Skip to content

GABRIELA NEUHAUS

35 Zeilen zum Lauf der Welt

35 Zeilen zum Lauf der Welt

Überraschende Zusammenhänge

Wie­der musste ich auf unse­rem Nach­mit­tags­spa­zier­gang mein Handy zücken. Dies­mal keine erhal­tens­werte Stadt­villa, die dem Erd­bo­den gleich­ge­macht wer­den soll – nein, heute ist eine ganze Wohn­sied­lung an der Reihe. Vom Typus Genos­sen­schafts­sied­lung aus den 1950er Jah­ren. Mini­mal unter­hal­ten, wohl um deren Abriss und die Errich­tung von ver­dich­te­ten «Ersatz­neu­bau­ten» zu rechtfertigen.

Aber hoppla: Hier han­delt es sich nicht um eine Genos­sen­schafts­sied­lung, die Wohn­häu­ser gehö­ren einer Pen­si­ons­kasse. Diese will sämt­li­che 250 Woh­nun­gen dem Erd­bo­den gleich­ma­chen. Alle Mieter:innen erhiel­ten die Kün­di­gung, sie haben bis Sep­tem­ber 2025 Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen.

Die geplante Neu­über­bau­ung mit dem idyl­li­schen Namen «Gar­ten­stadt Köschen­rüti» soll Ende 2028 bezugs­be­reit sein und 300 Woh­nun­gen umfas­sen. Die Mie­ten «wer­den sich im Rah­men der Markt­mie­ten in Zürich See­bach bewe­gen», stellt die Bau­herr­schaft in Aussicht.

Im Klar­text: Die heute ver­gleichs­weise gün­sti­gen Woh­nun­gen wer­den durch teu­ren Wohn­raum ersetzt. In der Über­bau­ung ist nicht ein­mal ein mini­ma­ler Pro­zent­satz an Woh­nun­gen zur Kosten­miete vor­ge­se­hen – die pri­vate Bau­herr­schaft hat freie Hand zur Profitmaximierung…

Viel mehr als ein paar nichts­sa­gende Visua­li­sie­run­gen nach alt­be­kann­tem Strick­mu­ster ist bis­lang über die Neu­bau­ten nicht in Erfah­rung zu brin­gen. Für deren Archi­tek­tur zeich­net das Büro Fie­der­ling Haber­sang Archi­tek­ten ver­ant­wort­lich – zwei Archi­tek­ten aus Deutsch­land, die sich in Zürich nie­der­ge­las­sen haben.

Laut Bau­ge­such sol­len auf dem gut 2,5 Hektar gros­sen Areal neun Wohn­häu­ser mit zwei Tief­ga­ra­gen für 112 Autos sowie 21 Auto­ab­stell­plät­zen im Freien erstellt wer­den. Ein­ge­reicht wurde das Bau­ge­such von der All­real AG, einem Unter­neh­men, des­sen Wur­zeln auf den Bührle-Rüstungs­kon­zern zurückgehen.

Auch die Bau­herr­schaft sel­ber hat enge, sogar aktu­elle Bande zum Kriegs­ge­schäft: Das gesamte Areal mit den Wohn­häu­sern gehört der Pen­si­ons­kasse Rheinmetall.

Die Schwei­zer Toch­ter des deut­schen Rüstungs­gi­gan­ten, des­sen Gewinne seit dem Ukrai­ne­krieg durch die Decke gehen, hat ihren Haupt­sitz an der Birch­strasse 155 in Oer­li­kon, gerade mal 1,5 Kilo­me­ter von der Köschen­rüti-Sied­lung ent­fernt – mit­ten in der Stadt. Dort, wo einst Bührle seine Kano­nen­fa­brik gebaut hat, die seine Erb:innen 1999 an den deut­schen Rüstungs­kon­zern ver­kauft haben.

Noch vor ein paar Jah­ren war die Rede davon, dass Rhein­me­tall die Stadt Zürich ver­las­sen wolle und das gesamte Kriegs-Indu­strie-Areal frei werde für eine Umnut­zung zu attrak­ti­vem Wohn- und Lebensraum.

Das Gegen­teil ist ein­ge­tre­ten: Das rie­sige Areal an der Kreu­zung Birch­strasse-Binz­müh­le­strasse dient wei­ter­hin der Rüstungs­pro­duk­tion – mehr noch: Diese wird jetzt sogar noch hoch­ge­fah­ren! Allein im ver­gan­ge­nen Jahr hat die Rhein­me­tall Air Defence AG 300 neue Stel­len geschaf­fen Das Spek­trum rei­che von der Buch­hal­te­rin bis zum Inge­nieur, wie deren CEO Oli­ver Dürr gegen­über der NZZ erklärte.

Grund dafür ist der aktu­elle Ver­kaufs­schla­ger, den die Schwei­zer Rhein­me­tall-Toch­ter in Oer­li­kon ent­wickelt hat: Der «Sky­ran­ger 30» ist das jüng­ste Kind der «Sky­ran­ger-Fami­lie – die All-in-Online-Lösung für die drin­gen­den Bedürf­nisse von heute», wie es auf der Kon­zern­web­site heisst .

Die High-Tech-Kriegs­ge­räte wer­den aber nicht nur mit­ten in Oer­li­kon pro­du­ziert, Rhein­me­tall miss­braucht – ganz in alter Bührle-Tra­di­tion – auch den Namen unse­res Stadt­teils als Label für ihr Kriegs­ge­rät «OERLIKON SKYRANGER®».

Die Schlag­kraft des «Sky­ran­ger 30» wurde im Herbst 2024 anläss­lich einer Promo-Ver­an­stal­tung einer hand­ver­le­se­nen inter­na­tio­na­len Kund­schaft vor­ge­führt – auf «neu­tra­lem» Schwy­zer (Ochsen-)Boden. Das idyl­lisch gele­gene Gebiet – 1952 vom VBS an die Bührle-Kano­nen­schmiede ver­kauft – dient heute der Rhein­me­tall als Test­ge­lände für deren Kriegs­ma­schi­nen. «Die Begei­ste­rung war rie­sig, viele Natio­nen sind am Sky­ran­ger inter­es­siert und wol­len bestel­len», liess sich der Schwei­zer Rhein­me­tall-CEO Dürr in der NZZ zitie­ren. Als erstes habe Öster­reich einen Seri­en­auf­trag erteilt, gefolgt von Deutsch­land und Dänemark.

Auf­grund der Mil­li­ar­den-Auf­träge soll die Pro­duk­tion in Oer­li­kon nun wei­ter hoch­ge­fah­ren wer­den: Der «Sky­ran­ger 30» habe Seri­en­reife erlangt, erklärte der Lei­ter Mon­tage, Inte­gra­tion und Test der Rhein­me­tall Air Defence AG im Novem­ber 2024 gegen­über der NZZ. Das Ziel sei, ab Ende 2025 Sky­ran­ger-Flug­ab­wehr-Türme im Wochen­rhyth­mus aus­zu­lie­fern. Bei einem Stück­preis von über einer hal­ben Mil­lion Euro ein Riesengeschäft.

Im Gleich­schritt mit der Ver­kaufs- und Pro­duk­ti­ons­ab­tei­lung rüstet auch die Schwei­zer Rhein­me­tall Pen­si­ons­kasse ihre Per­for­mance auf: 2023 lag sie mit einer Gesamt­ren­dite von 7,4 Pro­zent deut­lich über dem Schwei­zer Durch­schnitt. Mass­geb­lich zu die­sem Ergeb­nis bei­getra­gen haben «die Lie­gen­schaf­ten mit einer Ren­dite von 8,4 Pro­zent», wie im Jah­res­be­richt 2023 nach­zu­le­sen ist.

Mit ihren 300 neuen Miet­woh­nun­gen in der «Gar­ten­stadt Köschen­rüti» wird die Pen­si­ons­kasse künf­tig noch höhere Pro­fite ein­fah­ren: Die Markt­mie­ten in Zürich stei­gen unge­bremst wei­ter – nicht zuletzt «dank» dem brum­men­den Kriegs­ge­schäft von Rheinmetall…

Zerstörungswut

Und plötz­lich sind sie weg… Das Unheil kün­digt sich schon Monate, zuwei­len Jahre im Vor­aus an. In Form von Bau­pro­fi­len in Vor­gär­ten und auf Dächern von schmucken und statt­li­chen Stadt­häu­sern, bei deren Anblick nie­mand mit gesun­dem Men­schen­ver­stand auf die Idee kom­men würde, sie abzureissen.

In der Regel sind nach ein paar Wochen die Pro­file weg, das Leben geht wei­ter. Und dann Schlag auf Schlag: Das Krei­schen der Ket­ten­säge. Der Baum­be­stand im Gar­ten, wäh­rend Jahr­zehn­ten her­an­ge­wach­sen, wird innert Stun­den abgeholzt.

Und wei­ter geht es, immer nach der glei­chen Methode: Um das Gelände herum ein Bau­zaun, in der Regel ver­sperrt er Sicht und Weg weit über das Grund­stück hin­aus, bis in den Stras­sen­raum. Dahin­ter fah­ren die Bag­ger auf – innert kür­ze­ster Zeit zer­stö­ren sie mit hydrau­lisch-bar­ba­ri­scher Gewalt ein bewohn­ba­res Haus, das wäh­rend Jahr­zehn­ten prä­gen­der Bestand­teil des Quar­tiers war.

Jüng­stes Bei­spiel heute Mor­gen ent­deckt, auf dem dank Son­nen­schein etwas aus­ge­dehn­te­ren Heim­weg vom Sams­tags­markt. Schock und Wut: Anstelle der edlen Villa an der Regens­berg­strasse 156 klafft ein Loch – das Haus, das alles andere als eine in die Jahre gekom­mene Ruine war, ist nicht mehr…

Ange­kün­digt hatte sich die­ser Abriss bereits im Som­mer 2023, als im Vil­len­gar­ten plötz­lich Bau­pro­file stan­den. Die Stadt hat dem geplan­ten «Ersatz­neu­bau» (ein Ren­di­te­ob­jekt mit 15 Eigen­tums­woh­nun­gen auf 5 Stock­wer­ken) im zwei­ten Anlauf die Bau­be­wil­li­gung erteilt, mit der Fest­stel­lung, die Aus­nüt­zung sei um 40 m2 zu hoch.

Ein­spra­chen und Rekurse der Nach­bar­schaft haben nichts genützt: Die For­leo Immo­bi­lien und Ent­wick­lungs AG, wel­che Eigen­tü­me­rin der Par­zelle ist, hat von den Zür­cher Behör­den grü­nes Licht erhal­ten für die Zer­stö­rung der schö­nen Villa und den Bau eines neuen Blocks, der mit sei­ner Kuba­tur und Masse nicht ins Quar­tier passt und des­sen Charme zer­stört. Über diese Tat­sa­che kann auch die raf­fi­nier­te­ste Visua­li­sie­rung nicht hinwegtäuschen.

Hinzu kommt, dass mit der Aus­nüt­zung der gesam­ten Par­zelle bis auf den letz­ten Qua­drat­zen­ti­me­ter (und in die­sem Fall sogar noch dar­über hin­aus) wert­vol­ler Grün­raum ver­be­to­niert und ver­sie­gelt wird. Der einst gross­zü­gige Gar­ten der Villa ver­schwin­det auf alle Zeit.

Stadt­grün Zürich gibt Mil­lio­nen aus, um in der gan­zen Stadt neue Grün­flä­chen im Brief­mar­ken­for­mat anzu­le­gen und magere Bäum­chen in Asphalt­wü­sten zu stecken. Doch all die teu­ren Mass­nah­men kön­nen den Sub­stanz­ver­lust durch die vie­len zer­stör­ten Pri­vat­gär­ten nicht kom­pen­sie­ren. Die Abnahme der Kro­nen­flä­che in der Stadt Zürich betrug allein im Zeit­raum 2018 bis 2022 rund 94 Hektaren. Und es geht weiter…

Auf der Web­site des Pro­jekts an der Regen­bs­berg­strasse 156, mit der die Immo­bi­li­en­firma ihren Neu­bau anpreist, lässt des­sen Archi­tekt Andreas Gaba­t­huler ver­lau­ten, weil die Bau­ord­nung heute mehr Volu­men zulasse, sei es nicht ver­wun­der­lich, «dass ältere Lie­gen­schaf­ten mit ver­gleichs­weise gros­sem Grund­stück nicht mehr auf­wen­dig reno­viert wer­den, um die heu­ti­gen Anfor­de­run­gen zu erfül­len, son­dern durch Neu­bau­ten mit zeit­ge­mäs­sen Woh­nun­gen ersetzt wer­den. So ent­steht Stadt, wo frü­her ein Dorf war.»

Mit Ver­laub: Mit dem Abriss einer histo­ri­schen Stadt­villa wird hier ohne Not ein Stück Stadt ver­nich­tet. Die unge­brem­ste Zer­stö­rung von bestehen­der, soli­der Bau­sub­stanz und Grün­räu­men wider­spricht den heu­ti­gen Anfor­de­run­gen an kli­ma­ge­rech­tes Bauen – auch wenn pro­fit­ori­en­tierte Bau­herr­schaf­ten bis heute ohne rot zu wer­den das Gegen­teil behaupten.

Die Ver­mark­tungs­agen­tur Bla­ser und Grae­ni­cher wirbt der­zeit auf allen Kanä­len für den klot­zi­gen Neu­bau, dem man den Namen ORE ver­passt hat – wohl nicht zuletzt, um auch eine inter­na­tio­nale Kund­schaft anzu­spre­chen. Kurz nach Bau­be­ginn schal­tete sie das Inse­rat: «Im «ORE» – an bester Lage in Oer­li­kon – ent­ste­hen ins­ge­samt 15 fan­ta­sti­sche 2 ½ – 4 ½‑Zim­mer-Eigen­tums­woh­nun­gen. Noch sind ein paar Woh­nun­gen verfügbar.»

«ORE – Das bedeu­tet auch solide Bau­qua­li­tät und sinn­vol­ler Umgang mit Öko­lo­gie und Nach­hal­tig­keit. Freuen Sie sich auf ein Zuhause im Miner­gie-Stan­dard, mit Erd­son­den­hei­zung, Free­coo­ling, Pho­to­vol­taik und Park­plät­zen mit Anschluss­mög­lich­kei­ten für Lade­sta­tio­nen», ist auf der Promo-Web­site wei­ter zu lesen.

Eine sol­che «Traum­woh­nung an bester Lage in Oer­li­kon», wie es in der Wer­bung heisst, kommt aller­dings nur für Gut­be­tuchte infrage: Die Preise für die 2,5 und 3,5‑Zimmerwohnungen mit Grund­flä­chen von 79 bis 91 Qua­drat­me­tern, die aktu­ell noch zum Ver­kauf ste­hen, bewe­gen sich zwi­schen 1,68 und 1,9 Mil­lio­nen Franken.

Keine schöne Besche­rung! Wer aber meint, das sei es gewe­sen, an die­sem Sams­tag – weit gefehlt…

Am Nach­mit­tag, auf unse­rem zwei­stün­di­gen Spa­zier­gang über den Höng­ger­berg ent­decken wir, ohne danach gesucht zu haben, min­de­stens ein hal­bes Dut­zend wei­tere Wohn­ge­bäude, deren Lebens­dauer eigent­lich noch längst nicht abge­lau­fen wäre, deren Abriss aber ange­kün­digt oder bereits in vol­lem Gang ist…

Unwei­ger­lich stellt sich die Frage: Ist das nur in der Region Zürich so? Wo Woh­nungs­not vor­ge­scho­ben wird, um unge­hemmt zu zer­stö­ren und Ren­di­te­ob­jekte hoch­zu­zie­hen? – Das System ver­nich­tet ohne Ende unnö­tig graue Ener­gie und gebiert Zer­stö­rung. – Hoch lebe die Verschwendungswirtschaft!

Wünsche, Wirklichkeit und Widerstand

Glück, Erfolg, Erfül­lung, Gesund­heit… oder kurz und bün­dig: HAPPY NEW YEAR.

Fest­tags- und Neu­jahrs­grüsse ohne Ende – man­che ori­gi­nell und per­sön­lich, andere vor­ge­druckt, stan­dard­mäs­sig, copy paste. Ab Mitte Dezem­ber flat­tern sie in die Brief­kä­sten, immer öfter in die elek­tro­ni­schen. In Form von Bil­dern, Kar­ten, Film­chen – push the but­ton, und sie pras­seln her­ein – die letz­ten im Lauf der ersten Januarwoche…

Vor der all­jähr­li­chen Glück­wunsch­or­gie gibt es kein Ent­rin­nen. Wider bes­se­res Wis­sen kol­por­tie­ren wir damit die Hoff­nung auf bes­sere Zei­ten und hul­di­gen dem nai­ven Glau­ben, dass ein Jah­res­wech­sel am Welt­ge­sche­hen oder unse­rem Ver­hal­ten irgend­et­was ändern würde…

Obschon dies drin­gend nötig wäre. Die Tat­sa­chen spre­chen für sich. Bei­spiele dafür, dass es an der Zeit ist, end­lich zu han­deln, statt sich mit schö­nen Wor­ten und Wün­schen zu begnü­gen, gibt es genug.

2024 war das heiss­te­ste Jahr seit Kli­ma­da­ten gemes­sen wer­den. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass die­ser Rekord schon bald erneut gebro­chen wird. Die kata­stro­pha­len Fol­gen der Kli­ma­er­hit­zung wer­den wei­ter zuneh­men, Unwet­ter, Dür­ren, Mur­gänge und Über­schwem­mun­gen bedro­hen das Leben von Men­schen immer häu­fi­ger, welt­weit. Nur uns trifft es nicht, mei­nen wir.

Das Glei­che gilt auch in Bezug auf die Kriege im Sudan, in der Ukraine, in Gaza… und die welt­weite Auf­rü­stung, den Sie­ges­zug von Rechts­extre­men, den Res­sour­cen­ver­schleiss und die Zer­stö­rung unse­rer Lebensgrundlagen…

Wenn wir es wirk­lich ernst mein­ten mit dem Happy New Year und wir ver­hin­dern woll­ten, dass 2025 noch schlim­mer wird als 2024 war, müss­ten (oder müs­sen?) wir anpacken und han­deln. Daran führt kein Weg vor­bei. Weder krea­tive noch KI-Bild­chen, und auch keine scharf­sin­ni­gen Sprü­che und wohl­ge­meinte Zei­len kön­nen dar­über hinwegtäuschen. 

Und doch lasse auch ich mich allzu gerne durch die all­jähr­lich wie­der­keh­ren­den Grüsse und Wün­sche ver­füh­ren. Jede Karte in mei­nem Brief­ka­sten, die nun für ein paar Wochen mein Side­board ziert, jeder Mail- und Whats­app-Gruss von Kolleg:innen, Freund:innen und Ver­wand­ten ist ein Zei­chen. Ein Zei­chen der Ver­bun­den­heit, eine Erin­ne­rung daran, dass ich nicht allein bin, mit mei­nen Hoff­nun­gen und Ängsten.

Das tut irgend­wie gut. Auch wenn ich mit den mei­sten Men­schen, die mich mit ihren Wün­schen beglücken, und die ich mei­ner­seits bewün­sche, im All­tag kaum je zu tun habe. Umso will­kom­me­ner das Auf­pop­pen am Jahresende.

Ich suhle in Erin­ne­run­gen, gebe mich der Melan­cho­lie hin und trauere den Zei­ten nach, als ich noch an Fort­schritt, Gerech­tig­keit und Frie­den glaubte. Der­weil neigt sich das Jahr dem Ende ent­ge­gen. Es ist Sil­ve­ster, die Uhr zeigt schon fast Mit­ter­nacht. Ich öffne das Fen­ster – auch dies eine alte, liebe Gewohn­heit – um dem Glocken­ge­läut zu lau­schen, mit dem das ver­gan­gene Jahr aus- und das neue ein­ge­läu­tet wird.

Draus­sen dicker Nebel – und ohren­be­täu­ben­der Lärm. Feu­er­werk statt Besinn­lich­keit. Das neue Jahr beginnt, wie das alte auf­ge­hört hat. Nach dem Motto: Wir amü­sie­ren uns wei­ter zu Tode – auch wenn die Welt den Bach run­ter geht…

Ich greife zum Sekt­glas, wir stos­sen an. Und lang­sam kehrt die Kamp­fes­lust zurück, die Sen­ti­men­ta­li­tät weicht dem Trotz. Solange Ver­zicht und Ver­nunft Tabu­the­men sind, in unse­rer Gesell­schaft, solange in der Welt her­um­ge­jet­tet wird, was das Zeug hält (nota­bene nur von den reich­sten fünf Pro­zent der Erd­be­völ­ke­rung), solange Eigen­nutz und Bequem­lich­keit Vor­rang haben vor Soli­da­ri­tät und Acht­sam­keit, will ich wei­ter­hin schrei­ben und kämp­fen. Schwei­gen und Auf­ge­ben ist keine Option.

«Du hast keine Chance – aber nutze sie» – das geflü­gelte Wort von Her­bert Ach­ter­busch aus den 1970er Jah­ren gilt heute wie damals. Dran­blei­ben, nicht auf­ge­ben heisst die Devise.

Seit ein paar Tagen hängt über mei­nem Schreib­tisch ein neu erstan­de­nes Bild. «Sam­mel­stelle für Rest­hoff­nung» ist dar­auf zu lesen. Ein wun­der­schö­nes (Sprach)-Bild, kre­iert von der Aar­gauer Künst­le­rin Eva Kel­ler. Es ist gleich­zei­tig Inspi­ra­tion und Ver­pflich­tung – für ein wei­te­res Jahr des Widerstands.

Wir benutzen Cookies um die Nutzerfreundlichkeit der Webseite zu verbessen. Durch Deinen Besuch stimmst Du dem zu.