Ein verlängertes Wochenende in Mürren. Verschneite Strassen, glasklare Luft – wohltuende Ruhe. Weit weg und schnell vergessen sind das hektische Treiben der Stadt und die zermürbenden News zum aktuellen Stand der Politik. Wie immer, hier oben, das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben – und die Welt sei in Ordnung.
Der Vollmond taucht die imposante Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau in liebliches Weiss. Der erste Abend im unverwüstlichen Stägerstübli hat uns euphorisch gestimmt: Liebe Freunde getroffen – in guter Gesellschaft fein gegessen, gut getrunken. Die Nacht ist hell, als wir uns auf den Heimweg machen. Obschon nur aus wenigen Häusern ein Lichtstrahl nach aussen dringt. Weil die meisten Wohnungen leer stehen, wie fast immer, hier oben.
Am nächsten Morgen an der Schilthornbahn unerwartetes Gedränge. Anstehen, fast wie früher. Das Infernorennen steht vor der Tür – laut Eigenwerbung das «älteste Skirennen der Welt». Reiche Briten hatten Anfang des 20. Jahrhunderts den Wintersport nach Mürren gebracht. Damals stiegen die Wagemutigen noch mit eigener Kraft zum Gipfel hoch und kämpften sich auf Holzlatten durch wildes Gelände talwärts.
Ihre Nachkommen gondeln heute, behelmt und im Rennanzug, bequem per Bahn aufs Schilthorn, von wo sie sich auf wohlpräparierten Pisten in die Tiefe stürzen. Noch immer sind viele Britinnen und Briten beim Infernorennen mit von der Partie. Beim Anstehen unterhalten sich neben uns zwei jüngere Mitglieder des noblen Kandahar-Skiclubs über ihren Kriegseinsatz in Afghanistan und was dieser gebracht habe – für ihre Karriere.
Heile Welt ade! Zumal schon am Vorabend, angesichts der dunklen Häuser, ein etwas bösartiger Geistesblitz durch meinen Kopf zuckte: Warum eigentlich bringen wir Flüchtlinge in unterirdischen Zivilschutzanlagen und in hurtig hingezimmerten Bretterverschlägen unter? Wo es hier oben (und nicht nur in Mürren…) so viel leerstehenden Wohnraum gibt?
Unser Bundespräsident erklärt derweil der Welt, die Schweiz sei, was die Aufnahme von Flüchtlingen anbelange, an ihrer «Kapazitätsgrenze» angelangt. Die hohe Netto-Zuwanderungsrate von jährlich rund 80’000 Personen in den «stabilen und innovativen Wirtschaftsstandort Schweiz» mache den Menschen Angst, so Schneider-Ammann.
Mit anderen Worten: Weil schon so viele kommen, um unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand weiter anzuheizen und zu vermehren, hat es keinen Platz für jene, die aus Not und Verzweiflung Asyl beantragen. Wunderbar innovativ, dieser Wirtschaftsstandort Schweiz! Und wie es sich heute gehört: Wirtschaft geht vor Menschenrecht…
Wirklich innovativ wäre die Suche nach Wegen, die Asylrecht und erfolgreiches Wirtschaften in Einklang bringen. Niemand sagt, dass das einfach sei. Und wer ehrlich ist, gibt zu, dass ein Wachstum ohne Ende nicht möglich ist und der Glaube daran in die Sackgasse führt.
Dazu — bloss als Gedankenanstoss — eine Geschichte aus Mürren: Nachdem die ersten touristischen Hoffnungsjahre der Belle Epoque mit dem ersten Weltkrieg ein jähes Ende gefunden hatten, platzierte das Rote Kreuz verletzte und kranke britische Soldaten in den leeren Hotelbetten und auch bei Privaten. Genau 100 Jahre sind es her, dass das Bergbauerndorf mit damals rund 300 Einwohnerinnen und Einwohnern 800 Kriegsverletzte und Rekonvaleszente aus Grossbritannien aufgenommen hat! Während zwei Jahren lebten fast dreimal soviele Fremde in Mürren, wie Einheimische. Im 2. Weltkrieg fanden sogar 100 Flüchtlinge, die meisten aus Italien, auf der Sonnenterrasse hoch über dem Lauterbrunnental Zuflucht.
Dazu schreibt der Mürrener Chronist Max Amstutz: «Die Internierten waren ein grosses Glück für Mürren, nicht nur für die Zeit des Krieges. Sie trugen den Namen Mürrens hinaus in die Welt und kehrten nach dem Krieg zurück in die Bergwelt Mürrens, die sie in der Kriegszeit als «loveliest place in Europe» kennen und lieben gelernt hatten, wurden Gäste, die dem kleinen Kurort seither die Treue gehalten haben und nun Sommer wie Winter quasi seine Existenz garantieren.