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Koks und etwas Wärme

Sams­tag­abend im Advent: Mit dem Zug durch die Däm­me­rung nach Bern. Als wir ankom­men, ist es bereits Nacht. In den Stras­sen viel Volk. Auf dem Wai­sen­hausplatz Weih­nachts­markt — Gedränge, müpf und stüpf und keine Spur von Strom­spa­ren im Strah­len­meer. Jahr für Jahr die glei­chen Stände. Und immer noch einige dazu.

Die Palette reicht vom Weih­nachts­tand über Lecke­reien, Schnit­ze­reien, kul­ti­gen Schmuck bis hin zu edlen Musik­in­stru­men­ten. Ein üppi­ges Ange­bot – das mei­ste davon Dinge, die der Mensch für ein men­schen­wür­di­ges Leben eigent­lich nicht braucht. Ein Per­pe­tuum Mobile des Über­flus­ses. Kein Luxus, aber wie es auf Neu­deutsch heisst: Nice to have, nicht mehr. Weih­nach­ten, das Fest zwi­schen Black Fri­day und Ostern, funk­tio­niert nach wie vor als zuver­läs­si­ger Motor für den Kon­sum­rausch in der rei­chen Schweiz.

Vor dem Kon­zert ist noch Zeit für ein Apéro im Korn­haus, so der Plan. Natür­lich auch das Nice to have, nicht mehr. Seit unse­rem letz­ten Besuch hat sich dort eini­ges ver­än­dert. Das Inte­ri­eur ist zum Edel-Piz­za­lo­kal mutiert. Wir wagen uns nicht an die gedeck­ten Restau­rant-Tische, aber in der ange­glie­der­ten Vino­thek scheint es noch Platz zu haben.

Am Fen­ster steht in gros­sen Let­tern Più – ein wei­te­res Lokal in der Ber­ner Innen­stadt, das sich der Zür­cher Bin­della Kon­zern ein­ver­leibt hat. Ein Glas Rot­wein ist hier mit 15 Fran­ken oder mehr auf der Schie­fer­ta­fel bepreist. Im Glau­ben an ein Leben in beschei­de­ne­rem For­mat ver­las­sen wir das Lokal und fin­den vis-à-vis im guten alten Café des Pyre­nées, was wir suchen: Ein Glas Rioja zu einem ver­nünf­ti­gen Preis, und erst noch in leben­di­ger Gesellschaft…

Vor dem Ein­gang zur Fran­zö­si­schen Kir­che eine Frau, in einen Schal ein­ge­wickelt, mit einem Pla­stik­be­cher in der Hand. Die mei­sten Konzertbesucher:innen gehen unge­rührt an ihr vor­bei. Schliess­lich haben wir für unsere Tickets bezahlt, da bleibt kein Klein­geld für eine Bett­le­rin. Zumal hier­zu­lande – so die vor­herr­schende Mei­nung – man mit 10 Fran­ken pro Tag für Nah­rung, Klei­dung und Hygiene aus­rei­chend ver­sorgt ist und daher nie­mand bet­teln muss.

Was folgt ist eine Stunde Wohl­klang, ein vor­weih­nächt­li­ches Chor­kon­zert mit Wer­ken aus Europa und Latein­ame­rika. Als Höhe­punkt die Misa Criolla von Ariel Ramí­rez. Das Publi­kum reagiert mit Begei­ste­rung und applau­diert kräf­tig. Zwei Zuga­ben, dann wer­den wir in die kalte Nacht entlassen.

Die Frau im Schal steht immer noch da, bei Bis­wind und Null­g­rad­tem­pe­ra­tur. Weih­nachts­be­leuch­tung auf dem Weg zum Mün­ster. In der unte­ren Alt­stadt sit­zen einige Unver­dros­sene draus­sen vor dem Bild­schirm. Argen­ti­nien hat soeben das zweite Tor geschossen.

Wir spa­zie­ren zurück Rich­tung Bahn­hof. Die Buden des Weih­nachts­markts sind nun geschlos­sen, in den erleuch­te­ten Restau­rants und Bars teils gäh­nende Leere, andern­orts reger Betrieb.

Der Inter­city nach Zürich ist schon gut besetzt. Unten hat es noch freie Plätze.

Kurz nach­dem sich der Zug in Bewe­gung gesetzt hat, stol­pern zwei junge Män­ner in unse­ren Wagen und set­zen sich in die Reihe schräg hin­ter uns. Sie sind laut und sicht­bar ver­la­den. Zwei Pas­sa­giere, die schon vor uns da waren, ver­las­sen das Abteil, suchen sich ver­mut­lich einen ande­ren Platz, wei­ter vorne im Zug.

Die bei­den Jungs hin­ter uns reden unab­läs­sig auf­ein­an­der ein. Der Spra­che nach zu schlies­sen, kom­men sie aus dem ara­bi­schen Raum. Vor ihnen liegt ein Handy, Dis­play nach oben. Dar­auf streut der eine weis­ses Pul­ver, formt es zu einer Linie… Dann lau­tes Räus­pern – zuerst der eine, dann der andere.

Kurz vor Olten kommt der Kon­duk­teur. Die bei­den haben kein Bil­lett. Er ver­zieht das Gesicht und ver­langt: «Pass­port!» Auch mehr­ma­li­ges Wie­der­hol­den der For­de­rung nützt nichts. Natür­lich haben die bei­den kei­nen Aus­weis dabei. Also zieht der SBB-Mann zwei Zet­tel aus der Tasche und lässt sie Name und Adresse auf­schrei­ben. Der eine folgt dem Befehl, der andere schaut zu.

Der Kon­duk­teur kann die Schrift nicht lesen. «M – E– H – M – E – D, Meh­med», buch­sta­biert der junge Mann. Die Adresse lau­tet Centre Asyl in Lyss. «Wie lau­tet die Stras­sen­num­mer», will der SBB-Beamte wis­sen. Schulterzucken.

Wei­tere Fra­gen, nun wird klar: Die Zwei sind aus Tune­sien. Nach eini­gem Hin und Her gibt sich der Kon­duk­teur zufrie­den und zieht wei­ter. Die Zet­tel mit Namen und Adresse steckt er ein. Kaum ist er weg, gibt es eine wei­tere Linie Koks…

Die Jungs haben nichts zu ver­lie­ren. Wann und wie sie in die Schweiz gekom­men sind, mit wel­chen Hoff­nun­gen wis­sen wir nicht. Die bei­den sind schät­zungs­weise um die Zwan­zig. Ich stelle mir vor, wie sie als kleine Buben in der Sonne am Strand gespielt haben. In die­sem schö­nen Land, das unser­eins mit Tou­ris­mus lockt, wäh­rend seine Bevöl­ke­rung unter Repres­sion, Per­spek­ti­ven­lo­sig­keit und Armut lei­det. Tau­sende suchen des­halb ihr Glück im Aus­land – und fin­den oft nur Elend.

Fest steht: Wer aus Tune­sien kommt, hat in der Schweiz kaum Chance auf Asyl. Und wer im Bun­des­asyl­zen­trum in Lyss gestran­det ist, bekommt die Kälte in unse­rem Land von ihrer schlimm­sten Seite zu spü­ren. Sie blei­ben aus­ge­schlos­sen, im Wart­saal zur Aus­schaf­fung. Auch wir hal­ten Distanz. Ein­zig, als dem einen ein Feu­er­zeug run­ter­fällt, hel­fen wir beim Wie­der­fin­den. Die bei­den bedan­ken und ent­schul­di­gen sich über­schwäng­lich. Sie haben gelernt, dass sie hier nicht will­kom­men sind und die ein­hei­mi­schen Pas­sa­giere bes­ser nicht stören.

Egal. Irgend­wann ist alles egal, für jene, die nichts mehr zu ver­lie­ren haben. Mit Zwan­zig gestran­det in der rei­chen Schweiz, wo die Kälte durch Mark und Bein geht. Die Zug­fahrt von Bern nach Zürich bedeu­tet immer­hin eine Stunde ohne Frie­ren. Und der Koks wärmt die Seele. Ein wenig.

In Zürich stei­gen wir alle aus. Der Kon­duk­teur hat keine Poli­zei auf­ge­bo­ten. Gut so. Was wohl mit den auf­ge­nom­me­nen Per­so­na­lien geschieht? Viel­leicht trifft er sie ja wie­der, auf ihrem Rück­weg ins Asyl­zen­trum. In einem näch­sten Inter­city, der ohne Halt von Zürich nach Bern fährt, wes­halb er keine Mög­lich­keit hat, zwei Sans Papiers ohne Bil­lett unter­wegs der Poli­zei zu übergeben…

Am näch­sten Tag beim Sonn­tags­brunch in der war­men Stube die Frage: Wo sind die Tune­sier gestern noch hin? Wie haben sie die Nacht ver­bracht, wie geht es ihnen heute Morgen?

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