Zertifizierte Imame und vegane Kasperlis

Der Ruf nach einer «Zertifizierung» von Imamen, die hier­zu­lan­de in Moscheen pre­di­gen, ist nicht neu. Jüngst hat ihn Saki Halilovic, sel­ber Imam und Vorstandsmitglied der Vereinigung der Islamischen Organisationen Zürich, in der Radiosendung Echo der Zeit wie­der ins Gespräch gebracht.

Er schlägt vor, dass Gemeinden und isla­mi­sche Dachorganisationen gemein­sam einen Katalog mit Kriterien erstel­len, die als Grundlage für die Zertifizierung die­nen. Nur wer die­se Kriterien erfüllt, darf künf­tig in Schweizer Moscheen pre­di­gen. Damit hät­te man ein Label zur Verhinderung isla­mis­ti­scher Radikalisierungen – dies die Hoffnung.

Ohne Frage: In der heu­ti­gen Zeit sind stan­dar­di­sier­te Kontrollen, Gütesiegel und Zertifikate uner­läss­lich. Es braucht Orientierungshilfen und ver­bind­li­che Massstäbe. Der ein­zel­ne Mensch hat längst kei­nen Überblick mehr. In einer glo­ba­li­sier­ten Welt ist es unmög­lich, alles sel­ber zu kon­trol­lie­ren, zurück­zu­ver­fol­gen, zu beur­tei­len. Stattdessen ver­trau­en wir in Excel-Tabellen, Deklarationen und Labels. 

Das hat Vorteile: Genormte Verfahren und Zertifikate geben Sicherheit. Allerdings trügt die­se all­zu oft. Bekanntestes Beispiel dafür ist der Skandal um die gefälsch­ten Abgaswerte bei den Dieselmotoren. Doch das ist bloss die klei­ne Spitze eines rie­si­gen Eisbergs.

Beim Dieselskandal han­delt es sich um einen plum­pen und gro­ben Betrug von Seiten der Produzenten. Der aller­dings auch nur mög­lich war, weil an ent­schei­den­der Stelle nicht nach­ge­fragt und nach­ge­prüft wur­de. Es ist ein­fa­cher, einer Deklaration zu ver­trau­en, als stän­dig zu hinterfragen.

Allzu oft ist des­halb gera­de der Homo Consumens ein ein­fa­ches und wil­li­ges Opfer, das sich noch so ger­ne betrü­gen lässt. Oder sich sel­ber betrügt. Ein Beispiel dafür sind die fair­trade-zer­ti­fi­zier­ten Nespresso-Kapseln, die erst noch rezi­k­lier­bar sind…

Und schon unter­liegt man einem Trugschluss: Je mehr Nespresso-Kapseln rezi­k­liert wer­den, des­to bes­ser für die Umwelt. Oder: Je mehr gela­bel­ter Kaffee, Bio-Quinoa oder zer­ti­fi­zier­te Rosen hier­zu­lan­de kon­su­miert wer­den, des­to bes­ser für die ProduzentInnen im fer­nen Süden. Ohne zu hin­ter­fra­gen, ob dem wirk­lich so sei. Schliesslich zahlt man ja für das zer­ti­fi­zier­te Produkt mehr als für das unge­la­bel­te – das reicht den meis­ten schon, für ein gutes Gewissen.

Natürlich kau­fen auch wir nur fair gehan­del­te Biobananen, Fisch mit dem MSC-Gütesiegel, unse­re Holzmöbel sind FSC-zer­ti­fi­zert. Und als Weihnachtsgeschenk für die Kleinsten gibt es die­ses Jahr Handpuppen von Kallisto: Die her­zi­gen Elefanten‑, Ziegen- oder Eulenkasperlis sind näm­lich nicht bloss aus Bio-Baumwolle her­ge­stellt, son­dern – laut Aufschrift – sogar VEGAN

Solche Deklarationen, Labels und Zertifikate beru­hi­gen nicht nur, sie ver­mit­teln ein­fach ein gutes Gefühl. Offen bleibt jedoch, wie­viel sie – aus­ser den Zertifiziererungsagenturen und uns sel­ber – nüt­zen. Eine nicht ganz zu ver­nach­läs­si­gen­de Frage, auch wenn es um die Zertifizierung von Imamen geht.

Elend ohne Ende?

Anfang Woche eine kur­ze Notiz aus dem Südsudan: Der süd­afri­ka­ni­sche Mobilfunkkonzern MTN schliesst in der Region Northern Bahr el Ghazal 22 sei­ner ins­ge­samt 23 Sendestationen. Tausende von Menschen ver­lie­ren damit die Möglichkeit, übers Telefon zu kom­mu­ni­zie­ren, sowie den Zugang zum Internet.

MTN begrün­det die Stilllegung der Mobilfunkstationen mit Energiemangel. Wegen der wach­sen­den Unsicherheit auf der Strasse von der Hauptstadt Juba nach Aweil sei es kaum mehr mög­lich, den Norden des Landes mit Treibstoff zu ver­sor­gen, liess der loka­le Verkaufsmanager des Mobilfunkkonzerns ver­lau­ten. Die schwie­ri­ge Versorgungslage wirkt sich auf alle Lebensbereiche der Menschen in Aweil aus: Güter des täg­li­chen Bedarfs sind für vie­le uner­schwing­lich geworden.

Die Versorgung mit Mobilfunk hat in vie­len armen Regionen Afrikas dazu geführt, dass Menschen, die frü­her kei­nen Zugang zu irgend­ei­ner Form von Telekommunikation hat­ten, nun von Telefon und Internet pro­fi­tie­ren kön­nen. Deshalb ist der Stilllegungsentscheid von MTN ein schwe­rer Schlag, ins­be­son­de­re auch für das loka­le Wirtschaftsleben.

Obwohl die Gegend rund um den Hauptort Aweil bis­her von den aktu­el­len krie­ge­ri­schen Handlungen und eth­ni­schen Säuberungen im Südsudan ver­schont geblie­ben ist, zeigt sich jetzt, wie sehr der Krieg auch hier das Leben beein­träch­tigt: Die Menschen lei­den enorm, es fehlt an allem. 

Immerhin ist die­ses Jahr die Hirse- und Erdnussernte in Aweil gut aus­ge­fal­len. Das bedeu­tet: Wer sei­ne Lebensmittel sel­ber pro­du­ziert, muss in den kom­men­den Monaten nicht hun­gern. In den umlie­gen­den Dörfern sieht die Situation aller­dings anders aus: Infolge von Hochwasser sind die Erträge dort dürf­tig ausgefallen.

Gegenwärtig wür­den Händler den erfolg­rei­chen Produzenten in Aweil einen Teil ihrer Ernte abkau­fen, schreibt eine afri­ka­ni­sche Freundin, die vor Ort lebt. Dies sei ein Zeichen dafür, dass auch die Preise für lokal pro­du­zier­te Lebensmittel bald stei­gen dürf­ten. Ohne Interventionen des World Food Programms WFO, befürch­tet sie, dro­he ab Februar in der Region eine Hungerkrise.

Hunger und Mangelernährung sind nichts Neues, in Northern Bahr el Ghazal. Es gab in den letz­ten Jahren denn auch eine Anzahl von Projekten und Initiativen für die Verbesserung der loka­len Produktion. Vielerorts wur­den Gärten und Felder ange­legt, wo trotz schwie­ri­ger kli­ma­ti­scher Bedingungen, dank Bewässerung auch in der Trockenzeit Gemüse und Tomaten wachsen.

Diese Entwicklungen sind nach­hal­ti­ger, als Nothilfe in Form von Kraftnahrung für Kleinkinder oder vom Himmel fal­len­de Lebensmittelpakete des WFO. Leider setzt die inter­na­tio­na­le Unterstützung im Südsudan momen­tan den Fokus – begrün­det durch die pre­kä­re Lage – aus­schliess­lich auf sol­che kurz­fris­ti­gen Nothilfeaktionen. Was punk­tu­ell Erleichterung brin­gen kann, aber auch neue Konflikte ent­facht und den Betroffenen kei­ne Perspektiven eröff­net. Auch die Schweiz folgt die­sem Trend: Anfang Jahr hat sich die DEZA, nach jah­re­lan­ger Aufbauarbeit, aus Aweil zurückgezogen.

Angeführt durch die USA, wür­den die inter­na­tio­na­len Akteure das gegen­wär­ti­ge Regime im Südsudan wei­ter­hin stär­ken, kri­ti­siert der Journalist Alan Boswell in einem Artikel auf IRIN News. Dies, weil von inter­na­tio­na­ler Seite nach wie vor eine Machtteilung zwi­schen Präsident Salva Kiir und sei­nem Opponenten Riek Machar gefor­dert wird. Eine Politik, die das Stoppen der Gewaltspirale und die Stabilisierung des Landes ver­hin­dert, wie Boswell wei­ter schreibt: «Internationale Aktionen seit 2013 haben deut­lich gezeigt, dass die Stabilität in der Hauptstadt für den Rest der Welt weit­aus wich­ti­ger ist, als die eth­ni­sche Säuberung im gan­zen Land.»

Die Aufmerksamkeit der Welt – gelenkt und gefüt­tert von den Produzenten des inter­na­tio­na­len Nachrichten-Einheitsbreis, rich­tet sich auf «Stories», die ihr medi­al vor­ge­setzt wer­den: Jede Grimasse des ame­ri­ka­ni­schen Präsidenten, jeder Klaps auf ein Frauenfüdli ist offen­bar inter­es­san­ter als die schreck­li­chen Berichte aus dem Südsudan, die uns in abso­lu­ter Hilflosigkeit zurücklassen.

Umso berüh­ren­der der Bericht eines süd­su­da­ne­si­schen Community Workers, der momen­tan an der Bugema University in Uganda stu­diert: Mitte November 2017 fei­er­ten 57 Absolventen aus dem Südsudan ihren Universitäts-Abschluss. Zur Zeremonie reis­ten Landsleute aus ganz Uganda an, man habe gemein­sam gefei­ert: «Es waren vie­le gute Worte zu hören, wel­che die Eintracht unter den Südsudanesen an der Bugema University unter­stri­chen, den Frieden unter ihnen und ihre Liebe für Harmonie», schreibt der Student.

Die Redner hät­ten die frisch­ge­ba­cke­nen Akademiker auf­ge­for­dert, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten für die Verbesserungen der gegen­wär­ti­gen Situation im Südsudan ein­zu­set­zen. Nebst dem Krieg wür­den auch Faktoren wie Unwissenheit, Analphabetismus sowie Alkoholismus zum Elend der Bevölkerung beitragen. 

Der Südsudan brau­che muti­ge Alternativen, for­dert Alan Boswell. Scharf kri­ti­siert der Journalist, der seit Jahren aus der Region berich­tet, die Art und Weise, wie der Rest der Welt mit der Situation im Südsudan umgeht: «Der Hauptbeitrag der Aussenwelt in Bezug auf den süd­su­da­ne­si­schen Krieg war bis anhin, dass sie die Bedingungen für des­sen Dauerhaftigkeit zemen­tiert hat.»

Boswell betont, dass nach­hal­ti­ge Verbesserungen im Südsudan nur mög­lich sei­en, wenn die­se von der Bevölkerung getra­gen wür­den. Nur: Solange die inter­na­tio­na­len Organisationen und AkteurInnen die Menschen vor Ort als blos­se EmpfängerInnen von Nothilfeprogrammen wahr­neh­men und der Südsudan nach wie vor von den Industrieländern pri­mär als Erdöllieferant und bedeu­ten­der Abnehmer von Waffen gilt, wird sich kaum etwas verbessern.

 

Selbsteinschätzung als wissenschaftliche Grundlage?

«Fast drei Viertel aller SRG-Journalisten sind links», lau­te­te die Schlagzeile in der Sonntagszeitung vom 12. November 2017. Damit bedient sie ein­mal mehr das ewi­ge Klischee der «lin­ken SRG». Weil die Geschichte aber zu gut in den auf­ge­heiz­ten No-Billag-Diskurs passt, haben die Tamedia-Blattmacher ihre Story mit «neu­en Erkenntnissen» auf­ge­peppt. Der Untertitel des Artikels: «Erstmals lie­gen detail­lier­te Zahlen zur poli­ti­schen Einstellung von Medienschaffenden vor.» (Die NZZ berich­te­te übri­gens bereits 2016 darüber…)

Geliefert wur­den die­se «wis­sen­schaft­li­chen» Zahlen von den Medienwissenschaftlern Vinzenz Wyss und Filip Dingerkus von der Zürcher Hochschule für ange­wand­te Wissenschaften ZHAW. Sie stam­men aus einer «inter­na­tio­na­len Journalismusstudie», die u.a. vom Nationalfonds mit­fi­nan­ziert wurde.

Im Rahmen die­ser Studie wur­den Journalistinnen und Journalisten unter ande­rem zu ihrer poli­ti­schen Haltung befragt: Die Frage lau­te­te, wo sie sich im poli­ti­schen Spektrum zwi­schen Links und Rechts ein­ord­nen wür­den – auf einer Skala von 0 (links) bis 10 (rechts).

Was taugt eine sol­che Selbsteinschätzung als wis­sen­schaft­li­che Basis? Ist dies eine valable Grundlage für eine objek­ti­vier­ba­re Aussage?

Wenn Journalistin A und Journalist Z sich auf der Skala mit einer 2 ein­rei­hen, sagen sie dann a) die Wahrheit und falls ja, wel­che? Und b) bezie­hen sich A und Z auf iden­ti­sche und scharf abge­grenz­te Definitionen der Begriffe «links» und «rechts»?

Die hier ange­wand­te Methode ist schlicht unbrauch­bar und völ­lig irrele­vant. Sie lässt näm­lich defi­ni­tiv kei­ne ver­nünf­ti­gen und objek­tiv mess­ba­ren Rückschlüsse über die poli­ti­sche Ausrichtung oder Wirkung der öffent­lich recht­li­chen oder pri­va­ten Medien zu.

Zur Veranschaulichung ein aktu­el­les Beispiel mit einer Skala zur Einteilung von grü­ner Politik:

Die grü­ne Baudirektorin der Stadt Biel wür­de sich auf einer sol­chen Politskala wohl als Grüne ver­or­ten, auf der Skala irgend­wo zwi­schen 0–3. – Bewertet man aber ihre Politik anhand der glei­chen Skala, zeigt sich, dass sie den Bau der umstrit­te­nen Stadtautobahn unter­stützt. Dies ent­spricht auf einer grü­nen Skala einem Platz zwi­schen 8–10. Das mag mit Realpolitik zu erklä­ren sein: Als Mitglied einer Exekutive, die das Bauprojekt unter­stützt, hält sie sich brav ans Kollegialitätsprinzip.

Ganz anders die Basis der grü­nen Partei: Diese ver­ab­schie­de­te im Juni eine Resolution «Für eine Verkehrspolitik ohne A5-Westast». Die Begründung folg­te den Grundprinzipien grü­ner Politik: «Das Projekt will Verkehrsprobleme mit neu­en Strassen lösen. Ein Ansatz, der ins 20., nicht ins 21. Jahrhundert gehört, denn unter­des­sen hat sich gezeigt: Wer Strassen sät, ern­tet Verkehr.»

Die Partei-Strategen wür­den die­se Aussage wohl bis heu­te unter­schrei­ben und sich auf der Politskala per­sön­lich eben­so klar als Grüne ver­or­ten. Was sie jedoch nicht dar­an hin­der­te, nun ihrer­seits den Neubau eines Autobahntunnels zu pro­mo­ten. Kleiner zwar als das offi­zi­el­le Projekt, aber nie und nim­mer kom­pa­ti­bel mit den «grü­nen Visionen», für die sie sich vor kur­zem noch stark gemacht haben.

Selbsteinschätzung ist immer sub­jek­tiv. Insbesondere, wenn sich die Befrager auf eine plum­pe Skalentabelle beschrän­ken. Es braucht zwin­gend das Korrektiv eines Fakten-Checks, oder einen Fragenkatalog, wie ihn etwa Smartvote Kandidierenden vor­legt: Die Position der Befragten wird so auf­grund kon­kre­ter Antworten zu Sachfragen aus ver­schie­de­nen Politbereichen eruiert.

Die Frage nach der poli­ti­schen Selbsteinschätzung zielt bei den JournalistInnen zudem in eine fal­sche Richtung, weil per se kein Zusammenhang besteht, zwi­schen der Qualität von Medienarbeit und der poli­ti­schen Position der Medienschaffenden.

Will man die Medien in ein Links-Rechts-Schema drü­cken, wären empi­ri­sche Nachforschungen über die Themensetzung in den ein­zel­nen Redaktionen, die inter­ne Qualitätskontrolle oder das Auswerten von Kommentaren wesent­lich aussagekräftiger.

Schade, dass die Polemik über «lin­ke» und «rech­te» Medien mit sol­chen pseu­do-wis­sen­schaft­li­chen Spielereien befeu­ert wird. Das ist nicht nur unnö­tig son­dern kon­tra­pro­duk­tiv und dürf­te schon gar nicht vom Nationalfonds finan­ziert werden.

 

Instrumente, die nicht «grundsätzlich schlecht» sind

Die Paradise Papers zei­gen ein­mal mehr: Reiche und Mächtige wis­sen die glo­ba­len Vernetzungen für sich zu nut­zen. Dadurch wer­den sie immer rei­cher und mäch­ti­ger. Was ihnen wie­der­um erlaubt, das System wei­ter zu ihren Gunsten zu opti­mie­ren und aus­zu­rei­zen. Sie tun dies scham­los. Und scham­los rich­ten sie Stiftungen ein, aus einem Bruchteil ihres Vermögens, und plus­tern sich als Wohltäter für die Armen die­ser Welt auf. 

Viele der aktu­ell ans Licht gezerr­ten Geschäfte sind zwar nicht ille­gal, aber ethisch frag­wür­dig. Das wird welt­weit so kom­men­tiert, aus­ser im Neuen Zürcher Zentralorgan des Neoliberalismus. Wirtschaftsredaktor Peter A. Fischer im Originalton: «Ob des gan­zen Medienrummels soll­te aber nicht in Vergessenheit gera­ten, dass fast jedes noch so sinn­vol­le Instrument miss­braucht wer­den kann. Das heisst in den sel­tens­ten Fällen, dass die­ses Instrument des­we­gen grund­sätz­lich schlecht ist.»

Mit ande­ren Worten: Die Instrumente, die soge­nann­te «Steueroptimierungen» ermög­li­chen, sind nicht das Problem, son­dern deren Missbrauch. Dieses Mantra hat man in ganz ande­rem Zusammenhang kürz­lich wie­der gehört. US-Präsident Donald Trump argu­men­tiert in glei­cher Weise, wenn es um Waffenverbote geht. Nach dem jüngs­ten Massaker, wo 26 Menschen in einer Kirche in Texas erschos­sen wur­de, mein­te er lako­nisch, die USA hät­te vie­le Probleme «mit geis­ti­ger Gesundheit», nicht aber mit Schusswaffen.

Stimmt. Eine Waffe, die nicht gebraucht wird, rich­tet kei­nen Schaden an. Daraus zu fol­gern, dass sie per se nicht schlecht sei, ist gewagt. Denn: Ziel und Zweck einer Schusswaffe ist und bleibt ihre Funktionstüchtigkeit. Das heisst, dass man damit töten kann. Und bei einer Schnellfeuerwaffe, dass man in kur­zer Zeit mög­lichst vie­le wei­che Ziele trifft.

Genauso ver­hält es sich mit Offshore-Angeboten: Sie sind dar­auf aus­ge­legt, die Lücken im glo­ba­li­sier­ten System aus­zu­nüt­zen. Wäre das nicht ein so flo­rie­ren­des Geschäft, gäbe es kei­ne Nachfrage nach ille­gi­ti­men Machenschaften. Das Geschäftsmodell von Firmen wie Appleby oder Mossack Fonseca wäre längst implodiert.

Deshalb braucht es drin­gend star­ke Regulierungen und wirk­sa­me Kontrollen der inter­na­tio­na­len Finanzströme. Genauso wie restrik­ti­ve Waffengesetze. Dies gilt übri­gens nicht nur für die USA, son­dern auch für die Waffenhändler in der Schweiz: Deren Forderung nach einer Aufweichung der bestehen­den Gesetzgebung, damit sie ihre mör­de­ri­schen Produkte auch in Bürgerkriegsländer expor­tie­ren dür­fen, ist an Zynismus kaum zu überbieten.

 

Fluchtwege

Olivetta, ein male­ri­sches Bergdorf, unweit des Mittelmeers gele­gen, inmit­ten von Olivenhainen. Mittelalterliche Häuser kle­ben an steil abfal­len­den Hängen. Die Ruine einer Mühle am fel­si­gen Bachbett, eine Fussgängerbrücke über glas­kla­res Wasser. Diese Brücke, den Ponte Ronconi, pas­sier­ten 1939/40 ita­lie­ni­sche Jüdinnen und Juden auf ihrer Flucht aus dem faschis­ti­schen Italien ins damals noch freie Südfrankreich. Eine Gedenktafel erin­nert an die schlim­me Zeit.

Fast 80 Jahre spä­ter sind wir auf dem schma­len Weg unter­wegs, der jen­seits der Brücke im Zickzack steil den Berghang hin­auf kreuzt. Ziel unse­rer Wanderung ist der Passo Treittone, von wo der Weg auf den Grammondo führt, den höchs­ten Berg der Region. Sowie tal­wärts, ins fran­zö­si­sche Sospel.

Es ist August. Das Blätterdach der Bäume schützt vor der bren­nen­den Sonne, die Aussicht ist atem­be­rau­bend. Was für uns WandererInnen ein Vergnügen, war für die Menschen damals eine Gratwanderung zwi­schen Todesangst und Hoffnung. Es ist anzu­neh­men, dass sie im Schutz der Dunkelheit hier hoch­ge­stie­gen sind. Mit orts­kun­di­gen «Passeurs», die sich auf den Schmugglerpfaden im Grenzgebirge auskannten.

Schritt für Schritt stei­gen wir hoch, in Gedanken bei den Flüchtlingen. Der Wanderweg ist gut signa­li­siert, doch wir sind allei­ne unter­wegs. Ausser einer Gruppe Pfadfinder, die wir beim Aufstieg über­ho­len, scheint die Gegend heu­te menschenleer.

Oder täuscht der ers­te Eindruck? Ab und an lässt uns ein Rascheln im Unterholz auf­hor­chen. Sind wir gar nicht allein? Werden wir beob­ach­tet, fol­gen uns gar ängst­li­che Augenpaare?

In Olivetta hat­te man uns erzählt, dass auch heu­te wie­der Menschen ver­su­chen wür­den, über die alten Fluchtwege der Jüdinnen und Juden Frankreich zu errei­chen. Spätabends im Schutz der Dunkelheit sehe man sie durchs Dorf, in die Berge ziehen…

Unterwegs meh­ren sich die Zeichen: Am Wegrand eine schmut­zi­ge Vliesdecke, etwas wei­ter die Reste einer Kompressen-Verpackung, kürz­lich erst weg­ge­wor­fen und noch kaum ver­wit­tert. In einem Strauch hängt ein T‑Shirt, auf dem Boden Fetzen eines zer­ris­se­nen Briefs mit ita­lie­ni­schem Absender, in ara­bi­scher Schrift.

Leise, kaum wahr­nehm­ba­re Spuren, die auf die Flüchtlinge hin­wei­sen, die heu­te wie­der die alten Fluchtwege nut­zen, um im Schutz der Dunkelheit nach Frankreich, nach Europa zu gelan­gen. Allerdings ist es schwie­rig gewor­den: Frankreich lässt auch sei­ne abge­le­gens­ten Grenzen scharf bewa­chen. Im Kampf gegen die Flüchtlinge hat der Staat gan­ze Heerscharen von Polizisten und Militärs in der Region stationiert.

Zudem sind die Bergpfade gefähr­lich. Das wis­sen auch die ver­zwei­fel­ten Flüchtlinge, die es trotz­dem immer wie­der ver­su­chen. Weil sie kei­ne Wahl hät­ten, wie uns ein jun­ger Mann drei Tage spä­ter in Ventigmilia erklärt. Wir tref­fen ihn im Caritas-Zentrum, wo täg­lich Hunderte von Flüchtlingen not­dürf­tig ver­sorgt wer­den. Wie die meis­ten hier, kommt er aus Darfur.

Die jun­gen Männer erzäh­len von Bürgerkrieg, Gewalt und Armut. In Darfur, aber auch unter­wegs. Libyen sei die Hölle, mit eige­nen Augen habe er gese­hen, wie die Leute dort erschos­sen wür­den, sagt unser Gesprächspartner, der auf die Frage nach sei­nem Namen viel­sa­gend ant­wor­tet: «Adam, Achmed, Abdeslam – je nachdem…»

Er sei seit 45 Tagen in Italien und wol­le wei­ter. Sein Bruder lebt in Frankreich. Zehnmal habe er bereits ver­sucht, die Grenze zu über­que­ren, um zu ihm zu gelan­gen. Dreimal über den Berg – jedes­mal ist er erwischt und nach Italien zurück­ge­bracht worden.

Er wird es wie­der ver­su­chen und hofft, dass er von sei­nem Bruder Unterstützung erhält, um einen Schlepper zu bezah­len. Er sei aus Darfur weg, weil er ein wür­di­ges Leben woll­te. Statt der erwar­te­ten Freiheit und der Möglichkeit, Geld zu ver­die­nen, sich wei­ter­zu­bil­den, müss­ten sie in Italien nun auf der Strasse leben. Doch Rückkehr sei kei­ne Option, und irgend­wann wer­de er es nach Europa schaf­fen – oder ster­ben. «We have a desi­re», sag­te er zum Abschied.

 

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