zumal der 68jährige Alfons Dob­lin­ger plötz­lich Emo­tio­nen zeigte und im Ver­lauf des Nach­mit­tags gar ein paar Trä­nen verdrückte.

Das ist ja ein Mensch, der hat ein Herz – mit dem kann man reden“, erin­nert sich Doro­thea Oell­rich an ihre dama­li­gen Gefühle. Ihr sei ganz leicht gewe­sen und sie hätte Hoff­nung geschöpft, dass alles doch noch gut werde.

Vol­ler Ener­gie und Opti­mis­mus habe sie ein paar Tage spä­ter gerade den ver­nach­läs­sig­ten Haus­ein­gang auf Hoch­glanz geschrubbt, als ihr Nach­bar Peter Nit­sch vor­bei gekom­men sei und sie auf das Schrei­ben der DIBAG in ihrem Brief­ka­sten auf­merk­sam machte. Darin stand in dür­ren Wor­ten der end­gül­tige Ent­scheid des Herrn Dob­lin­ger: Abbruch sei die ein­zige Lösung.

Da sich die Geschichte wegen immer noch hän­gi­ger Räu­mungs­kla­gen wei­ter in die Länge zu zie­hen drohte, zeigte sich die DIBAG nun aber ver­hand­lungs­be­reit. Zwar hatte sie schon frü­her mit aus­zugs­wil­li­gen Miet­par­teien immer wie­der über finan­zi­elle Ent­schä­di­gun­gen ver­han­delt und diese in begrenz­tem Rah­men auch zuge­bil­ligt. Regel­mäs­sig hatte der Inve­stor aber die Unter­zeich­nung von bereits aus­ge­han­del­ten Ver­ein­ba­run­gen im letz­ten Moment ver­wei­gert, wohl weil er hoffte, bei einem all­fäl­li­gen Sieg vor Gericht bil­li­ger wegzukommen.

Ein ähn­li­ches Spiel setzte nach dem „Ver­stän­di­gungs­ge­spräch“ im Hotel Ber­lin wie­der ein: Dob­lin­ger bot ein­zel­nen Miet­par­teien im Falle eines bal­di­gen Aus­zugs beacht­li­che Sum­men an. Aller­dings geknüpft an die Auf­la­gen, dass alle Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner inner­halb einer vor­ge­ge­be­nen Frist aus­zu­zie­hen und die ein­zel­nen Par­teien über die Höhe der Ent­schä­di­gung Still­schwei­gen zu gelo­ben hätten.

Müde gewor­den vom lang­jäh­ri­gen Abnüt­zungs­kampf, wil­lig­ten auch Clau­dia Klei­ner, die lang­jäh­rige Spre­che­rin der IG Lüt­zow­platz und ihr Part­ner Peter Nit­sch in Ent­schä­di­gungs-Ver­hand­lun­gen ein. Dies, nach­dem sie wäh­rend Jah­ren immer wie­der beteu­ert hat­ten, ein Aus­zug käme für sie nicht in Frage, sie wür­den die Letz­ten sein, die gin­gen. „Das Ganze hat uns immer mehr zuge­setzt, auch gesund­heit­lich. Und schliess­lich sahen wir recht­lich keine Chance mehr“, begrün­den sie ihr Aufgeben.

Die stei­gen­den Mie­ten in Ber­lin und die Angst, bei einem näch­sten Gerichts­ter­min nicht mehr Recht zu bekom­men und damit alles zu ver­lie­ren, hät­ten sie zu die­sem Schritt ver­an­lasst. Ihre Ver­hand­lun­gen mit dem Inve­stor waren von Erfolg gekrönt – aller­dings erst nach einem ernied­ri­gen­den Besuch von Peter Nit­sch in Mün­chen, wie er im Abschieds­brief an seine Mit­kämp­fer schreibt. Dort habe er mit Dob­lin­ger „die ver­trag­li­chen Grund­la­gen wei­test­ge­hend geklärt und dann die Basis für einen Ver­gleich gemein­sam gefun­den und auch beid­sei­tig unter­schrie­ben.“ Über die Höhe der Abfin­dung schweigt Nit­sch – man darf aber davon aus­ge­hen, dass sich die DIBAG den Weg­zug der lang­jäh­ri­gen Rädels­füh­rer eini­ges kosten liess.

Doch sie waren nicht die ein­zi­gen, die im Som­mer 2011 mit der DIBAG ver­han­del­ten. Bei zwei wei­te­ren Miet­par­teien tauchte Alfons Dob­lin­ger sogar per­sön­lich auf, um ihnen gross­zü­gige Ent­schä­di­gun­gen im Falle eines bal­di­gen Aus­zugs anzu­bie­ten. Mit einer Par­tei einigte er sich auf statt­li­che 65’000 Euro. Den fer­tig aus­ge­han­del­ten Ver­trag, in dem ver­schie­dene Punkte auf Ver­lan­gen der DIBAG noch nach­ge­bes­sert wor­den waren, hat Alfons Dob­lin­ger aller­dings nie unter­zeich­net. Auch mehr­ma­li­ges Nach­ha­ken des Mie­ter-Anwalts blieb ohne Erfolg: Im ent­schei­den­den Moment war der Inve­stor nicht mehr zu erreichen.

Dafür betrat auf Sei­ten der DIBAG ein neuer Anwalt die Bühne: Der Köl­ner Jurist Klaus Lüt­zen­kir­chen, Fach­mann für Miet­recht und bekannt für sei­nen skru­pel­lo­sen Metho­den. Im Früh­som­mer liess er den ver­blie­be­nen Bewoh­nern am Lüt­zow­platz denn auch gleich ein Schrei­ben zukom­men, in dem er – völ­lig wider­recht­lich, gestützt auf eine von ihm zitierte „orts­üb­li­che Ver­gleichs­miete“ – Miet­nach­zah­lun­gen ein­for­derte sowie mit Scha­den­er­satz­for­de­run­gen drohte. „Wir sind mit dem Brief gleich zu unse­rem Rechts­an­walt, der hat uns dann beru­higt“, sagt Gisela Eckstein.

Auch Doro­thea Oell­rich geriet in Panik. Sie hatte seit der bit­te­ren Ent­täu­schung nach dem Tref­fen im Hotel Ber­lin inten­siv Woh­nungs­an­non­cen stu­diert, sich auch ein paar Ange­bote ange­schaut. Doch das mei­ste war zu teuer, mit ihrer beschei­de­nen Rente kann sie sich nicht viel lei­sten. Dazu kommt ihr Alter: „Kürz­lich fragte mich ein Mak­ler am Tele­fon, wie alt ich sei“, erzählt sie. „Als ich es ihm sagte, hängte er gruss­los auf.“

Trotz ihrer schwie­ri­gen Situa­tion betei­ligte sich Doro­thea Oell­rich an der Finan­zie­rung von zwei Gegen­gut­ach­ten, die von den zehn noch ver­blie­be­nen Miet­par­teien gemein­sam in Auf­trag gege­ben wor­den waren. Die Beklag­ten hoff­ten, damit die bis­he­rige Argu­men­ta­ti­ons­li­nie der DIBAG in Frage zu stel­len: Die vom Inve­stor behaup­te­ten irrepa­ra­blen Schä­den an den Häu­sern wur­den von der Gut­ach­te­rin, die zu die­sem Zweck vor Ort recher­chiert hatte, nicht bestä­tigt. Die Über­prü­fung des von der DIBAG bei Ungers bestell­ten Berichts zeigte zudem, dass das Büro des Star­ar­chi­tek­ten völ­lig über­ris­sene Sanie­rungs­ko­sten errech­net hatte. Statt einer sinn­vol­len Restau­rie­rung des Bestehen­den, ziel­ten seine Berech­nun­gen auf die Her­stel­lung des ursprüng­lich von ihm geplan­ten teu­ren Projekts.

Anläss­lich der näch­sten Gerichts­ver­hand­lung zeigte sich aber bald, dass sich nun auch die Justiz auf die Seite des Inve­stors geschla­gen hatte. Der Vor­sit­zende Rich­ter Man­fred Hoff­mann stellte von Anfang an klar, dass für ihn nur die längst bekann­ten Stu­dien zähl­ten: „Wol­len Sie etwa Herrn Pro­fes­sor Czie­siel­ski unter­stel­len, er habe das Gut­ach­ten gefälscht?“ hielt Hoff­mann dem Ein­wand der Mie­ter­an­wälte ent­ge­gen, die dar­auf auf­merk­sam mach­ten, dass diese Unter­su­chun­gen von der DIBAG in Auf­trag gege­ben wor­den und ent­spre­chend par­tei­isch seien.

Damit waren die eige­nen Gegen­gut­ach­ten, auf wel­che die Mie­ter ihre Ver­tei­di­gung auf­ge­baut hat­ten, unbe­ach­tet vom Tisch gefegt. Ein­zig der Nach­weis von Unstim­mig­kei­ten in einem wei­te­ren, vom Gericht in Auf­trag gege­be­nen, Bericht ver­hin­derte ein sofor­ti­ges Urteil zugun­sten der DIBAG. Rich­ter Hoff­mann setzte dafür einen neuen Gerichts­ter­min für Mai 2012 in Aus­sicht, legte den Beklag­ten aber gleich­zei­tig nahe, mit der DIBAG vor­her zu einem Ver­gleich zu kommen.

Schon zu Ver­hand­lungs­be­ginn hatte DIBAG-Anwalt Lüt­zen­kir­chen, im Ein­ver­neh­men mit dem Gerichts­vor­sit­zen­den, den Par­teien im Falle eines bal­di­gen Aus­zugs aus den Woh­nun­gen eine Ent­schä­di­gung von 35’000 Euro pro Par­tei in Aus­sicht gestellt. Die Beklag­ten ver­mu­te­ten dahin­ter eine neue Finte des Inve­stors und gin­gen auf das münd­li­che Ange­bot gar nicht erst ein. Viel­mehr lies­sen sie in ihren Voten die soziale, grüne Wohn­an­lage aus IBA-Zei­ten noch ein­mal auf­le­ben. Ihr Uto­pia, das von einem geld­gie­ri­gen Inve­stor mut­wil­lig und gezielt zer­stört wor­den ist.

Für den Inve­stor ist meine Woh­nung bloss ein Spe­ku­la­ti­ons­ob­jekt. Für uns ist sie aber der Lebens­mit­tel­punkt“, fasste ein Ver­tre­ter der Mie­ter zusam­men, was sie alle fühl­ten. Ein ande­rer brachte das Dilemma auf den Punkt: „Hier geht es um Men­schen und Grundrechte.“

Die­sen Argu­men­ten konnte sich Rich­ter Hoff­mann nur schwer ent­zie­hen und räumte ein, hier stün­den in der Tat zwei Grund­rechte in Kon­kur­renz zuein­an­der. Aller­dings seien in die­sem Fall, so der Rich­ter, die wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen des Immo­bi­li­en­kon­zerns höher zu gewich­ten, als das Recht der Mie­te­rin­nen und Mie­ter auf Erhal­tung ihres Wohn­raums. Weil es dem Eigen­tü­mer frei stehe, in wel­cher Art und Weise er mit sei­nen Lie­gen­schaf­ten ver­fah­ren wolle. Und Anwalt Lüt­zen­kir­chen dop­pelte nach: „Es ist nicht ver­bo­ten, in die­sem Land Geld zu verdienen.“

Die Macht­de­mon­stra­tion der ver­ein­ten Kräfte von Gericht und Inve­stor blieb nicht ohne Wir­kung: Im ersten Augen­blick sträub­ten sich die Mie­ter noch ein­mal gegen das dro­hende Ende. „Was sol­len wir mit dem Geld? Wir las­sen uns nicht aus unse­rem Para­dies raus­kau­fen“, lau­tete der Tenor. Gisela Eck­stein griff zu einem Brecht-Zitat: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Wider­stand zur Pflicht“ und Sieg­fried Pio­trz­kow­ski zog den Wei­ter­zug des Falls nach Karls­ruhe an den Bun­des­ge­richts­hof in Erwä­gung. Doch eigent­lich wuss­ten sie alle: Der Kampf war zu Ende. Der Mil­li­ar­där mit dem Kon­zern im Rücken und der Poli­tik auf sei­ner Seite, der sich renom­mierte Gut­ach­ter und Star­an­wälte ohne Ende lei­sten kann, hatte sein Ziel erreicht.

Ende Januar 2012 – bit­ter kalte Tage in Ber­lin. Doro­thea Oell­rich ist am Packen. Wenige Wochen sind es noch, dann müs­sen sie und ihre Nach­barn aus dem gelieb­ten Nest am Lüt­zow­platz aus­zie­hen. Sie hat ein paar Stras­sen wei­ter, nicht mehr so zen­tral, aber immer­hin im glei­chen Quar­tier, eine Woh­nung gefun­den. Mit Win­ter­gar­ten, des­halb hat sie gleich zuge­grif­fen. So kann sie zumin­dest einen Teil ihrer Pflan­zen mit­neh­men. Aller­dings wird sie eini­ges mehr an Miete bezah­len müs­sen. „Ich habe lange gerech­net: Mit der Abfin­dung, die ich von der DIBAG erhalte, müsste ich die näch­sten Jahre über die Run­den kom­men,“ sagt die 85jährige Frau. „Ich darf ein­fach nicht mehr lange leben, sonst reicht es nicht.“

Nach­trag: RIP Frau Oellrich

© Gabriela Neu­haus, Zürich/​Berlin 2024

(*) geschwärzt, auf­grund Urteil 9 O 6586/​17 Land­ge­richt Mün­chen I, vom 28.03.2018, i.S. Dob­lin­ger Alfons und DIBAG AG vs. OFFROAD REPORTS GmbH


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www​.urba​no​phil​.net/​s​t​a​e​d​t​e​b​a​u​-​a​r​c​h​i​t​e​k​t​u​r​/​e​i​n​-​l​e​t​z​t​e​r​-​b​l​i​c​k​-​a​u​f​-​e​i​n​-​s​t​u​c​k​-​g​e​b​a​ute-utopie

Neu­bau Luetzowplatz

www​.denk​mal​ber​lin​film​.ch

… und zum Ren­di­te­ob­jekt, das nun an deren Stelle steht:

www.lützowcarre.berlin

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