Solidarität – einst und jetzt

Abstimmungswochenende im Mai 2019. Der äus­serst frag­wür­di­ge AHV-Unternehmenssteuer-Deal wird deut­lich ange­nom­men. Ein Sieg der poli­ti­schen KuhhändlerInnen, die ein Paket geschnürt haben, das ver­fas­sungs­recht­lich höchst bedenk­lich ist.

Einmal mehr ein fau­ler Kompromiss, den wir den SchwarzmalerInnen und Mutlosen zu ver­dan­ken haben: Statt eine kohä­ren­te, nach­hal­ti­ge Lösung für die Rentenfrage zu erar­bei­ten, was Zeit, Mut und vor allem ein Bekenntnis zur Solidarität in unse­rem Land erfor­dert hät­te. Doch Solidarität hat augen­schein­lich kei­ne Konjunktur im aktu­el­len neo­li­be­ra­len Weltbild. Jeder und jede für sich, und ich first.

Im Kanton Bern ging man noch einen Schritt wei­ter: Hier stand als wei­te­re Abstimmungsvorlage nichts weni­ger als die Demontage der sozia­le Solidarität zur Disposition: Wäre es nach dem Willen der Regierung und der Mehrheit des Grossen Rates gegan­gen, hät­ten die Leistungen an die SozialhilfebezügerInnen um 8 bis 30 Prozent gekürzt wer­den sollen.

Während Monaten hat SVP-Regierungsrad Pierre Alain Schnegg, sei­nes Zeichens Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern, für die­se men­schen­ver­ach­ten­de Vorlage gekämpft. Obschon SozialhilfebezügerInnen bereits heu­te mit ihren beschei­de­nen Budgets oft kaum durchkommen.

Zurzeit rich­tet sich die Sozialhilfe nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe Skos, die in gut­eid­ge­nös­si­scher Manier ver­sucht, schweiz­weit eine gewis­se Gerechtigkeit im Bereich der Sozialhilfe her­zu­stel­len. Das woll­te Regierungsrat Schnegg, nota­be­ne ein prak­ti­zie­ren­der Christ, nun mit sei­nem Gesetzesvorschlag unter­lau­fen. Wäre die Vorlage im Kanton Bern ange­nom­men wor­den, hät­te dies in der gan­zen Schweiz wei­te­ren Sozialabbau-Initiativen Auftrieb gegeben.

Soweit ist es zum Glück nicht gekom­men: Mit 52,6 Prozent sag­ten die StimmbürgerInnen NEIN zum Sozialabbau. Mit 56% Nein-Stimmen wur­de auch der Gegenvorschlag ver­wor­fen, der mehr Engagement für die Reintegration von SozialhilfebezügerInnen gebracht hät­te. Mit ande­ren Worten: Alles bleibt beim ver­nünf­ti­gen Alten, im Kanton Bern.

Aufatmen, könn­te man mei­nen. Doch eine genaue­re Analyse des Abstimmungsresultats zeigt Bedenkliches: Fast im gan­zen Kanton, aus­ser in den Städten und Agglomerationen von Bern und Biel, stimm­te eine Mehrheit für den Abbau der Sozialhilfe. Besonders stark sind die BefürworterInnen der Entsolidarisierung etwa im Berner Oberland oder im Emmental.

Aber auch im Berner Seeland befür­wor­tet eine Mehrheit der Gemeinden den Solidaritätsabbau. Diese Resultate haben einen beson­ders scha­len Beigeschmack, wo Bäuerinnen und Bauern, die sel­ber von beträcht­li­chen Subventionen pro­fi­tie­ren, der Solidarität mit ande­ren Menschen eine Absage erteilen.

Auch das längst nicht mehr bäu­er­li­che Port – eine Vorortsgemeinde von Biel, wo seit Jahren der Eigenheimbau boomt, hat mit ein­deu­ti­gen 57,6 Prozent das Sozialabbau-Gesetz angenommen.

Was hät­te wohl mein Urgrossvater, der lang­jäh­ri­ge Gemeindepräsident Ernst Jakob, zu die­sem Abstimmungsresultat gesagt? Er, der sich ein Leben lang für die Ärmsten der Gesellschaft und für den Sozialstaat enga­giert hat? Während mehr als dreis­sig Jahren war der SP-Politiker und Gewerkschafter Gemeindepräsident von Port. Und stolz dar­auf, dass Solidarität und die Unterstützung der Ärmsten in sei­nem Dorf kei­ne lee­ren Worte waren.

Dafür wur­de ihm im Januar 1946 das Ehrenbürgerrecht ver­lie­hen. Der Zufall will es, dass mir just an die­sem Abstimmungssonntag die gerahm­te Urkunde in die Hände fällt, die Ernst Jakob damals sicher vol­ler Freude und Stolz in sei­nem Arbeitszimmer auf­ge­hängt hat.

Über 70 Jahre sind seit­her ver­gan­gen, Ernst Jakob ist schon lan­ge tot. Kaum jemand erin­nert sich an ihn und sei­ne Verdienste für das Dorf. Einzig eine Sackgasse beim Schulhaus trägt sei­nen Namen.

Das Dorf Port hat sich seit­her grund­le­gend ver­än­dert. Armut ist im Speckgürtel der Stadt Biel – anders als wäh­rend der Amtszeit von Ernst Jakob – kaum mehr ein Thema. Im Gegensatz zur  Stadt Biel, wo Arme und Reiche zusam­men woh­nen. In Port hin­ge­gen hat die eine soli­de Mehrheit der Bevölkerung die Kürzung der Sozialhilfe abge­lehnt. – Port ist ein sat­tes Dorf gewor­den, wo sich der soge­nann­te Mittelstand in sei­ne Hüüslischwyz zurück­ge­zo­gen hat und von Solidarität kei­ne Rede mehr ist. Allenfalls noch als Schimpfwort. 

 

Dreimal Post

Montagmorgen. Im Briefkasten drei A5-Fenstercouverts. Links oben jeweils der Absender mit Logo: Einmal «Schweizerische Eidgenossenschaft», ein­mal «Ärzte ohne Grenzen» und schliess­lich «geba­na» mit dem Slogan «Weltweit ab Hof».

Bunt und ver­lo­ckend der mehr­fach gefal­te­te Prospekt, den ich aus dem geba­na-Couvert fische. Dazu die schier end­lo­se Bestellliste «Frühsommer 2019». Aktuell kann man sich zum Beispiel fri­sche Spargeln, Chia-Samen, Mandelpaste aus Pakistan, Müeslimischungen, Quinoakörner oder Ingwer und Kurkuma aus Peru ins Haus lie­fern las­sen. Und noch viel mehr.

Im bei­geleg­ten Newsletter preist Sandra Dütschler, Leiterin Kommunikation bei der geba­na AG, die fri­schen Bio-Mangos aus Westafrika an und wirbt mit einer «revo­lu­tio­nä­ren Neuerung»: Künftig sol­len die Bäuerinnen und Bauern in Burkina Faso für ihre Mangos und Cashew-Nüsse zusätz­lich zum Rohwarenpreis eine Erfolgsbeteiligung in der Höhe von 10% des Verkaufspreises erhalten.

Das bes­te an der Geschichte: Die geba­na-KundInnen müs­sen trotz­dem kaum tie­fer in die Tasche grei­fen. Dank sin­ken­der Weltmarktpreise und weil geba­na auf einen Teil sei­ner Marge verzichtet.

Also nichts wie los: Die Bestellkarte aus­fül­len und mög­lichst viel Ware kau­fen! Ab einem Bestellwert von 150 Franken muss man kein Porto zah­len, ab 300 Franken gibt es fünf Prozent Rabattabzug, ab 500 sogar zehn Prozent! Mittlerweile ist die Organisation, die einst im Kampf gegen die Grossverteiler für gerech­te­re Bananenpreise gekämpft hat, sel­ber zum Supermarkt verkommen.

Ich fra­ge mich, wes­halb wir geba­na-Spargeln aus Deutschland essen sol­len, wer hier­zu­lan­de im Sommer geba­na-Mangos aus Afrika braucht und wie sinn­voll es ist, geba­na-Quinoa nach Europa zu expor­tie­ren, wäh­rend sich die Armen in Lateinamerika das dort ein­hei­mi­sche Getreide nicht mehr leis­ten kön­nen. – Weil das Label einen Win-Win-Handel ver­spricht? Wer bei geba­na kauft, tut und erhält gleich­zei­tig Gutes…

Beim zwei­ten Couvert gibt es nichts zu kau­fen. Es ent­hält eine acht­sei­ti­ge Broschüre, die Einladung zur tra­di­tio­nel­len Jahreskonferenz der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA. Allerdings erin­nert ein­zig noch das Cover an die ursprüng­li­che Aufgabe der DEZA: Zwei jun­ge Frauen, bei­de dun­kel­häu­tig, die eine Kopftuchträgerin, posie­ren lächelnd mit einem Laptop. Wie zu Zeiten, als EZA noch Entwicklungshilfe hiess und die besag­te Jahreskonferenz ein Klassentreffen der schwei­ze­ri­schen Entwicklungszusammenarbeit war. Mit ReferentInnen aus Afrika, Lateinamerika oder Asien, die über die schwie­ri­gen Lebensbedingungen in ihren Heimatländern berichteten. 

2019 hin­ge­gen setzt man kon­se­quent auf hel­ve­ti­sches Schaffen: Angesagt sind Podien über «Neue Finanzlösungen für eine nach­hal­ti­ge Zukunft» oder «Stabilität für eine nach­hal­ti­ge Entwicklung» sowie eine Diskussion mit «JungpolitikerInnen und Jungpolitikern». Alles Swiss made. Ganz auf Kurs gemäss dem neo­li­be­ra­len Slogan von Departementschef Ignazio Cassis: Die Entwicklungszusammenarbeit muss in ers­ter Linie uns sel­ber nützen!

Das drit­te Couvert, jenes von Médecins sans Frontières, ist das dünns­te. Es ent­hält ledig­lich ein beid­sei­tig bedruck­tes A4-Blatt und einen Einzahlungsschein. Der Spendenaufruf, per­sön­lich geschrie­ben von Andrea Isenegger, Projektkoordinatorin von MSF im Libanon, ver­spricht kei­ne Weltverbesserung dank bio­lo­gisch pro­du­zier­ter Kolonialwaren oder der Förderung von Schweizer Start-ups. Doch was die Gesundheitsfachfrau über die Situation der rund 1,5 Millionen syri­schen Flüchtlinge im Libanon beschreibt, geht unter die Haut:

«Diesen Familien feh­len die Mittel, um sich medi­zi­nisch behan­deln zu las­sen. Das ist bedenk­lich, denn auch sie sind von chro­ni­schen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen betrof­fen und die Lebensbedingungen in den Lagern ver­schlech­tern die­se Krankheiten zusätz­lich. Wir bie­ten Geflüchteten kos­ten­lo­se medi­zi­ni­sche Betreuung, Behandlungen und auch psy­cho­lo­gi­sche Unterstützung, damit sie die trau­ma­ti­schen Erlebnisse im Zusammenhang mit den Konflikten, die sie in die Flucht gezwun­gen haben, ver­ar­bei­ten können.»

Im letz­ten Jahr konn­te das Team von Andrea Isenegger über 3300 Sprechstunden für Kinder und Erwachsene im Bereich psy­chi­sche Gesundheit durch­füh­ren, schreibt die gelern­te Pharmazeutin wei­ter. «Nicht zuletzt möch­te ich erwäh­nen, wie sehr mich Ihre Unterstützung und Ihre Treue berührt. Sie geben uns die Möglichkeit, unab­hän­gig zu han­deln, und das ist ein enor­mes Privileg. Da ich auch für die Finanzen des Projekts zustän­dig bin, weiss ich aus dem Alltag, dass Ihre Spende vor Ort wirk­lich etwas bewirkt!»

Das klingt gar nicht nach Win-Win – aber über­zeu­gend nach dring­li­cher Notwendigkeit. Während die bei­den ers­ten Couverts samt Inhalt längst im Altpapier gelan­det sind, liegt der Einzahlungsschein zuoberst auf mei­nem Schreibtischstapel. 

 

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