Aufgaben nicht gemacht – und nun jammern, was das Zeug hält

Das Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rechte EGMR in Strass­burg vom Diens­tag, 9. April 2024 lässt an Klar­heit nichts zu wün­schen übrig. Ent­spre­chend hef­tig sind die Reak­tio­nen in der Schweiz. Da ist zum einen die Freude und Erleich­te­rung all jener, die seit Jah­ren für ent­schlos­se­nes Han­deln gegen die Kli­ma­krise engagieren.

Auf der ande­ren Seite und beson­ders laut­stark die ableh­nen­den und feind­se­li­gen Reak­tio­nen von recht­ha­be­ri­schen Politiker:innen und Pres­se­kom­men­ta­ren, von Herr­li­berg bis BLICK. Es ist die jam­mernde Rede von einem «poli­ti­schen Urteil», gefällt von «frem­den Rich­tern», wel­che die demo­kra­ti­sche Basis der Schwei­zer Kli­ma­po­li­tik nicht ver­stün­den. Es wird gegen das Urteil gewet­tert, gegen den Schwei­zer Rich­ter im Gre­mium, der sein Land ver­ra­ten habe sowie gegen die von «Green­peace gesteu­er­ten» Klimaseniorinnen.

Die Sonn­tags­Zei­tung vom 14. April por­trä­tiert mit hämi­schen Wor­ten den «Erfin­der» der Kli­ma­klage und lässt dar­über hin­aus Mar­kus Somm kom­men­tie­ren. Unter dem Titel «17 Rich­ter gegen 5,5 Mil­lio­nen Stimm­bür­ger» schlägt Eid­ge­nos­sen Somm mit der Kom­men­tar­hel­le­barde zu und dis­kre­di­tiert in sei­nem Pam­phlet nicht nur den EGMR-Rich­ter Andreas Zünd und die Kli­ma­se­nio­rin­nen – er behaup­tet dar­über hin­aus, das Gericht habe mit sei­nem Urteil ein neues Gesetz geschrie­ben, «über das bloss 17 Leute statt 5,5 Mil­lio­nen wahl­be­rech­tigte Schwei­zer abstimmen.»

Im Sonn­tags Blick wird eben­falls ver­sucht, Rich­ter Zünd zu demon­tie­ren. Die­ser bleibt ruhig und sach­lich und räumt mit den kol­por­tier­ten Fehl­in­for­ma­tio­nen auf. Als ihn die Blick als «Akti­vi­sten» anspricht, lau­tet seine Ant­wort kurz und bün­dig: «Das ist keine inhalt­li­che Aus­sage, son­dern ein simp­ler Angriff. Die­ser Begriff wird ver­wen­det, um Rich­te­rin­nen und Rich­ter zu dis­kre­di­tie­ren, die die Rechte der Men­schen ernst nehmen.»

Schon zuvor, im Tages­ge­spräch auf Radio SRF, hakte Befra­ger David Kara­sek drei­mal nach, wie es sich anfühle, sein eige­nes Land zu ver­ur­tei­len. Da hat einer die Inter­view­tech­nik bei den Sportreporter:innen abge­schaut. Als ob bei die­sem bahn­bre­chen­den, wich­ti­gen Urteil des EGMR Patrio­tis­mus und die Befind­lich­keit des Rich­ters im Zen­trum stünden!

Das mit 16:1 Stim­men gefällte Urteil des Men­schen­ge­richts­hofs stellt klar und deut­lich fest: Die Schweiz tut nicht genug zur Umset­zung ihrer Gesetze in Bezug auf die CO2-Emis­sio­nen, son­dern ver­nach­läs­sigt auch die von Bun­des­rat und Par­la­ment rati­fi­zier­ten Ver­pflich­tun­gen aus dem Pari­ser Kli­ma­ab­kom­men. Dadurch ver­letzt sie das vom Ver­ein der Kli­ma­se­nio­rin­nen ein­ge­klagte Men­schen­recht auf Gesund­heit und schützt sie nicht genü­gend vor den Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels. Klar­text: Die selbst­er­kürte Klas­sen­be­ste und Stre­be­rin Schweiz hat die Haus­auf­ga­ben nicht gemacht. Nun muss sie nach­sit­zen und nachbessern!

Wäh­rend sich die bür­ger­li­chen Medien in der Schweiz aufs Wun­den lecken und ver­letz­ten Natio­nal­stolz zurück­zie­hen, bringt Joa­chim Mül­ler-Jung, Co-Res­sort­lei­ter der «Wis­sen­schaft» bei der F.A.Z. (!) in sei­nem Kom­men­tar vom 12. April 2024 die eigent­li­che Bedeu­tung des Urteils auf den Punkt:

«Mit der beein­drucken­den Mehr­heit von sech­zehn zu eins Stim­men haben die Straß­bur­ger Rich­ter aner­kannt, dass es sich beim Kli­ma­wan­del um eine exi­sten­ti­elle Bedro­hung für die Mensch­heit han­delt, die poli­tisch abzu­wen­den sei. Die Begrün­dung war dabei die­selbe wie in allen ande­ren Fäl­len auch: Nicht, dass keine Kli­ma­po­li­tik gemacht wird, ist justiz­sei­tig moniert wor­den, son­dern dass diese Poli­tik unge­nü­gend ist. Maß­stab dabei ist für die Rich­ter allein die Wis­sen­schaft, indi­rekt damit auch die Ein­schät­zung des Welt­kli­ma­ra­tes IPCC, die zu dem Pari­ser Kli­ma­ab­kom­men und der von fast allen Staa­ten mit­ge­tra­ge­nen Ziel­vor­gabe – unter zwei Grad glo­ba­ler Erwär­mung und mög­lichst 1,5 Grad zu bleiben.»

Den Vor­wurf, es handle sich beim Strass­bur­ger Kli­maur­teil um ein poli­ti­sches Urteil, ja sogar um einen «Anschlag auf die Demo­kra­tie», kon­tert Mül­ler-Jung mit der Tat­sa­che, dass der EGMR der Schweiz eben gerade nicht vor­schreibt, mit wel­cher Poli­tik sie die Kli­ma­ziele errei­chen soll – er ver­langt ein­zig, dass sie ein­zu­hal­ten sind.

«Die Strass­bur­ger Rich­ter haben des­halb auch nichts Unmög­li­ches ver­langt, auch nichts Absur­des, son­dern ledig­lich: die Ver­ant­wor­tung end­lich zu über­neh­men, die in der Kli­ma­rah­men­kon­ven­tion schon in den Neun­zi­ger­jah­ren völ­ker­rechts­ver­bind­lich unter­schrie­ben, rati­fi­ziert und mit dem Pari­ser Abkom­men kon­kre­ti­siert wor­den ist. Wenn man so will, über­nimmt die Justiz damit ein stück­weit die Auf­ar­bei­tung von Jahr­zehn­ten sträf­lich ver­pass­ter, zum Gut­teil auch sabo­tier­ter Klimapolitik.» 

Das gilt für die Schweiz genauso wie für die andern Län­der Europas.

Wer nun behaup­tet, der EGMR habe mit sei­nem Urteil gegen Schwei­zer Recht und Usan­zen ver­stos­sen, hat das für Demo­kra­tien mass­ge­bende Prin­zip der Gewal­ten­tei­lung nicht begrif­fen. Die­ses gilt auch und vor allem, wenn es gewis­sen Volks­par­teien nicht in den Kram passt. Weil sie lie­ber wei­ter­hin den immer drän­gen­der wer­den­den Hand­lungs­be­darf in Bezug auf die Kli­ma­krise leug­nen und wir­kungs­volle Mass­nah­men auf Teu­fel komm raus blockieren.

Genau des­halb ist es so wich­tig, dass unab­hän­gige Gerichte Kla­gen wie jene des Ver­eins Kli­ma­se­nio­rin­nen aus der Schweiz ernst neh­men und dafür sor­gen, dass statt stets nur gebremst auch end­lich gehan­delt wird.

© Sher­vine Nar­fissi /​Greenpeace

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