Gestohlene Zeit

Nun will man in der EU also wie­der auf Wachs­tum set­zen, um der Wirt­schaft neuen Schwung zu ver­lei­hen. Mit fri­schen Inve­sti­tio­nen soll das gefräs­sige Per­pe­tuum Mobile auf­ge­füt­tert und in Gang gehal­ten wer­den. Davon pro­fi­tie­ren wer­den, ein­mal mehr, die Kreditgeber. 

Längst hat die Poli­tik ihr Pri­mat (so sie es je hatte) an die Wirt­schaft ver­lo­ren, und damit an die Finanz­welt, die zuneh­mend jeg­li­ches Han­deln in der glo­ba­li­sier­ten Welt domi­niert. Basis der heu­ti­gen Bezie­hun­gen, sowohl im Klei­nen wie auf inter­na­tio­na­ler Ebene, ist die Schuldenwirtschaft.

Es gebe durch­aus legi­time For­men von Ver­schul­dung, schreibt der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph und Anthro­po­loge Mar­cel Hén­aff in sei­nem Essay «Men­schen und Schul­den»(*). So zum Bei­spiel, wenn sie als Instru­ment der Ent­wick­lung von Reich­tum, der allen zugute kommt, ein­ge­setzt werde. Heute sei man jedoch mit der Tat­sa­che kon­fron­tiert, dass «die Ver­schul­dung von Staa­ten, Unter­neh­men und Pri­vat­per­so­nen nicht nur immer kolos­sa­lere Aus­masse annimmt, son­dern auch per­ver­ser Natur ist.» Per­vers, weil die Finanz­spe­ku­lan­ten ihre Kre­dite nicht für schöp­fe­ri­sche Ziel­set­zun­gen zur Ver­fü­gung stel­len, son­dern damit ein­zig und allein Pro­fit, und immer mehr Pro­fit, erzie­len wollen.

Wer spe­ku­liert, kauft und ver­kauft Zeit. Denn ein Kre­dit ist nichts ande­res, als die Inve­sti­tion in eine Hand­lung, die erst in Zukunft statt­fin­den wird. Ent­spre­chend gross war anfäng­lich das Miss­trauen in diese Form des Geld­ver­die­nens. In der Antike galt das Dar­le­hen gegen Zin­sen als per­ver­ses Ele­ment, wie Hén­aff schreibt: «Das hat nie­mand bes­ser for­mu­liert als Ari­sto­te­les in sei­ner Beschrei­bung der Kunst, unan­ge­mes­sene Pro­fite zu machen. (…) Eine Kunst, die ihm zufolge dar­auf hin­aus­läuft, die Zeit zu instru­men­ta­li­sie­ren, sie zum Äqui­va­lent eines mensch­li­chen Akteurs zu machen.»

Im Zen­trum der Kri­tik stand dabei weni­ger die Gewinn­sucht der Kre­dit­ge­ber, als deren Herr­schaft über die Zeit. Im Mit­tel­al­ter wur­den Wuche­rer fol­ge­rich­tig auch als «Zeit­diebe» beschimpft, und Tho­mas von Chob­ham, ein Theo­loge aus dem 13. Jahr­hun­dert monierte: «So leiht der Wuche­rer nicht, was ihm gehört, son­dern nur die Zeit, die Gott gehört.»

Mitt­ler­weile dürfte die Menge der ver­lie­he­nen Zeit galak­ti­sche Dimen­sio­nen erreicht haben: Aktu­ell soll sich der welt­weit ange­sam­melte Schul­den­berg auf 50 Bil­lio­nen USD belau­fen – und die Spi­rale dreht sich immer weiter.

Das Finanz­we­sen, schreibt Mar­cel Hén­aff, habe die Ewig­keit in der End­lich­keit der Zeit erfun­den: «Die Finanz­spe­ku­la­tion impor­tiert die Zukunft in die Gegen­wart und beu­tet die Gegen­wart aus. Ihr Ziel ist es, uns heute etwas genies­sen zu las­sen, was wir nie bezah­len wer­den. Eben des­halb müs­sen die Schul­den unent­wegt über­tra­gen, das heisst auf­ge­scho­ben wer­den. Wir tre­ten in eine Zeit der insol­ven­ten Mensch­heit ein.»

(*) Lettre Inter­na­tio­nal Nr. 96, Früh­jahr 2012

Doppelt missbraucht

Das Bild eines Vier­jäh­ri­gen mit Spiel­zeug­pi­stole hat zu Recht für Empö­rung gesorgt. Weil es als Teaser für einen ein­sei­tig recher­chier­ten, ras­si­sti­schen Hetz­ar­ti­kel auf der Front eines ein­schlä­gig bekann­ten Maga­zins miss­braucht wird. 

Die mediale Ant­wort dar­auf ist aller­dings kei­nen Deut bes­ser: der glei­che Junge posiert statt mit Revol­ver nun mit besag­tem Blatt, das ihm ein aus der Schweiz ange­rei­ster Foto­graf in die Hand gedrückt hat. Dies­mal kommt das Bild als Teaser auf die Front der WOZ. – Wie die Welt­wo­che, miss­braucht auch sie den Roma-Jun­gen für ihre eige­nen Interessen.

Der Welt­wo­che dient er als „Sym­bol“ für die Roma-Ver­bre­cher­ban­den, die unser Land angeb­lich zuneh­mend bedro­hen. Abge­se­hen davon, dass der Arti­kel in bekann­ter Manier einem bil­li­gen und durch­sich­ti­gen The­sen­jour­na­lis­mus frönt, ist das Bild auch falsch: Roma­kin­der, die von Ban­den zum Steh­len und Bet­teln aus­ge­nützt wer­den, haben weder Zeit noch Musse, mit Spiel­zeug­pi­sto­len herumzutollen.

Sol­che Sze­nen sieht man hier­zu­lande anderswo. So kann es vor­kom­men, dass man in einer fami­li­en­freund­li­chen Sied­lung, wo päd­ago­gi­sche und anthro­po­so­phi­sche Werte hoch gehal­ten wer­den, von den umsorg­ten Spröss­lin­gen treu besorg­ter Eltern schwei­ze­ri­scher und deut­scher Pro­ve­ni­enz mit vor­ge­hal­te­ner Spiel­zeug­waffe begrüsst wird.

So gese­hen ist es ein «Glücks­fall», dass der Bub auf dem Bild tat­säch­lich ein Roma­kind ist. Wenn es auch im fer­nen Kosovo lebt. Von der Schweiz aller­dings dürfte er vor zwei Wochen zum ersten Mal gehört haben. Und auf die Idee, ihn hier her zu schicken, um uns zu besteh­len, schei­nen seine Eltern bis­her auch nicht gekom­men zu sein.

Dies berich­ten die Repor­ter der WOZ. Schnell hat­ten sie die Iden­ti­tät des Jun­gen her­aus­ge­fun­den und rei­sten in den Kosovo – ver­führt durch den raschen Recher­ché-Erfolg und die Zusage der Eltern, dass sie sich für eine Repor­tage zur Ver­fü­gung stel­len wür­den. Aller­dings kamen sie bald dar­auf mit einer allzu ein­fa­chen Geschichte nach Hause, die im Wesent­li­chen besagt: Ent­war­nung! Den Romas, die wir getrof­fen haben geht’s zwar hunds­mi­se­ra­bel, aber der kleine Bub und seine Fami­lie blei­ben trotz­dem dort.

Wäh­rend die Welt­wo­che Romas ver­teu­felt und ihre Lebens­si­tua­tion dabei völ­lig aus­blen­det, fokus­siert die WOZ in ihrer Gegen-Geschichte ein­zig auf die pre­kä­ren und aus­weg­lo­sen Ver­hält­nisse, in denen der Junge und seine Fami­lie leben. Mehr nicht – leider.

Wenn schon ein durch die Welt­wo­che pro­vo­zier­ter Arti­kel über das Thema, warum nicht eine gut recher­chierte Hin­ter­grund­ge­schichte, die eine Brücke schlägt und die Zusam­men­hänge auf­zeigt zwi­schen der Mar­gi­na­li­sie­rung der Roma und der Kri­mi­na­li­sie­rung eines gan­zen Volkes?

Zuge­ge­ben, dies wäre auf­wän­di­ger gewe­sen, als die Repor­ta­ge­reise in den Kosovo. Und mit Sicher­heit nicht so süf­fig und gut zu ver­mark­ten wie der kleine her­zige Junge mit dem Revolver(Blatt).

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