Das Putinversteher-Paradox

Seit die Chefetagen von Politik und Medien die «Zeitenwende» ver­kün­det haben, weht ein schar­fer Gegenwind für alle, die sich wei­gern, in den gros­sen Chor ein­zu­stim­men. Lautstark rekla­miert der «Mainstream», im Windschatten von selbst­er­nann­ten Strateg:innen, die «rich­ti­ge» Wahrheit für sich.

Wer heu­te eine abwei­chen­de Sicht der Dinge wagt und einem Ende des Mordens und der Zerstörung das Wort redet, wird kurz­um als «Putinversteher» eti­ket­tiert und so umge­hend aus jeder Diskussion ent­sorgt. Historisch fun­dier­te Analysen? Einschätzungen von erfah­re­nen Diplomat:innen, von fach­kun­di­gen Generälen?

Fehlalarm! Wer sich auf der «rich­ti­gen» Seite wähnt, will nichts hören und been­det jede Debatte, jedes Gespräch: «Ach – du bist auch so ein Putinversteher?!?»

Es ist zum Schimpfwort Nummer 1 avan­ciert. Weil man mit «Putinversteher» sug­ge­riert, dass all jene, die nicht bereit sind, auf die Aggression des rus­si­schen Diktators mit Gegenaggression zu reagie­ren, des­sen Verhalten bil­li­gen und beför­dern wür­den. Als ob Gleiches mit Gleichem zu ver­gel­ten je Frieden ermög­licht hätte.

Besonders ger­ne schla­gen jene mit «Putinversteher» um sich, die uns weis­ma­chen wol­len, sie wüss­ten genau, wie Putin tickt und was er im Schilde führt: Etwa, dass er nach der Ukraine das Baltikum über­fal­len wer­de. Und dann Polen, Deutschland… Die Schweiz? Weil sie mei­nen, Putin so genau zu ver­ste­hen, «wis­sen» sie auch, dass er nicht zu Atomwaffen grei­fen wer­de: «So ist der Vladi, ein ewi­ger KGB-Bluffer.»

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass die­je­ni­gen, die im Ernst behaup­ten, Putin zu ver­ste­hen, end­lich etwas lei­ser tre­ten wür­den. Weil aus­ge­rech­net sie, die ande­re wider bes­se­res Wissen als «Putinversteher» abqua­li­fi­zie­ren, ihr kriegs­trei­be­ri­sches Handeln letzt­end­lich auf nichts ande­rem als auf ihrem «Putinverständnis» auf­bau­en – und es damit rechtfertigen.

Wer Putin wirk­lich ver­steht, soll vortreten.

Keiner, kei­ne.

Das ist das Putinversteher-Paradox.

 

P.S:

Der bes­te Putinversteher — zumin­dest im deutsch­spra­chi­gen Raum…

ZITAT BLICK: «Thumann ist der bes­te (sic!) Russlandkenner, zumin­dest im deutsch­spra­chi­gen Raum: Er stu­dier­te Geschichte, Politik und Slawistik in Berlin, New York, Sankt Petersburg und Moskau, wo er heu­te noch lebt und für die Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit» berichtet.»

Auge um Auge, Zahn um Zahn…

Nun ist also auch das letz­te Fünklein Hoffnung ver­löscht.  Kanzler Scholz ist ein­ge­knickt, Deutschland lie­fert also Kampfpanzer an die Ukraine. Die Eskalation erreicht damit eine neue Stufe – und schon schreit der ukrai­ni­sche Ex-Botschafter und aktu­el­le stell­ver­tre­ten­de Aussenminister Andrij Melnyk, Scharfmacher der ers­ten Stunde, nach Kampfjets…

Die Schraube wird mun­ter wei­ter­ge­dreht – immer schnel­ler. Auf den Kommandobrücken herrscht Durcheinander. Angeheizt mit erschre­cken­der Aggressivität von Chefredaktoren und Politiker:innen eins­ti­ger «Friedensparteien» wie den Grünen, aber auch von Sozialdemokrat:innen, rei­hen sich Viele ein in die Einheitsfront der Waffengläubigen und mar­schie­ren geis­tig los Richtung «Krieg für Frieden».

Laut kla­gen sie über Putin den Aggressor und die durch sei­nen Angriffskrieg ver­ur­sach­ten Gräuel und Kriegsverbrechen. Zu Recht – die­ser Krieg ist ein Horror. Doch wie kann man bloss auf den Gedanken kom­men, dass sich in der aktu­el­len Situation durch Waffenlieferungen irgend­et­was zum Besseren bewe­gen lässt?

Wer glaubt, dass mit ein paar zusätz­li­chen Kampfpanzern der Ukraine zum «Endsieg» ver­hol­fen und damit die «Freiheit und Demokratie» des Westens geret­tet wer­den kön­ne, ist sei­ner­seits ein Opfer von Kriegspropaganda – auf «unse­rer» Seite. Neue Waffen bedeu­ten im wenigst schlim­men Fall eine Zementierung der aktu­el­len Pattsituation im Kampfgebiet, sprich eine Fortsetzung von Zerstörung, Tod und Elend in der Ukraine.

Für die Bevölkerung in den bereits zer­bomb­ten und zer­stör­ten Regionen im Osten der Ukraine und auf der Krim ver­heisst das gar nichts Gutes.  Ganz zu schwei­gen von jenen, die es dank nicht enden­den Waffenlieferungen in den kom­men­den Wochen und Monaten zusätz­lich tref­fen wird. Und mitt­ler­wei­len sind wir alle Kriegspartei gewor­den: die Mitglieder der Nato und jene, die auf dem NATO-Zugtrittbrett mitfahren…

Mit sei­nen stän­dig neu­en und wei­ter gehen­den Zugeständnissen zur «Unterstützung» des Selenski-Regimes zün­delt der Westen aber auch auf sei­nem eige­nen Pulverfass in Richtung Moskau – in der nai­ven Hoffnung, dass Zar Putin sei­ne Waffen fal­len lässt und «sor­ry» sagt. Dass Politiker:innen uns alle blind­lings und befeu­ert durch die Mainstream-Medien  im 21. Jahrhundert der­art gezielt und sehen­den Auges  ins Verderben rei­ten, ist kaum zu glau­ben – wird aber Tag für Tag wahr­schein­li­cher. Fehlt nur noch die Volksbefragung bei uns: Wollt Ihr den tota­len Krieg?

Dabei gab es schon lan­ge vor Kriegsbeginn fun­dier­te Analysen und klu­ge Stimmen, die vor einer Entwicklung, wie wir sie heu­te erle­ben, gewarnt haben. Und es gibt sie nach wie vor – zuhauf. Das Problem ist ein­zig: Wie kön­nen wir ihnen Gehör ver­schaf­fen? Und der Vernunft zum Durchbruch ver­hel­fen? Es wäre der Bevölkerung und den Soldat:innen im Kriegsgebiet zu wün­schen, dass die Schlächtereien end­lich ein Ende haben. Die Menschheit hat wich­ti­ge­re Probleme auf die­sem Planeten zu lösen, als die Kriegsmaschine am Laufen zu halten.

Der ame­ri­ka­ni­sche Ökonom Jeffrey Sachs hat das Problem in einem Interview letz­te Woche auf den Punkt gebracht. Er for­dert Verhandlungen anstel­le von wei­te­ren Waffenlieferungen : «Wir brau­chen Diplomaten. Leider haben wir im Moment jedoch weder in Deutschland noch in den USA Diplomaten, weil die deut­sche Aussenministerin und der Staatssekretär der USA sich nicht für Diplomatie ein­set­zen, son­dern für den Krieg.»

 

P.S.

Das Resultat von 3000 Jahren «Frieden schaf­fen mit Waffen»:

Innerhalb von 48 Stunden Ende Januar 2023

 

 

Wer zu früh schreibt…

NZZ-Auslandchef Peter Rásony dürf­te heu­te nicht gera­de sei­nen bes­ten Tag gehabt haben. In gros­sen Lettern titel­te sein Blatt am 19. Januar 2023: «Greta Thunberg ver­rät ihr eige­nes jun­ges Lebenswerk» – und im Lead folgt die Begründung: «Die berühm­te Klimaaktivistin Greta Thunberg zieht den Schlamm des Kohleabbaus bei Lützerath dem Glanz des Weltwirtschaftsforums in Davos vor.»

Nur Stunden spä­ter ist sein Text Makulatur. Tatsache ist: Die bei­den Klimaaktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer sind direkt aus Lützerath kom­mend in Davos ein­ge­trof­fen. Um zusam­men mit Mitstreiterinnen im Rahmen eines CNBC-Panels ihren Aufruf für einen sofor­ti­gen Ausstieg aus den fos­si­len Energien zu bekräftigen.

Ein wohl­über­leg­ter, klu­ger Schachzug, der die «Analyse» von Rásony dumm aus­se­hen lässt. Dieser hat­te näm­lich in sei­nem Artikel mit fast rüh­ren­den Worten sei­nem Bedauern Ausdruck gege­ben, dass aus der «unschul­di­gen, um die Zukunft der Jugend besorg­ten Schülerin» eine Aktivistin gewor­den sei, die heu­te «Lützerath als Bühne für ihre Mission» wähle.

Dort, räso­niert Rásony wei­ter, wer­de fürs glo­ba­le Klima nichts gewon­nen. Wohingegen auf dem Parkett der Mächtigen in der Vergangenheit, nicht zuletzt dank der Klimajugend, «poli­ti­sche Weichenstellungen und wirt­schaft­li­che Investitionsentscheidungen zum Ausbau des Klimaschutzes von immenser Tragweite beschlos­sen» wor­den sei­en. Allerdings muss auch der NZZ-Redaktor ein­räu­men, dass die­se völ­lig unge­nü­gend sind. Und wünscht sich des­halb «mehr Einfluss Thunbergs auf die Mächtigen der Welt auf der gros­sen Bühne des WEF oder an den Klimakonferenzen.» 

Was er nicht begrif­fen hat: Ohne Klimastreik und dem dar­aus resul­tie­ren­den Druck von der Strasse, hät­te Greta Thunberg gar nie eine Einladung ans WEF erhal­ten. Sie hat kei­nes­wegs die Bühne gewech­selt – gute Aktivist:innen zeich­nen sich eben dadurch aus, dass sie ihre Mission agil und gescheit ver­tre­ten – mit den je nach Situation pro­ba­ten Mitteln. 

Die vier jun­gen Frauen haben heu­te ihren ein­stün­di­gen Auftritt am WEF jeden­falls genutzt und Klartext gespro­chen. Ihre Forderung ist so ein­fach wie radi­kal: Keine wei­te­ren Investitionen in fos­si­le Energien!

Es braucht einen raschen Ausstieg, ohne Wenn und Aber, das beto­nen nicht nur die vier Aktivistinnen auf dem Podium, unter­stützt wird ihre Forderung auch vom Direktor der Internationalen Energieagentur IEA, der eine Vervielfachung der Investitionen in grü­ne Energien for­dert, um den Umstieg zu beschleunigen.

Wie drin­gend Handeln gefor­dert ist, macht Klimaaktivistin Vanessa Nekate deut­lich: Mit ersti­cken­der Stimme erzählt sie von erschüt­tern­den Begegnungen in afri­ka­ni­schen Dörfern, wo Menschen infol­ge der zuneh­men­den Dürre ster­ben. Für die aktu­el­len Diskussionen zur Energiekrise fin­det sie deut­li­che Worte: Alles dre­he sich immer nur um die Befindlichkeit der rei­chen Länder des Westens. «Die dis­ku­tier­te Beschränkung auf 1,5 Grad Klimaerwärmung ver­mag viel­leicht Europa zu schüt­zen – es gibt aber Regionen in Afrika, wo schon 1,2 Grad Erwärmung kata­stro­pha­le Folgen haben.»

Die Vierte im Bunde, Helena Gualinga, unter­streicht die Forderung nach einer «gerech­ten Transformation». Der an der Klimakonferenz in Ägypten beschlos­se­ne Klimafonds zuguns­ten armer Länder sei bis­lang ein «lee­rer Korb», die Dringlichkeit der gefor­der­ten Massnahme spieg­le sich bis­her nicht in Massnahmen.

Eindrücklich, wie sach­lich die vier gut infor­mier­ten Frauen ihre Botschaft ver­tre­ten, wie gut sie argu­men­tie­ren – wie logisch und ein­deu­tig ihre Message ist. Trotzdem – oder gera­de des­halb – ist zu befürch­ten, dass auch die­ser Appell im Selenski-Sperrfeuer weit­ge­hend unge­hört verhallt.

Auf die Frage, wie es wei­ter­ge­hen soll, fasst Vanessa Nekate zusam­men: «Viele sagen, dass es uns braucht und loben unser Engagement – aber nur weni­ge schlies­sen sich uns an. Das ist frus­trie­rend.» Ihre drei Mitstreiterinnen stos­sen ins glei­che Horn. Luisa Neubauer betont, dass die Erfahrungen der letz­ten Tage in Lützerath, wo sich Landwirt:innen, Grosseltern — gan­ze Dorfgemeinschaften dem Protest ange­schlos­sen hät­ten, ermu­ti­gend gewe­sen seien.

Und Greta Thunberg bringt es noch­mals auf den Punkt: «Die Entwicklung geht mit Vollgas vor­an – aber in die fal­sche Richtung. Die Hoffnung, dass wir das stop­pen kön­nen, kommt von den Leuten, die sich unse­rer Bewegung anschlies­sen. Wir sind schon vie­le. Aber wir müs­sen vie­le vie­le mehr wer­den.…». Nicht wahr, Peter Ràsony?

 

 

Skiferien, Socken und Schokolade.… alles CO2-neutral!

Kürzlich benö­tig­te ich mal wie­der Socken. Selbstverständlich nicht irgend­wel­che Wegwerfsocken, schliess­lich ist frau ja sen­si­bi­li­siert. Ein siche­rer Wert für unbe­denk­li­che Einkäufe: Naturaline bei Coop. Die Socken im Gestell sind – Paar für Paar – fein säu­ber­lich an Kunststoffhaken auf­ge­hängt. Deren Recycling kann ich als auf­ge­klär­te Konsumentin gleich sel­ber im Coop über­neh­men, durch das Einwurfloch «Plastikflaschen», nach­dem ich die Sammelstelle im zwei­ten Untergeschoss gesucht und gefun­den habe. Soweit, so gut.

Bio & Fair steht auf der rezi­k­lier­ba­ren Etikette. Mehr noch: Das Produkt wur­de zu 100% fair pro­du­ziert, die Baumwolle stammt zu 100% aus Bioanbau und vor allem: Die Socken sind 100 % CO2-neu­tral. Da wird einem leicht gemacht, was der Slogan auf der Etikette auch noch sug­ge­riert: «Gut aus­se­hen und sich gut füh­len.» 100% rei­nes Konsument:innengewissen, also.

Das ist wun­der­bar: Klimaschutz beim Sockenkauf! Aber wie funk­tio­niert das über­haupt? Schliesslich fal­len ja ent­lang der gesam­ten Lieferkette – von der Baumwollproduktion auf dem Feld über die Herstellung der Socken (die nota­be­ne nebst Baumwolle auch Polyamid und Elasthan ent­hal­ten) bis zum Verkauf in der Filiale CO2-Emissionen an. Also wirk­lich 100% CO2-neutral?

Das Zauberwort heisst «Kompensation»… Auf der Coop-Website erfah­re ich, dass die CO2-Neutralität mei­ner Socken erkauft wur­de: «Für unver­meid­ba­re CO2-Emissionen haben wir eine Kompensationslösung gesucht und in unse­rer eige­nen tex­ti­len Lieferkette gefun­den. Durch den Bau von Biogasanlagen und effi­zi­en­ten Öfen in Indien und Tansania redu­zie­ren wir den Verbrauch von Feuerholz und kom­pen­sie­ren ent­stan­de­ne CO2-Emissionen direkt bei den Bio-Baumwollbauern.»

Keine Frage: Solche Projekte sind wich­tig und begrüs­sens­wert. Trotzdem: Das Label «CO2-neu­tral» sug­ge­riert etwas ande­res. Als Käuferin wird mir vor­ge­gau­kelt, dass ich nicht nur Socken, son­dern was immer mein Herz begehrt wei­ter­hin gren­zen­los kau­fen und kon­su­mie­ren kann – solan­ge es «kom­pen­siert» CO2-neu­tral ist.

Kein Wunder, hat der Begriff mitt­ler­wei­le Hochkonjunktur. Aktuell wer­ben etwa die St. Moritzer Bergbahnen mit dem schweiz­weit ers­ten «CO2-neu­tra­len» Schneesportangebot – was bei nähe­rer Betrachtung nicht viel mehr als ein bil­li­ger Werbegag ist. Dass aus­ge­rech­net eine Luxusdestination wie St. Moritz mit dem CO2-Label wirbt und gleich­zei­tig ein Geschäftsmodell betreibt, das sich weit­ge­hend um Energie- und Ressourcensparmassnahmen fou­tiert, ist aller­dings nicht wei­ter erstaun­lich: The Trend is your friend!

Vom Kuscheltier bis zum Flug auf die Malediven kann man heu­te – dank Kompensation – alles zum ver­meint­li­chen CO2-Nulltarif zu haben. Ein cle­ve­res Geschäftsmodell, denn wir Konsumierenden las­sen uns ger­ne ein­lul­len: Wenn Du mein Produkt kaufst, tust Du was fürs Klima. Also kauf ruhig, am bes­ten drei Stück, eines ist gratis!

Wer wirk­lich etwas für die Reduktion des CO2-Fussabdrucks tun will, kommt um die ernüch­tern­de Erkenntnis nicht her­um: CO2-neu­tral ist nur, was nicht pro­du­ziert, kon­su­miert und schliess­lich weg­ge­wor­fen wird. Mit dem blos­sen Label «CO2-neu­tral» hin­ge­gen gelangt kein Gramm Kohlendioxid weni­ger in die Atmosphäre. Im bes­ten Fall bleibt sich der Ausstoss gleich, «dank» Kompensation.

Bei der «Kosten-Nutzen-Berechnung» für Kompensationsleistungen stel­len sich jedoch zusätz­li­che Fragen. Wie kann es zum Beispiel sein, dass ich mich bei MyClimate etwa für einen Retourflug Zürich-Heraklion mit gera­de mal 20 Franken «neu­tral­kau­fen» kann. Dies, obschon ich dabei das Verpuffen von 0,7 Tonnen CO2 in die Atmosphäre verantworte.

Fakt ist: Soll der Klimawandel noch gestoppt wer­den, dürf­ten pro Person und Jahr welt­weit höchs­tens 0,6 Tonnen CO2 aus­ge­stos­sen wer­den. In der Schweiz ver­ur­sacht eine Person im Durchschnitt über 8 Tonnen CO2 (ohne Flüge) – davon kann man sich bei MyClimate mit 228 Franken im Jahr frei­kau­fen. – Irgendwie geht die­se Rechnung nicht auf.

Und ich fra­ge mich, ob es für mein Gewissen und vor allem fürs Klima nicht bes­ser ist, wenn ich mir beim nächs­ten Mal kli­ma­fol­gen­aus­ser­acht­las­sen­de Socken kau­fe, qua­li­ta­tiv hoch­ste­hen­de, die ich bei Bedarf auch stop­fen kann…

Kleine Überraschung

Altjahreswoche. Ich habe mich mit einer Freundin zu einem Museumsbesuch ver­ab­re­det. Ein paar Minuten zu früh am Bahnhof, gibt’s noch einen Abstecher zur Buchhandlung Orell Füssli. Wo mir von einem Gestell gleich neben dem Eingang eine klei­ne Metalldose ins Auge sticht. Die Aufschrift hat mich auf der Stelle ver­führt: «POWERBOOST für Powerfrauen».

Was für ein hüb­sches Geschenk! Nicht unbe­dingt lebens­not­wen­dig und schon gar kei­ne höhe­re Literatur, aber wit­zig: Die hand­li­che Schachtel ent­hält zwei Dutzend Kärtchen mit Sprüchen und Zitaten für Motivation und Schwung im Alltag. Herausgegeben von einem deut­schen Verlag.

Die Zeit läuft, der Zug fährt bald. Ich wer­fe einen flüch­ti­gen Blick auf die auf der Rückseite auf­ge­kleb­te Preisetikette – CHF 11.90. Ziemlich teu­er, für eine klei­ne Überraschung – aber egal. Ich eile zur Kasse, zah­le und ste­cke die Dose ein. Um sie ein paar Minuten spä­ter im Zug wie­der aus mei­ner Tasche zu zie­hen: Schliesslich han­delt es sich um ein Geschenk, also muss das Preisschild weg.

Der Kleber ist schnell ent­fernt. Darunter befin­det sich aller­dings, auf die Schachtel auf­ge­druckt, ein wei­te­res Schild – mit der «unver­bind­li­chen Preisempfehlung: 6.00 Euro». – Super, und ich habe soeben den dop­pel­ten Preis bezahlt! Ein tol­ler Booster für die Powerfrau…

Zwei Tage spä­ter in mei­ner Lieblingsbuchhandlung Nievergelt in Zürich-Oerlikon: In der Hoffnung auf neue, opti­mis­ti­sche­re Impulse erste­he ich den Wälzer «Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit» von David Graeber und David Wengrow. Die deut­sche Ausgabe ist im Klett-Cotta Verlag erschie­nen und kos­tet bei Nievergelt CHF 39.90

Nach dem Powerbooster-Erlebnis kann ich es nicht las­sen und knüb­le, sobald ich zuhau­se auf dem Sofa sit­ze, und noch bevor ich das Buch über­haupt auf­schla­ge, das Preisschild weg. Und sie­he da: Der auf­ge­druck­te Preis beträgt in die­sem Fall 28 Euro. Angesichts des aktu­el­len Wechselkurses von 98,5 Rappen für einen Euro habe ich auch hier glat­te CHF 12.30 mehr bezahlt als vom Verlag bestimmt. Aufpreis: 44 Prozent!

Dass wir in der Schweiz für vie­le Waren, nament­lich auch für Bücher, mehr bezah­len als in Deutschland, ist teil­wei­se ok. Schliesslich müs­sen die Buchhändler:innen in der Schweiz auch mehr ver­die­nen als in den Nachbarländern, um über­le­ben zu kön­nen. Aber trotz­dem: Sind solch enor­me Preisunterschiede wirk­lich gerechtfertigt?

Nun will ich es genau wis­sen und recher­chie­re noch ein wenig wei­ter: Hätte ich «Anfänge» bei Amazon bestellt (was ich NIEMALS tun wür­de!!!), wäre ich mit 26.82 Euro am güns­tigs­ten weg­ge­kom­men. Bei Orell Füssli hin­ge­gen – der mit 46 Filialen gröss­ten Buchhandelskette in der Schweiz – kos­tet das glei­che Buch sage und schrei­be CHF 42.90!

Da stellt sich mir in der frei­en Schweizer Marktwirtschaft noch die Frage, deren Antwort wohl ein streng gehü­te­tes Geheimnis bleibt: Wer – wie Orell Füssli – gros­se Mengen ein­kauft und umsetzt, kriegt bei der Beschaffung güns­ti­ge Grosshandelspreise. Womit die Orell Füssli Bruttomarge noch atem­be­rau­ben­der wäre…

Was mich in mei­ner bis­he­ri­gen Haltung bestärkt: Ich wer­de mei­ne Lektüre wei­ter­hin in unse­rer Quartierbuchhandlung bezie­hen. Und wenn ich nach Deutschland fah­re, ver­su­che ich – egal ob in Eisenach, Berlin oder Bamberg – vor den Schaufenstern ein­la­den­der, ver­füh­re­ri­scher Buchläden der Versuchung zu wider­ste­he, mein Köfferchen mit 40 Prozent bil­li­ge­ren Büchern zu fül­len. Was jedoch nicht heisst, dass ich gänz­lich auf das Stöbern in «frem­den Buchhandlungen» und auf Reisesouvenirs in Buchform verzichte…

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