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Solidarität – ein Markenzeichen der Schweiz

Heute Mor­gen spüre ich buch­stäb­lich seine Unge­duld. Sein ent­schlos­se­ner Blick auf dem Foto, das seit Jahr und Tag auf mei­nem Schreib­tisch steht, treibt mich an – seine Bot­schaft ist laut und deut­lich zu hören: «Du musst noch ein­mal in die Tasten grei­fen, es ist höch­ste Zeit!»

Recht hat er, mein Urgross­va­ter Ernst Jakob. Er, der schon vor über hun­dert Jah­ren für soziale Gerech­tig­keit und ja, für eine Alters- und Hin­ter­las­se­nen­ver­si­che­rung gekämpft hat, wusste genau, dass man nie locker­las­sen darf. Soli­da­ri­tät fällt nicht vom Him­mel, sie muss erkämpft und bewahrt wer­den. Gegen alle Angriffe der Wohl­ha­ben­den auf die Armen.

Nach­dem der Bun­des­rat bereits 1919 als Reak­tion auf den Lan­des­ge­ne­ral­streik die Schaf­fung einer Ver­si­che­rung gegen Alters­ar­mut in Aus­sicht gestellt hatte, sollte es noch ein­mal fast 30 Jahre dau­ern, bis die AHV end­lich Tat­sa­che wurde.

Urgross­va­ter Ernst, der nach sei­ner Mecha­ni­ker­lehre bei der dama­li­gen Jura-Sim­plon-Bahn vom Hei­zer zum Loko­mo­tiv­füh­rer auf­ge­stie­gen ist, hat als enga­gier­ter Gewerk­schaf­ter und Poli­ti­ker das jah­re­lange Rin­gen um die Sozi­al­ver­si­che­run­gen mit­er­lebt. Mehr noch: Auf­grund von Zei­tungs­be­rich­ten, Pro­to­kol­len und Erzäh­lun­gen kann ich nur erah­nen, wie­viel Zeit und Enga­ge­ment er die­sem Kampf gewid­met hat, wie oft er an Ver­samm­lun­gen und Abstim­mungs­ver­an­stal­tun­gen die Not­wen­dig­keit der AHV und die Argu­mente dafür immer und immer wie­der­holt hat. Mein Urgross­va­ter Ernst Jakob gehörte zu den trei­ben­den Kräf­ten hin­ter dem gros­sen Sozi­al­werk, das bis heute auf der Soli­da­ri­tät zwi­schen Arm und Reich sowie Alt und Jung basiert.

Ein Grund­satz, der in der aktu­el­len Abstim­mungs­kam­pa­gne von der Geg­ner­schaft einer ver­fas­sungs­kon­for­men AHV scham­los infrage gestellt wird. – Am letz­ten Wochen­ende hat die Sonn­tags­presse noch ein­mal alles gege­ben, um die Argu­mente der Ver­si­che­rungs­lobby und der Rei­chen in die­sem Land gegen ein JA für die 13. AHV-Rente zu über­tö­nen. Nach­dem vor ein paar Wochen der 27jährige Jo Diet­rich für sich und seine (und künf­tige) Gene­ra­tio­nen ein NEIN gefor­dert hat, ist es dies­mal ein wohl­stands­ge­wohn­tes Rent­ner­paar mit Namen Minsch und Baur, das in die glei­che Kerbe haut.

Der gut­be­tuchte Ex-Öko­no­mie­pro­fes­sor und seine Gat­tin, eine Agrar- und Umwelt­öko­no­min, haben letzte Woche ein klei­nes, bil­li­ges Inse­rat in der TA-Gra­tis­zei­tung 20-Minu­ten geschal­tet, in dem sie Junge auf­for­dern, ein NEIN in die Urne zu legen – ein Steil­pass, den die Sonn­tags­Zei­tung zu einem gros­sen Arti­kel auf­ge­bla­sen hat, inklu­sive Zweit­ver­wer­tung in den TA-Blät­tern vom Montag.

So geht Kam­pa­gnen­jour­na­lis­mus: Die Main­stream­m­e­dien NZZ und TA Media machen einer­seits mit ein­sei­ti­gen «Recher­chen», in Leit­ar­ti­keln und Kom­men­ta­ren seit Wochen mäch­tig Stim­mung gegen die 13. AHV-Rente. Und gar­nie­ren sie dar­über hin­aus mit net­ten Home­sto­ries, in denen Leute wie der Junior Diet­rich und die Senior:innen Minsch/​Baur eine Platt­form erhal­ten. Sym­pa­thi­sche Testi­mo­ni­als, wie wir sie von der Zahn­pa­sta- oder Wasch­mit­tel­wer­bung ken­nen – Haupt­sa­che, sie verfangen.

Andere Infor­ma­tio­nen wur­den im Blät­ter­wald klei­ner gedruckt und nach hin­ten gerückt. So etwa die Mel­dung, dass der AHV-Fonds im letz­ten Jahr nicht geschmol­zen ist, son­dern viel­mehr sein ange­leg­tes Ver­mö­gen um 3,3 Mil­li­ar­den auf 40,4 Mil­li­ar­den Fran­ken gestei­gert hat. Zah­len, wel­che die Behaup­tun­gen der Geg­ner­schaft mehr als rela­ti­vie­ren und ein­mal mehr bestä­ti­gen, dass die Schwarz­ma­le­rei in Bezug auf die AHV inter­es­sen­ge­trie­bene Angst­ma­che­rei ist.

In sei­nem Wochen­kom­men­tar führt Daniel Bins­wan­ger in der Repu­blik zudem pla­stisch vor Augen, wie schlecht das Ren­ten­sy­stem der rei­chen Schweiz im inter­na­tio­na­len Ver­gleich abschnei­det. So sind die Durch­schnitts­ren­ten in unse­rem Land in den letz­ten 20 Jah­ren um sage und schreibe 20 Pro­zent gesun­ken. Zusam­men­fas­send hält er fest: «In allen Indu­strie­staa­ten die­ser Welt wer­den die nied­ri­gen Ren­ten quer­fi­nan­ziert und durch Umver­tei­lung auf­ge­bes­sert, weil die nied­rig­sten Ein­kom­men in der Nähe der Armuts­grenze lie­gen und weil des­halb, wenn diese Ein­kom­men durch Ren­ten mit einer zu nied­ri­gen Lohn­er­satz­quote abge­löst wer­den, ein beträcht­li­cher Teil der Bevöl­ke­rung zwangs­läu­fig in die Armut abglei­tet. In der Schweiz aller­dings ist diese Quer­fi­nan­zie­rung zu bescheiden.»

Ein Blick in die Archive zeigt: Schon in den 1930er Jah­ren grif­fen die Geg­ner einer star­ken AHV zur Angst­keule und wuss­ten wäh­rend Jah­ren, deren Ein­füh­rung zu ver­hin­dern, indem sie behaup­te­ten, die Ver­si­che­rungs­bei­träge wür­den die Schwei­zer Wirt­schaft ruinieren.

Mein Urgross­va­ter mit dem mäch­ti­gen Schnauz, im Lok­füh­rer-Out­fit, Bas­ken­mütze auf dem Kopf, blickt mich von sei­nem Platz auf mei­nem Pult ob der lau­fen­den Neid-Debatte um die AHV ungläu­big an. Fast scheint mir, als ob ein lei­ses, bit­te­res Lächeln über sein Gesicht huscht, als wollte er mir sagen: Das war schon immer so.…

So refe­rierte Ernst Jakob etwa anläss­lich einer Ver­samm­lung des Bie­ler Gewerk­schafts­kar­tells im Vor­feld der AHV-Grün­dung der AHV 1939 über «das Ver­si­che­rungs­pro­blem, das dem Geg­ner der Vor­lage am mei­sten Anlass gibt zur Lügenpropaganda.»

Er führte wei­ter aus, dass die Geg­ner­schaft – allen voran das Ver­si­che­rungs­ka­pi­tal – keine Mit­tel scheuen werde, um die Vor­lage zu gefähr­den. Und schloss seine Aus­füh­run­gen mit den Wor­ten: «Wir dür­fen nicht den Bes­ser­ge­stell­ten her­un­ter­ho­len, son­dern müs­sen danach trach­ten, den Schwa­chen zu stärken.»

Deine Worte in unser Ohr, lie­ber Urgross­va­ter Ernst! Zum Teu­fel mit all den ver­lo­ge­nen «Giesskannen»-Schwafeleien und den hef­ti­gen Attacken auf die Soli­da­ri­tät zwi­schen Alt und Jung… Die Schweiz braucht das JA zur 13. AHV-Rente. Jetzt.

Nicht zuletzt aus Respekt vor dem sozi­al­staat­li­chen Erbe, das unsere Vor­fah­ren hart erkämpft und zu treuen Hän­den wei­ter­ge­ge­ben haben, auf dass es auch in Zukunft erhal­ten und finan­ziert bleibt. Auch wenn das denen da oben nicht passt.

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