Sehnsucht

Ende Juli. Sommerhitze, Trockenheit im Mittelland. In den Nachrichten nur noch Hiobsbotschaften. Wohin treibt Europa, die Welt? Dieser Rechtsdrall über­all. Egoismus und Macht statt Solidarität, Ethik und Vernunft. Das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämp­fen. Die Gewissheit, dass da gera­de etwas her­an­wächst von dem man glaub­te, es sei für immer vor­bei. Ohnmacht, Wut und Trauer.

Mit dem Morgenzug in die Berge. Gleissendes Licht, strah­len­des Wetter. Das letz­te Stück mit dem Postauto. Im Dorfladen von Sufers noch Proviant ein­ge­kauft – freund­li­che Worte aus­ge­tauscht und gelacht, dann geht es los. Der Waldweg glit­zert, über­all ist alles tau­nass. Es ist ange­nehm warm und feucht. Die Natur spriesst üppig, das Atmen tut gut.

Vom gegen­über­lie­gen­den Ufer des Sees aller­dings, dringt ohren­be­täu­ben­der Lärm. Steine wer­den gebro­chen, Reparaturarbeiten an der Passstrasse. Dazwischen auf­heu­len­de Motorräder, Autos, Lastwagen. Der Weg biegt in ein Seitental, folgt einem spru­deln­den Bach. Noch immer häm­mert und rat­tert es von unten. Fremde Geräusche domi­nie­ren im wil­den Bergwald.

Es geht steil hin­auf. Auch hier, Gräser und Blüten vol­ler Wasserperlen. Die Steine unter den Füssen sind mit­un­ter glit­schig. Das Gelände for­dert sei­nen Tribut. Dem Alltag zu ent­kom­men, hat sei­nen Preis. Der anspruchs­vol­le Weg leert den Kopf und füllt das Herz.

Am spä­te­ren Nachmittag Abstieg ins Avers-Tal. Übernachtung in Inner-Ferrera. Ein klei­nes Dorf umge­ben von stei­len Felswänden. Die Schule ist längst geschlos­sen, die Bevölkerungskurve zeigt steil nach unten. Ein Botanikerpaar sowie ein paar Feriengäste im ein­zi­gen Hotel des Orts. Vor ein paar Jahren wur­de es, mit Unterstützung der Gemeinde, wie­der in Betrieb genom­men. Das unga­ri­sche Wirtepaar scheint gut inte­griert und orga­ni­siert für den 1. August ein Boccia-Tournier.

Nach einem reich­hal­ti­gen Frühstück auf der alten Averserstrasse zu Fuss wei­ter das Tal hin­auf. Grünlich schim­mern­der Andeergranit säumt ihren Rand – Stein um Stein wur­de von Hand gehau­en und gesetzt. Vier Millionen habe die Restauration und Sicherung der alten schon Strasse gekos­tet. Investitionen in einen sanf­ten Tourismus. – Der roman­ti­sche Weg führt durch den Wald, der steil abfal­len­den Bergflanke ent­lang – tief unten in der Schlucht der Rhein.

Dann öff­net sich das Tal. Wo der Fluss durch die Wiesen mäan­dert, haben sich vor Jahrhunderten schon Menschen nie­der­ge­las­sen. Oberhalb von Campsut recht ein Mann das gemäh­te Gras zusam­men. Ein Gruss – und die Frage nach der Ernte. Im Unterland fehlt es wegen der Trockenheit an Tierfutter. Der Bauer kommt ein paar Schritte näher, lässt die Arbeit ruhen und lacht: «Dieses Jahr haben wir gar nichts zu kla­gen – ein Sommer, wie man ihn nur wün­schen kann. Alles ist perfekt!»

Ein Wort ergibt das ande­re. Er hat sei­nen Betrieb an einen Jüngeren ver­pach­tet und sei jetzt Hilfsarbeiter auf sei­nem eige­nen Land. Nun arbei­te er ohne Sorgen, aus Lust. Noch 12 Bauernbetriebe gebe es im Tal. Im Übrigen mang­le es an Arbeitsplätzen. Die Sägerei wur­de vor eini­gen Jahren still­ge­legt, obschon die Holzwirtschaft eigent­lich flo­rie­ren könn­te. Kürzlich habe jemand für einen Bau im Tal Arvenholz gesucht. Schliesslich fand man das Gewünschte in Bivio, zu einem stol­zen Preis. Das Holz stamm­te aus Avers – und wur­de schliess­lich reimportiert.

Dann kommt das Gespräch auf die Grenze: Schmuggel war einst die Lebensader im Tal. «Mein Vater war der Schmugglerkönig» erzählt der Mann mit einem schel­mi­schen Lachen. Während des zwei­ten Weltkriegs habe man im Aversertal mehr Reis gege­ges­sen, als je zuvor oder danach. Alle hät­ten mit­ge­macht, auch der Gemeindepräsident. So konn­te man sicher gehen, dass einem nie­mand verpfeift.

Weiter geht es, an der still­ge­leg­ten Sägerei vor­bei, den Hang hin­auf und wie­der über die alte Averserstrasse, nach Avers Cresta. Eine alte Walsersiedlung – ein grös­se­res Hotel, ein Dorfladen – Bauernhöfe. Hinter der Kirche öff­net sich das Tal. Streusiedlungen, eine wei­te Landschaft. Kühe und Schafe auf den Weiden. Bäume wer­den rar.

Einladende wei­te Seitentäler locken gen Süden. Es ist zu spät, und ein Gewitter zieht sich zusam­men. Das Hochtal bleibt ein Versprechen für ein nächs­tes Mal!

Der Weg nach Juf zeigt in die ande­re Richtung. Donnergrollen in der Ferne, ein paar Regentropfen – bald klart es wie­der auf. Die laut Statistik höchst­ge­le­ge­ne ganz­jäh­rig bewohn­te Siedlung der Schweiz – mit­ten in einer kah­len, aber lieb­li­chen Landschaft. Der Blick schweift über die umlie­gen­den Matten, wo Kühe wei­den. Eine Kinderschar spielt auf der Strasse. Im Dorfladen gibt’s Glacé und Souvenirs.

Die Kinder holen Stöcke im Stall – es ist Zeit, die Kühe von der Weide zu trei­ben. Glockengeläut und fröh­li­che Aufregung. Dann legt sich wie­der Stille übers Dorf.

Beschaulichkeit, Ruhe. Wie es wohl wäre, hier zu blei­ben. Nicht bloss ein paar Momente oder eine Nacht. Lange, län­ger – für immer? Was für ein Lebensgefühl hat man, hier oben? Hier, wo sich das Auge in der Weite ver­liert und gleich­zei­tig Kleinräumigkeit domi­niert? In die­sem Tal, wo jeder jede kennt?

Los- und zurück­las­sen, was einem in der Stadt umtreibt. Einfach ein­mal aus­pro­bie­ren, was die­se Berge, die Natur mit einem machen. Teilhaben, an die­ser klei­nen, zusam­men­ge­wür­fel­ten Gemeinschaft hier oben, über der Baumgrenze…

Gedankenspiele. Träumereien, Sehnsucht. – Kurz vor Sechs fährt das letz­te Postauto des Tages. Durch den Regen kurvt es zurück. Dreieinhalb Stunden spä­ter, Ankunft in Zürich. 

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