Vollmond in Mürren

Ein ver­län­ger­tes Wochenende in Mürren. Verschneite Strassen, glas­kla­re Luft – wohl­tu­en­de Ruhe. Weit weg und schnell ver­ges­sen sind das hek­ti­sche Treiben der Stadt und die zer­mür­ben­den News zum aktu­el­len Stand der Politik. Wie immer, hier oben, das Gefühl, die Zeit sei ste­hen geblie­ben – und die Welt sei in Ordnung.

Der Vollmond taucht die impo­san­te Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau in lieb­li­ches Weiss. Der ers­te Abend im unver­wüst­li­chen Stägerstübli hat uns eupho­risch gestimmt: Liebe Freunde getrof­fen – in guter Gesellschaft fein geges­sen, gut getrun­ken. Die Nacht ist hell, als wir uns auf den Heimweg machen. Obschon nur aus weni­gen Häusern ein Lichtstrahl nach aus­sen dringt. Weil die meis­ten Wohnungen leer ste­hen, wie fast immer, hier oben.

Am nächs­ten Morgen an der Schilthornbahn uner­war­te­tes Gedränge. Anstehen, fast wie frü­her. Das Infernorennen steht vor der Tür – laut Eigenwerbung das «ältes­te Skirennen der Welt». Reiche Briten hat­ten Anfang des 20. Jahrhunderts den Wintersport nach Mürren gebracht. Damals stie­gen die Wagemutigen noch mit eige­ner Kraft zum Gipfel hoch und kämpf­ten sich auf Holzlatten durch wil­des Gelände talwärts.

Ihre Nachkommen gon­deln heu­te, behelmt und im Rennanzug, bequem per Bahn aufs Schilthorn, von wo sie sich auf wohl­prä­pa­rier­ten Pisten in die Tiefe stür­zen. Noch immer sind vie­le Britinnen und Briten beim Infernorennen mit von der Partie. Beim Anstehen unter­hal­ten sich neben uns zwei jün­ge­re Mitglieder des noblen Kandahar-Skiclubs über ihren Kriegseinsatz in Afghanistan und was die­ser gebracht habe – für ihre Karriere.

Heile Welt ade! Zumal schon am Vorabend, ange­sichts der dunk­len Häuser, ein etwas bös­ar­ti­ger Geistesblitz durch mei­nen Kopf zuck­te: Warum eigent­lich brin­gen wir Flüchtlinge in unter­ir­di­schen Zivilschutzanlagen und in hur­tig hin­ge­zim­mer­ten Bretterverschlägen unter? Wo es hier oben (und nicht nur in Mürren…) so viel leer­ste­hen­den Wohnraum gibt?

Unser Bundespräsident erklärt der­weil der Welt, die Schweiz sei, was die Aufnahme von Flüchtlingen anbe­lan­ge, an ihrer «Kapazitätsgrenze» ange­langt. Die hohe Netto-Zuwanderungsrate von jähr­lich rund 80’000 Personen in den «sta­bi­len und inno­va­ti­ven Wirtschaftsstandort Schweiz» mache den Menschen Angst, so Schneider-Ammann.

Mit ande­ren Worten: Weil schon so vie­le kom­men, um unse­re Wirtschaft und unse­ren Wohlstand wei­ter anzu­hei­zen und zu ver­meh­ren, hat es kei­nen Platz für jene, die aus Not und Verzweiflung Asyl bean­tra­gen. Wunderbar inno­va­tiv, die­ser Wirtschaftsstandort Schweiz! Und wie es sich heu­te gehört: Wirtschaft geht vor Menschenrecht…

Wirklich inno­va­tiv wäre die Suche nach Wegen, die Asylrecht und erfolg­rei­ches Wirtschaften in Einklang brin­gen. Niemand sagt, dass das ein­fach sei. Und wer ehr­lich ist, gibt zu, dass ein Wachstum ohne Ende nicht mög­lich ist und der Glaube dar­an in die Sackgasse führt.

Dazu — bloss als Gedankenanstoss — eine Geschichte aus Mürren: Nachdem die ers­ten tou­ris­ti­schen Hoffnungsjahre der Belle Epoque mit dem ers­ten Weltkrieg ein jähes Ende gefun­den hat­ten, plat­zier­te das Rote Kreuz ver­letz­te und kran­ke bri­ti­sche Soldaten in den lee­ren Hotelbetten und auch bei Privaten. Genau 100 Jahre sind es her, dass das Bergbauerndorf mit damals rund 300 Einwohnerinnen und Einwohnern 800 Kriegsverletzte und Rekonvaleszente aus Grossbritannien auf­ge­nom­men hat! Während zwei Jahren leb­ten fast drei­mal sovie­le Fremde in Mürren, wie Einheimische. Im 2. Weltkrieg fan­den sogar 100 Flüchtlinge, die meis­ten aus Italien, auf der Sonnenterrasse hoch über dem Lauterbrunnental Zuflucht.

Dazu schreibt der Mürrener Chronist Max Amstutz: «Die Internierten waren ein gros­ses Glück für Mürren, nicht nur für die Zeit des Krieges. Sie tru­gen den Namen Mürrens hin­aus in die Welt und kehr­ten nach dem Krieg zurück in die Bergwelt Mürrens, die sie in der Kriegszeit als «love­liest place in Europe» ken­nen und lie­ben gelernt hat­ten, wur­den Gäste, die dem klei­nen Kurort seit­her die Treue gehal­ten haben und nun Sommer wie Winter qua­si sei­ne Existenz garantieren.

Erschreckende Parallelen

Schnell ein­mal zei­gen wir mit Fingern auf Ungarn und Polen, wo Rechtspopulisten die Demokratie unter­lau­fen. Distanzieren uns von den Franzosen, die dem Front National zu Mehrheiten ver­hel­fen und ent­set­zen uns über die Pegida-Demonstrationen in Deutschland.

Gleichzeitig üben wir uns in selbst­ge­fäl­li­ger Gelassenheit, wenn es um ähn­li­che Entwicklungen in der Schweiz geht. Der Rechtsrutsch bei den letz­ten Wahlen führ­te eben­so wenig zu einem Aufschrei wie die Machenschaften der SVP, wel­che die Schweizer Demokratie für ihre Zwecke instru­men­ta­li­sie­ren und den Rechtsstaat genau­so aus den Angeln zu heben ver­su­chen, wie ihre Geistesbrüder und ‑schwes­tern in Polen.

Die soge­nann­te Flüchtlingskrise wie auch die Silvesternacht in Köln sei­en halt Wasser auf die Mühlen der Rechten, heisst es schnell ein­mal. Man tut so, als wäre dies natur­ge­ge­ben und völ­lig normal.

Natürlich sind sol­che Ereignisse «Wasser auf die Mühlen der Asylgegner» — vor allem, wenn sie von den Medien ent­spre­chend auf­be­rei­tet wer­den. Wie anders ist sonst zu ver­ste­hen, dass der BLICK den SVP-Imam Blocher zu Köln befragt? Ein Steilpass für sei­ne Hetze.

Schlimmer noch: Nationalrat und Chefredaktor Köppel erhält (ein­mal mehr) bei Schawinski im öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen eine Plattform. Obschon – oder etwa weil? – er sich mit sei­nem Editorial in der Weltwoche als heim­li­cher Bewunderer des Nazi-Verbrechers Göring geoutet hat.

Nie hät­te ich gedacht, dass sol­ches hier­zu­lan­de über­haupt mög­lich und salon­fä­hig ist.

Mein Vater, der als 13-Jähriger in Deutschland von der Schule flog, weil er jüdi­scher Herkunft ist, sieht erschre­cken­de Parallelen. Er sagt, den Musliminnen und Muslimen in der Schweiz und in Europa dro­he heu­te, was sie damals erlebt hät­ten: Verfolgung und Diffamierung wegen ihrer Herkunft.

Integration, so mein Vater, sei kei­ne ein­sei­ti­ge Angelegenheit: In Deutschland sei­en damals die gut inte­grier­ten, teil­wei­se seit Jahrhunderten dort leben­den Juden ver­folgt wor­den, weil der Diktator und sei­ne Helfershelfer Sündenböcke brauch­ten. Heute wür­den Musliminnen und Muslimen ähn­li­ches erle­ben… Noch fin­det er, die Situation sei unter Kontrolle, weil unse­re Gesetze Sicherheit böten, vor men­schen­ver­ach­ten­den Exzessen. Die Entwicklung, die sich aber abzeich­net, erfüllt nicht nur mei­nen Vater mit Sorge.

Jüngstes Beispiel: Die Genfer Polizei hat­te im Dezember die Badges von einer Reihe von Flughafen-Mitarbeitern gesperrt. Aus Sicherheitsgründen, lau­te­te die Begründung, wei­te­re Erklärungen wur­den ver­wei­gert. Der Anwalt der Ausgesperrten gab gegen­über Radio SRF bekannt: Der ein­zi­ge gemein­sa­me Nenner sei, dass sie alle mus­li­mi­scher Herkunft seien…

Und im Februar droht mit der SVP-Durchsetzungsinitiative ein wei­te­rer Schritt in eine gefähr­li­che Richtung: Wird sie ange­nom­men, ist man der Abschaffung der Gewaltenteilung ein gros­ses Stück näher. Die Frage ist nur, wer hat’s erfun­den: die Ungarn, die Polen, die SVP oder die Nationalsozialisten? Fehlt nur noch die Wiedereinführung der Todesstrafe. Man kann sich durch­aus vor­stel­len, dass Schriftleiter Dr. Köppel eines Tages auch die­se Idee edi­to­ri­al pro­mo­ten könnte.

Von den Schweizer Intellektuellen ist bis­her kaum Protest zu ver­neh­men. Lange schien es, als ob auch die drit­te Gewalt — die Justiz — wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt sei. In den letz­ten Wochen wag­ten bloss ver­ein­zel­te ehe­ma­li­ge und amtie­ren­den Bundesrichter den Klartext. Umso wich­ti­ger die heu­ti­ge Veröffentlichung des von 120 RechtsprofessorInnen unter­zeich­ne­ten Manifests, in dem Punkt für Punkt auf­ge­zeigt wird, wie die Durchsetzungsinitiative die schwei­ze­ri­sche Rechtsordnung «mehr­fach und in schwer­wie­gen­der Weise» gefährdet.

Es ist zu hof­fen, dass ihre Argumente brei­tes Gehör fin­den und die StimmbürgerInnen in die­sem Land end­lich erwa­chen! Es ist höchs­te Zeit, dass wir Stellung bezie­hen und uns klar, ohne Wenn und Aber, zum Schweizerischen Rechtsstaat beken­nen: Die SVP ver­dient am 28. Februar eine saf­ti­ge Ohrfeige.

(K)eine alte Geschichte

«Reis für die Welt», unser ers­ter gemein­sa­mer Dokfilm, wur­de vor genau 20 Jahren in der Sendung MTW (Menschen Technik Wissenschaft) des Schweizer Fernsehens urauf­ge­führt. Es ging um die Frage, ob Gentechnologie oder Biolandwirtschaft der rich­ti­ge Weg sei, um Hunger und Armut zu überwinden.

Aufgrund gründ­li­cher Recherchen und nach den Dreharbeiten an der ETH und auf den Philippinen, war für uns klar: Statt Hightech-Methoden in den Labors zu för­dern, über deren lang­fris­ti­ge Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und die Ökosysteme man kei­ne gesi­cher­ten Erkenntnisse hat, braucht es ver­mehrt Unterstützung für Kleinbauern, die mit eige­nem Saatgut, natur­nah und nach­hal­tig produzieren.

Trotzdem soll­te das Fazit unse­res Films, auf Druck des dama­li­gen Redaktionsleiters beim MTW, «aus­ge­wo­gen» aus­fal­len und offen las­sen, ob Bio oder Hightech der Menschheit den bes­se­ren Nutzen brin­ge. Er sel­ber ent­schied sich für den Gentech-Weg – mit Erfolg: Sein Engagement für die Biotechnologie brach­te ihm, nach sei­ner Zeit beim Schweizer Fernsehen, wie­der­holt lukra­ti­ve Mandate ein.

Als unser Film aus­ge­strahlt wur­de, stand die von der Agro-Industrie gepush­te grü­ne Gentechnologie erst in den Startlöchern: 1995 wur­de in den USA erst­mals gen­tech­nisch ver­än­der­tes Saatgut für den kom­mer­zi­el­len Anbau frei­ge­ge­ben. In der Folge brei­te­ten sich die Anbauflächen Jahr für Jahr aus: Heute wer­den laut Statistiken der Agro-Lobbyagentur ISAAA auf 181 Millionen Hektaren gen­tech­nisch ver­än­der­te Pflanzen ange­baut — dies ent­spricht rund 13 Prozent der welt­wei­ten Ackerfläche.

Für Agrokonzerne wie Monsanto oder Syngenta ist die Gentechnologie ein mehr­fach lukra­ti­ves Geschäft: Biotechnologisch her­ge­stell­te Pflanzen las­sen sich nicht nur paten­tie­ren – über die Hälfte der kom­mer­zi­el­len Gentechpflanzen erhiel­ten eine Resistenz gegen Herbizide ver­passt, die von den Herstellern gleich mit­ge­lie­fert wer­den. Verwendung fin­det die­ses Saatgut in der indus­tri­el­len, von Monokulturen domi­nier­ten Landwirtschaft in Ländern wie den USA, Kanada, Brasilien, Indien oder China. Am wei­tes­ten ver­brei­tet ist das soge­nann­te Round-up-Ready-Saatgut von Monsanto, das gegen Glyphosat resis­tent ist.

Die Forscher an der ETH, deren Arbeit wir doku­men­tier­ten, distan­zier­ten sich von solch kom­mer­zi­el­len Machenschaften. Sie kon­stru­ier­ten in ihren Labors gen­tech­nisch ver­bes­ser­te Reissorten, die der­einst den armen Bauern in Asien und Afrika die Überwindung von Armut und Hunger ermög­li­chen soll­ten. Die Vision des mitt­ler­wei­le eme­ri­tier­ten ETH-Professors Ingo Potrykus: Gentechnisch ver­edel­ter «Golden Rice» zur Bekämpfung von Vitamin-A-Mangel. Ein tech­no­kra­ti­scher Ansatz, der an der Realität vor­bei­zielt: Die Kleinbauern, die wir auf den Philippinen besuch­ten, waren stolz auf ihr selbst­ge­züch­te­tes Saatgut. Sie ver­zich­te­ten auf den Zukauf von gif­ti­gen Pflanzenschutzmitteln und konn­ten des­halb in den bewäs­ser­ten Reisfeldern Fische aus­set­zen und auf den Dämmen Gemüse pflan­zen. Damit ver­bes­ser­ten die Biobauern gleich­zei­tig die Biodiversität auf den Feldern sowie ihre Erträge.

Solche Ansätze für eine nach­hal­ti­ge Ernährungssicherung wer­den ger­ne belä­chelt. Kritische Stimmen, die vor den Folgen gen­tech­ni­scher Veränderungen war­nen oder den Nutzen der Biotechnologie für die Landwirtschaft in Frage stel­len, bekämpft die Agro-Industrie seit zwan­zig Jahren mit aller Härte. Dabei schreckt sie auch nicht davor zurück, unlieb­sa­me Forschungsresultate unter den Tisch zu keh­ren und Wissenschaftler, die kri­ti­sche Fragen stel­len, zu diffamieren.

Jüngstes Beispiel dafür ist der ame­ri­ka­ni­sche Biologe Jonathan Lundgren, der von sei­ner Arbeitgeberin – der US-Agrarbehörde USDA – dis­pen­siert wur­de. Dies – so schreibt er in sei­ner Whistleblower-Klage ans US-Bundesgericht – weil er u.a. auf mög­li­che Risiken von RNAi-Pestiziden hin­ge­wie­sen habe. Diese Neuentwicklungen der Grünen Gentechnologie, die von den Agro-Konzernen vor­an­ge­trie­ben wird, zielt dar­auf, Schädlinge durch das Ausschalten bestimm­ter Gene in deren Erbgut zu eliminieren.

Die Zulassung von RNAi-modi­fi­zier­tem Saatgut soll – wie dies in den letz­ten 20 Jahren immer wie­der prak­ti­ziert wur­de – ohne genü­gen­de Risikoabklärungen mög­lichst rasch durch­ge­winkt wer­den. Dies, obschon man heu­te sogar noch bes­ser als damals weiss, dass Gentechnologie kei­ne Antwort bringt, auf die drän­gen­den Fragen die­ser Welt.

Trotzdem wird Risikoforschung von der Agro-Industrie und ihrer Lobby immer noch unter­drückt oder gar ver­hin­dert. Und Gentech-Promotoren wer­den nicht müde zu behaup­ten, die Biotechnologie ret­te die Welt. — Unser Film «Reis für die Welt» ist heu­te noch genau­so aktu­ell wie damals. Ob wir uns dar­über freu­en sollten?

Perspektivenwechsel

Es ist kalt in Europa. Sogar auf der grie­chi­schen Insel Lesbos schneit es. Und immer noch und immer wie­der stran­den Schlauchboote mit halb erfro­re­nen Menschen. Sie wagen die gefähr­li­che Überfahrt aus der Türkei nach Griechenland, nach Europa trotz aller Risiken. Ihre Not ist gross.

Heute Morgen auf der erschüt­tern­de Aufruf eines Helfers, der vor Ort ver­sucht, den Ankömmlingen zu hel­fen. Wie er, berich­ten unzäh­li­ge Freiwillige aus ganz Europa von den Tragödien, die sich Tag für Tag abspie­len. An den Küsten Griechenlands, auf den Flüchtlingsrouten quer durch Europa.

Tragödien, die nicht sein müss­ten. Die nicht sein dürf­ten. Eine Schande, was sich gegen­wär­tig abspielt – und ein per­ma­nen­ter Verstoss gegen die Menschenrechte. Gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die auch die Schweiz unter­zeich­net hat. Gegen die huma­nis­ti­schen Traditionen, deren man sich in Europa so ger­ne rühmt.

Wo aber kann man jene ein­kla­gen, die alles dar­an set­zen, Flüchtlingen die Flucht zu ver­un­mög­li­chen oder zu erschweren?

Ganz Europa sitzt auf der Anklagebank, inklu­si­ve die Schweiz. Die Verantwortung tra­gen jene Politikerinnen und Politiker, die sich für die Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex stark machen, statt Fähren bereit­zu­stel­len, um den Menschen auf der Flucht eine siche­re Überfahrt zu ermöglichen.

Auf der Anklagebank sit­zen all jene, die mit Hintergedanken Ängste schü­ren und den Untergang der euro­päi­schen Kulturen pro­gnos­ti­zie­ren. All jene, die aus der Tatsache, dass Menschen flüch­ten müs­sen, eine Flüchtlingskrise machen. Die behaup­ten, wir stün­den vor unüber­wind­ba­ren Problemen, wenn noch mehr unge­be­te­ne ZuwandererInnen kom­men. Wohlgemerkt: Unter der soge­nann­te Flüchtlingskrise ver­ste­hen sie eine Krise, die uns bedroht – Europa, die Schweiz.

Für all­zu vie­le ist die­se «Krise» ein loh­nen­des Geschäft. Nicht nur Schlepper und Schwimmwestenverkäufer ver­die­nen gutes Geld an jenen, die tat­säch­lich eine Krise erlei­den – den Flüchtlingen. Immer mehr «VerteidigerInnen des Abendlandes» kochen ihre brau­ne Suppe auf den Flammen, die sie mit dem hys­te­ri­schen Herbeireden von Gefahren und Bedrohungen schü­ren. Grausam, aber wahr: In der ers­ten Reihe mit dabei sind auch ehe­ma­li­ge Flüchtlinge, die es mitt­ler­wei­le zur Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz geschafft haben.

Dabei wäre es höchs­te Zeit, sich eines Besseren zu besin­nen: Während Jahrhunderten haben Menschen aus Europa den Rest der Welt als Wirtschaftsflüchtlinge heim­ge­sucht. Sind aus­ge­wan­dert, haben gan­ze Kontinente in Besitz genom­men, erobert. Oft mit töd­li­chen Folgen für die Menschen, die sie in Übersee tra­fen und deren alt­ein­ge­ses­se­ne Kulturen.

Uns in Europa geht es bes­ser als den Indios, Aborigines oder Native Americans damals: Die Menschen, die heu­te zu uns kom­men, sind kei­ne Eroberer. Sie wol­len Sicherheit, und sie möch­ten teil­ha­ben, an die­sem viel­ge­rühm­ten Europa mit sei­nem legen­dä­ren Wohlstand.

Seit Jahrhunderten wis­sen Europäer und Auswanderer aus Europa den Rest der Welt für ihre Zwecke nutz­bar zu machen. Das hat­te teils fata­le geo­po­li­ti­sche Folgen, die in Kriege aus­ar­te­ten. Die Waffen, die wir bis heu­te in Kriegsgebiete ver­kau­fen sind nur das kras­ses­te Beispiel dafür, wie Europa ganz direkt dazu bei­trägt, dass Menschen flie­hen müs­sen. Während wir gleich­zei­tig so tun, als wären wir die Bedrohten.

Dabei könn­te man die Situation auch ganz anders sehen. Als Chance: Europa ist über­al­tert, bei der ein­hei­mi­schen Bevölkerung sind die Geburtenraten fast über­all rück­läu­fig. Europa braucht neue Impulse, einen Neuaufbruch.

Auf die Frage, ob Deutschland zwei Millionen MigrantInnen ver­kraf­ten kön­ne, ant­wor­te­te Yanis Varoufakis kürz­lich: «Natürlich kann es das. Die Geschichte zeigt, dass seit der Vorsteinzeit immer jene Regionen pro­fi­tiert haben, die MigrantInnen will­kom­men hies­sen. Schlecht weg­ge­kom­men sind jene, die Leute expor­tiert haben. Die USA wären heu­te kei­ne Weltmacht, wenn sie im 19. Jahrhundert Zäune gebaut hätten.»

Schadensbegrenzung

Sachkundig macht sich der Experte an die Arbeit. Die Versicherung hat­te ihn auf­ge­bo­ten, um die Offerte für die Liftreparatur zu überprüfen.

Auch der Motor der Liftanlage war wäh­rend Stunden im Wasser, die Steuerung teil­wei­se. Entsprechend gross ist die Anzahl der Teile, die laut Offerte der Liftfirma AS – einer Tochter der Schindler Aufzüge – ersetzt oder gründ­lich revi­diert wer­den müs­sen. Allerdings haben die Monteure von AS, die den Schaden begut­ach­tet und die Offerte erar­bei­tet haben, offen­bar nicht jeg­li­che Funktion dar­auf­hin über­prüft, ob sie mög­li­cher­wei­se das Wasser über­stan­den hat.

Posten in der Offerte, die auf blos­sen Annahmen basie­ren, lässt der Experte nicht gel­ten. Ob der Schaden am Motor so gross sei, wie in der Offerte behaup­tet, zei­ge sich erst, wenn des­sen Antrieb demon­tiert und aus­ein­an­der genom­men wor­den sei, sagt er. Und ver­ein­bart mit dem AS-Vertreter einen wei­te­ren Termin. Auch Netzgerät und Steuerung will er nicht unge­schaut ersetzt wis­sen. Im Sicherungskasten steckt immer noch die kaput­te Sicherung – nach eini­gem Suchen fin­det sich ein Ersatz. Und sie­he da: Die Anlage springt an…

Was nur bedingt erstaunt. Auch ande­re elek­tri­sche und elek­tro­ni­sche Geräte haben die Flutung über­lebt. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die feucht gewor­de­nen Teile von innen her vom Rost zer­fres­sen wer­den und in ein paar Wochen oder Monaten eben­falls den Geist auf­ge­ben. Endgültig.

Alle ande­ren elek­tri­schen Anlagen im Haus, die unter Wasser gestan­den haben, wer­den des­halb ersetzt – anstands­los. Beim Lift hin­ge­gen, hat der Experte sein Veto ein­ge­legt – weil ein Teil der Anlage, nament­lich das Netzgerät, nie unter Wasser gestan­den sei.

Dass man der Firma AS genau auf die Finger schaut, leuch­tet den Liftbesitzern ein. Auch sie haben sich schon von einem Experten bera­ten las­sen, nach­dem der täg­lich benutz­te Lift nach einer Revision plötz­lich kaputt war und eine Reparatur von meh­re­ren Tausend Franken ins Haus stand. Das Mysterium konn­te aller­dings nie geklärt wer­den und sie muss­ten bezah­len. Wie auch für den Ersatz des defek­ten Notlichts (eine klei­ne Leuchtdiode, die aber gesetz­lich vor­ge­schrie­ben ist), wofür AS das gan­ze Steuerungspanel in der Liftkabine aus­wech­sel­te. Es gehe nicht anders, hiess es von der Firma.

Das Geschäft mit den Aufzügen ist hier­zu­lan­de ein mono­po­li­sier­tes. Umso wich­ti­ger sind die Experten, die die Geschäftsmethoden von Schindler, Ortis und Co ken­nen und durch­leuch­ten. Allerdings han­delt es sich natür­lich auch hier nicht um „neu­tra­le“ Fachleute.

Der Experte, der von der Versicherung bei­gezo­gen wird, ist dafür bezahlt, deren Interesse zu ver­tre­ten. Zudem ist anzu­neh­men, dass er nach Aufwand ent­schä­digt wird: Je län­ger und genau­er er sich den Schaden anschaut, des­to  grös­ser sein Verdienst. Vor allem aber wird er ver­su­chen, den Preis der Offerte soweit als mög­lich zu drü­cken. Je mehr er erreicht, des­to zufrie­de­ner sind sei­ne Kunden.

Der nächs­te Posten in der Offerte für die Liftreparatur nach der Überschwemmung, der der Prüfung des Experten Prüfung nicht stand­hält, ist der Ersatz der Tragseile. Ein kur­zer Blick genügt ihm, um fest­zu­stel­len, dass sie kei­nen Rost ange­setzt haben. Allerdings emp­fiehlt die Herstellerfirma Brugg AG drin­gend, die Stahlseile nach einem sol­chen Schadensfall zu erset­zen. Möglicherweise ste­hen auch bei die­ser Empfehlung Eigeninteressen im Vordergrund: Die Seilhersteller wol­len Seile ver­kau­fen. Allerdings ken­nen sie ihre Produkte sehr genau und wol­len kei­ne Risiken zulas­sen. Die Empfehlung, ein unver­zink­tes Seil, das teil­wei­se im Wasser stand zu erset­zen, erscheint gar der Laiin plausibel.

Als Eigentümerin und Liftmitbesitzerin bleibt des­halb ein ungu­tes Gefühl: Darf der Experte sich über sol­che Empfehlungen hin­weg set­zen? rMüsste man nun sei­ner­seits einen Experten bei­zie­hen, oder die neu­en Seile sel­ber bezahlen?

Womit wir beim Kernthema wären: Das lie­be Geld. Es darf davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass bereits heu­te die Kosten für Begutachtungen und Streit den Betrag, den der Experte schliess­lich mit sei­nen Interventionen her­un­ter­han­delt, längst übersteigen.

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