«Wie lange bist du schon in der Schweiz?»

Sams­tag­mor­gen in Oer­li­kon. Ein paar Son­nen­strah­len bre­chen durch die Wol­ken. Schlan­gen bil­den sich an den Markt­stän­den, woran wir uns mitt­ler­weile gewöhnt haben: Das Gedränge von einst ist Geschichte, jetzt ste­hen wir brav in Reih und Glied. Mit und ohne Mas­ken­schutz. Es hat von allem mehr als genug. Die sprich­wört­li­che Ent­schleu­ni­gung funk­tio­niert immer noch, es gibt viel zu sehen und zu hören. Gefühl, Zeit zu ver­lie­ren? Über­haupt nicht.

«Unsere Gra­ven­stei­ner sind die besten!» ruft ein etwa zehn­jäh­ri­ger Bau­ern­sohn einem Kun­den hin­ter­her. Aller­dings bleibt er den Beweis schul­dig. Glusch­tig gemacht durch diese Ankün­di­gung würde ich ihm gerne wel­che abkau­fen – geht lei­der nicht: «Heute haben wir keine dabei – aber die ande­ren Äpfel sind auch fein», lau­tet seine flinke Ant­wort auf meine Bestellung.

Gross­ein­kauf beim Käser aus dem Emmen­tal: Wir haben uns seit sei­ner Rück­kehr von der Alp gar noch nicht gespro­chen, da gibt es auch eini­ges zu erzäh­len. Anschlies­send Salat, Gemüse, Fel­chen aus dem Zürich­see und eine Sonntagszüpfe.

Ein schö­ner Märit­spa­zier­gang. Dann aber plötz­lich ein ver­stö­ren­des Erleb­nis: An der Ecke zum Coop steht, eben­falls wie jeden Sams­tag, die junge, dun­kel­häu­tige Zeit­schrif­ten­ver­käu­fe­rin und ver­sucht, ihr Sur­prise-Maga­zin mit wohl bereits hun­dert­fach wie­der­hol­tem Mor­gen­gruss freund­lich an die Leute zu brin­gen. Ein älte­rer Mann, Typ Schwei­zer aus dem SVP-Fest­zelt, in Turn­schu­hen, geht forsch auf sie zu und bleibt zwei Meter vor ihr ste­hen. «Wie lange bist du schon in der Schweiz?» hören wir ihn forsch und frech fra­gen. Unter dem Laden­ein­gang ste­hend dre­hen wir uns um. Warum nur duzt er diese Frau, die er nicht kennt! Geht’s noch???

«Sie­ben Jahre», ant­wor­tet die Frau mit einem scheuen, freund­li­chen Lächeln. «Und, wie geht es mit der Spra­che, kannst du Deutsch?» fragt der andere wei­ter und lässt ihr nicht ein­mal die Zeit, etwas zu sagen. Sie deu­tet bloss an, dass das nicht ein­fach sei. «Du musst fleis­sig Deutsch ler­nen», fährt der Urein­woh­ner­schwei­zer unge­fragt fort. «Jeden Tag ein neues Wort – dann fin­dest du viel­leicht auch ein­mal eine Arbeit! – Und dein Mann, ist der auch hier…?»

Wir schauen uns an, etwas rat­los. Soll ich inter­ve­nie­ren? Es juckt mich – und dann tue ich es doch nicht. Wir las­sen die bei­den ste­hen und betre­ten den Laden, für unsere rest­li­chen Ein­käufe. Als wir wie­der raus­kom­men ist er weg.

Ein scha­les Gefühl bleibt zurück. Und eine leise Wut auf mich sel­ber, dass ich nicht reagiert habe. Erst auf dem Heim­weg die Gewiss­heit, was wir hät­ten tun sol­len: Ein­fach auf die Frau zuge­hen und ihr wie­der ein­mal ein Sur­prise abkau­fen. Und dem Unver­schäm­ten die Lek­türe des Maga­zins wärm­stens empfehlen…

Schade, haben wir das ver­passt! Viel­leicht hätte uns der unbe­kannte Schwei­zer erzählt, dass er eigent­lich Öster­rei­cher ist, seit 42 Jah­ren in der Schweiz und Bezü­ger einer klei­nen AHV-Rente mit Ergän­zungs­lei­stun­gen. Das würde sein Ver­hal­ten nicht ent­schul­di­gen, aber ein klein wenig erklä­ren, wes­halb zuneh­mend auch eine INVY*-Virusvariante in unse­rer Gesell­schaft grassiert. 

Das näch­ste Mal mehr Zivil­cou­rage, nehme ich mir vor – als klit­ze­klei­ner Bei­trag für mehr Respekt und Mit­ein­an­der, auch rund um den far­big­fröh­li­chen Markt in Oerlikon.

(*WHO: eng­lisch für Neid)

Zurück im «richtigen Leben»

Der QR-Code auf dem Handy macht eini­ges mög­lich, auf das wir im letz­ten Win­ter ver­zich­ten muss­ten. Zumin­dest vor­läu­fig. Also nut­zen wir die Gunst der Stunde! Auf zum Kul­tur­ge­nuss – mit Zer­ti­fi­kat regu­lär und light, das Handy mit prall gefüll­tem Akku auf Spar­funk­tion gesetzt, die Hand­ge­lenke bereit für far­bige Bän­deli und den Per­so­nal­aus­weis jeder­zeit griff­be­reit zur Hand. 

So rich­tig in Schwung scheint die Rück­kehr ins «rich­tige Leben» jedoch nicht zu kom­men. Ob es an den wei­ter­hin bestehen­den Kon­troll-Hür­den liegt oder an der Bequem­lich­keit der Men­schen, die sich end­gül­tig auf dem Sofa ein­ge­ni­stet haben, weil ihnen Pan­tof­fel­kino und Net­flix mitt­ler­weile voll genü­gen? Oder weil man sich ver­mehrt orga­ni­sie­ren, zer­ti­fi­zie­ren, testen und vor­anmel­den muss?

Auf alle Fälle hät­ten wir uns die früh­zei­tige online Reser­va­tion vor unse­rem Kino­be­such kürz­lich erspa­ren kön­nen: Wir waren und blie­ben die ein­zi­gen Gäste in besag­ter Vor­abend­vor­stel­lung und hat­ten den gan­zen Kino­saal für uns allein. Der Film auf der gros­sen Lein­wand war eine wohl­tu­ende Abwechs­lung zum übli­chen Com­pu­ter- und Fern­seh­kon­sum – wir haben das in vol­len Zügen genos­sen, unbe­hel­ligt von Pop­korn­knus­pe­rern hin­ter uns und ver­lieb­ten Ele­fanten­pär­chen vor uns. Aller­dings war das schon eine etwas ein­same Licht­spiel­um­ge­bung. Wir haben uns die bange Frage gestellt, ob das nun der Anfang vom defi­ni­ti­ven Ende der einst so erfolg­rei­chen Kino­kul­tur sei.

Ganz anders letzte Woche werk­tags im Kunst­mu­seum Basel: Die nicht arbei­tende Kunst­lieb­ha­be­rIn­nen­schar stand vor dem Desk in der Ein­gangs­halle Schlange, um das Zer­ti­fi­kat vor­zu­wei­sen. Die mas­kier­ten Muse­ums­mit­ar­bei­te­rIn­nen, mal vor, mal hin­ter einer Ple­xi­glas­scheibe, schos­sen um die Wette die prä­sen­tier­ten QR-Codes ab und war­fen einen pflicht­be­wuss­ten Blick auf die ID, bevor sie der Besu­che­rin, dem Besu­cher ein blaues Papier­arm­band aus­hän­digte. Erst danach konnte man wei­ter zur Kasse und schliess­lich bis in die Aus­stel­lungs­räume vor­drin­gen. Beglei­tet von mah­nen­den Pla­ka­ten die – trotz obli­ga­to­ri­schem Zer­ti­fi­kat – dazu auf­for­der­ten, «frei­wil­lig» Maske zu tragen.

Die präch­ti­gen Piss­arro-Bil­der lock­ten Besu­che­rin­nen und Besu­cher in Scha­ren, sogar mit­ten in der Woche. Und plötz­lich ist wie­der Rea­li­tät, wor­auf man eigent­lich wei­ter­hin gerne ver­zich­tet hätte: Rück­sichts­los vor den Bil­dern durch­schlän­gelnde Mit­men­schen, mit­ten im Raum mit lau­ter Stimme dis­ku­tie­rende Rent­ne­rIn­nen und mit dem Handy hek­tisch her­um­fo­to­gra­fie­rende Tro­phä­en­jä­ge­rIn­nen, denen offen­bar das lang ver­misste reale Kunst­er­leb­nis im Hier und Jetzt doch nicht genügt…

Warum sich dar­auf beschrän­ken, bloss den Augen­blick zu genies­sen, wenn man das Gebo­tene ein­fan­gen und auf dem Heim­weg mit der Ver­wandt­schaft die Bil­der von Bil­dern im Museum tei­len kann, die jene ihrer­seits bereits vor einer Woche gese­hen, geknipst und im Freun­des­kreis her­um­ge­bo­ten haben? Das gilt heut­zu­tage lei­der nicht nur für Bil­der in Museen, auch soge­nannte Musik­lieb­ha­be­rIn­nen ken­nen dies­be­züg­lich keine Scham.

Unser gest­ri­ger Kon­zert­be­such war dies­be­züg­lich ein beson­ders ärger­li­cher Tief­schlag: Ein über­sicht­li­cher Saal, rund 70 Anwe­sende, auf der Bühne ein Quin­tett, sephar­di­sche und spa­ni­sche Musik, gespielt mit alten Instru­men­ten, ohne Ver­stär­kung – das ver­spricht inti­men, berüh­ren­den Musik­ge­nuss. Doch lei­der weit gefehlt: Kaum erhebt der Sän­ger seine Stimme, greift die Har­fen­spie­le­rin in die Sai­ten, schies­sen rundum Han­dys in die Höhe, Fin­ger tip­pen auf rot leuch­tende Stopp- und Play-Tasten… Mehr noch: Da wird genu­schelt, gefuch­telt, gera­schelt und kom­men­tiert was das Zeug hält. Ein­ein­halb Stun­den Ein­tau­chen in die fei­nen Klänge der mit­tel­al­ter­li­chen Musik und sich dem Genies­sen hin­ge­ben ist unter sol­chen Umstän­den ein Ding der Unmög­lich­keit. Also am Ende des Kon­zerts die CD kau­fen und das Kon­zert daheim auf dem Sofa in Ruhe genies­sen? – Ist das die Quint­essenz aus der lang­ersehn­ten Rück­kehr ins «rich­tige Leben»?

Stopp dem Wachstumswahn!

Wach­sen, wach­sen und ver­dich­ten. – In der Stadt Zürich scheint der Bau­wahn keine Gren­zen zu ken­nen. Fast uni­sono wer­ben sonst ver­nünf­tige Zeit­ge­nos­sIn­nen aktu­ell für eine Abstim­mungs-Vor­lage, die in dia­me­tra­lem Wider­spruch steht zu den Anfor­de­run­gen an eine lebens­werte und men­schen­freund­li­che Stadt. Und des­halb drin­gend abge­lehnt wer­den müsste.

Lei­der wird es anders kom­men. Dies nicht zuletzt, weil die Stadt­re­gie­rung fürs Abstim­mungs­wo­chen­ende vom 28. Novem­ber ein hin­ter­li­sti­ges Päckli geschnürt hat: Sie legt der stimm­be­rech­tig­ten Bevöl­ke­rung der Stadt Zürich gleich zwei Richt­pläne zur Abstim­mung vor – zwei Vor­la­gen mit unter­schied­li­cher Stoss­rich­tung, die sie und (prak­tisch alle) Par­teien als ein­ei­iges Zwil­lings­paar promoten.

Beim einen Richt­plan geht es um die Revi­sion der heute gül­ti­gen Pla­nungs­grund­lage für den Ver­kehr. Sie stammt aus dem Jahr 2004 und muss drin­gend den Bedürf­nis­sen der heu­ti­gen Zeit ange­passt wer­den. Das heisst etwa: Kon­se­quente Fokus­sie­rung und För­de­rung von nach­hal­ti­gen Mobi­li­täts­for­men wie Fuss- und Vel­over­kehr, Reduk­tion des moto­ri­sier­ten Individualverkehrs.

Die Vor­lage trägt den Anfor­de­run­gen an eine zeit­ge­mässe Ver­kehrs- und Mobi­li­täts­pla­nung weit­ge­hend Rech­nung. So soll etwa der moto­ri­sierte Indi­vi­du­al­ver­kehr künf­tig auf soge­nann­ten Sam­mel­stras­sen gebün­delt wer­den. Auf kom­mu­na­len Stras­sen gilt grund­sätz­lich Tempo 30, Stras­sen­park­plätze sol­len dra­stisch redu­ziert wer­den, um «zusätz­li­chen Raum für Fuss‑, Velo- und öffent­li­chen Ver­kehr sowie hit­ze­min­dernde Mass­nah­men zu schaffen.»

Das sind wich­tige Vor­aus­set­zun­gen für eine Mobi­li­täts­ent­wick­lung, die auf die Her­aus­for­de­run­gen von Kli­ma­wan­del und schwin­den­den Res­sour­cen reagiert. Des­halb werde ich für diese Vor­lage – ohne Wenn und Aber – ein JA in die Urne legen.

Dies, obschon auch diese Vor­lage auf längst über­hol­ten Wachs­tums­fan­ta­sien basiert und zum Bei­spiel eine starke Zunahme des Wirt­schafts- und Güter­ver­kehrs in Aus­sicht stellt. Offen­sicht­lich sind die Eltern der Richt­plan-Zwil­linge – sprich die rot-grüne Zür­cher Stadt­re­gie­rung – noch nicht im 21. Jahr­hun­dert ange­kom­men. Sie träu­men wei­ter­hin vom unauf­hör­li­chem Wachs­tum, oder gehen zumin­dest davon aus, dass die­ses sowohl natur­ge­ge­ben wie erstre­bens­wert sei und nur von Gutem für die Menschheit. 

Der Cha­rak­ter des zwei­ten Richt­plan-Zwil­lings mit dem schö­nen Namen «Kom­mu­na­ler Richt­plan Sied­lung, Land­schaft, öffent­li­che Bau­ten und Anla­gen» ist durch und durch von die­ser Wachs­tums­eu­pho­rie geprägt.

In der Stadt Zürich leben heute 75’000 Ein­woh­ne­rIn­nen mehr als noch vor 20 Jah­ren. Gemäss den in den Abstim­mungs­un­ter­la­gen zitier­ten Pro­gno­sen könnte sich die Bevöl­ke­rungs­zahl von heute 435’000 in den kom­men­den 20 Jah­ren um wei­tere 80’000 auf 515’000 erhö­hen. Die Fol­gen die­ses Wachs­tums wer­den wie folgt umschrie­ben: «Der Bedarf an Woh­nun­gen, öffent­li­chen Bau­ten und Frei­räu­men würde stei­gen. Auch die Anzahl Arbeits­plätze könnte zuneh­men. Dafür wird inner­halb der Stadt­gren­zen Raum benötigt.»

Des­halb will die Stadt­re­gie­rung noch stär­ker, als dies bereits heute der Fall ist, mit dem neuen Richt­plan ver­dich­ten und zudem die Mög­lich­keit schaf­fen, zusätz­li­che (Grün-)Flächen zu über­bauen. Zwar ent­hält die aktu­elle Bau­zo­nen­ord­nung Reser­ven zur Schaf­fung von Wohn­raum für sage und schreibe wei­tere 260’000 Per­so­nen. Doch damit nicht genug! Mit dem neuen Richt­plan sol­len diese Reser­ven noch­mals mar­kant ver­grös­sert werden.

Das ist nichts ande­res als ein Frei­pass für die wei­tere Ver­be­to­nie­rung der Stadt, die heute schon viel von ihrem ein­sti­gen Charme ver­lo­ren hat. Über­hitzte Immo­bi­li­en­preise und unstill­ba­rer Pro­fit­hun­ger haben bereits in der Ver­gan­gen­heit zu unsen­si­blen Ver­dich­tun­gen und Zer­stö­rung von Lebens­qua­li­tät in vie­len Quar­tie­ren geführt. Mit dem neuen Richt­plan würde diese Poli­tik nicht nur fort­ge­setzt, son­dern wei­ter verstärkt. 

Dar­auf gibt es nur eine Ant­wort: NEIN!

Lei­der haben das jedoch die mei­sten rot-grü­nen Poli­ti­ke­rIn­nen bis­her über­se­hen. Sogar der kli­ma­be­wegte Jung­po­li­ti­ker Domi­nik Waser, der als Stadt­rat für die Grü­nen kan­di­diert, wie auch anson­sten pro­gres­sive Orga­ni­sa­tio­nen wie umver­kehR, wer­ben fleis­sig für ein dop­pel­tes Richt­plan-JA – und win­ken den Beton-Zwil­ling ein­fach durch.

Ganz anders die kleine Par­la­ments­gruppe der EVP. Sie scheint als ein­zige Par­tei erkannt zu haben, um was es geht. Ihr Argu­ment ist über­zeu­gend: «Nein zu einer mass­lo­sen und grün ver­schlei­er­ten Ver­dich­tung. Beton bleibt Beton, auch wenn er grün gestri­chen wird.»

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