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Kriegsdienstverweigerung – Recht auf Asyl?

Kürz­lich publi­zierte die inter­na­tio­nale Pres­se­agen­tur Pres­senza die Geschichte von Mikita, einem jun­gen bela­rus­si­schen Deser­teur, den die Euro­päi­sche Union – selbst­er­nannte Ver­tei­di­ge­rin der «west­li­chen Werte» – nach Weiss­russ­land zurück­schicken will. Obschon ihm dort Fol­ter und Gefäng­nis, wenn nicht gar die Todes­strafe drohen.

Ange­fan­gen hat die Geschichte im Herbst 2021, als der damals 18jährige Mikita zum obli­ga­to­ri­schen Wehr­dienst in die bela­rus­si­sche Armee ein­ge­zo­gen wurde. Nur sechs Monate spä­ter wurde der Krieg in der Ukraine los­ge­tre­ten. Die jun­gen Sol­da­ten muss­ten damit rech­nen, schon bald als Kano­nen­fut­ter im Dien­ste Lukaschen­kos und Putins an die Front geschickt zu werden.

Ein Krieg, den Mikita nicht mit­tra­gen konnte und wollte. Wäh­rend einer Mili­tär­übung nahe der Grenze zu Litauen, gelang ihm im Mai 2022 die Flucht in die EU. In Litauen stellte der junge Mann umge­hend einen Asyl­an­trag. Die­ser wurde vor weni­gen Wochen in zwei­ter Instanz und damit defi­ni­tiv abge­lehnt. Die Begrün­dung: Bela­rus sei ein siche­res Land, eine Rück­kehr für den geflüch­te­ten Sol­da­ten problemlos.

Eine Ein­schät­zung, die in kras­sem Wider­spruch zu all den Zeu­gen-Berich­ten über Repres­sio­nen, Fol­ter und Miss­hand­lun­gen von Men­schen wie Mikita durch das weiss­rus­si­sche Régime steht. Wenn es um Kri­tik an Lukaschen­kos Unrecht­staat geht, ken­nen west­li­che Politiker:innen in der Regel keine Zurück­hal­tung. Umso stos­sen­der ist es, dass nun aus­ge­rech­net jene Men­schen, die sich wei­gern, im Namen die­ses Staa­tes zu töten, zurück­ge­schickt statt geschützt wer­den sollen.

Mikita ist kein Ein­zel­fall. Ver­schie­dene Quel­len berich­ten, dass bela­rus­si­sche Geflüch­tete in Litauen heute als «Bedro­hung der natio­na­len Sicher­heit» gese­hen und des­halb immer öfter abge­scho­ben werden.

Olga Karach, die Lei­te­rin des Men­schen­rechts­zen­trums «Unser Haus», die sel­ber vor den Repres­sio­nen in ihrer bela­rus­si­schen Hei­mat nach Litauen geflüch­tet ist, schil­dert gegen­über der Zeit­schrift «Spinn­rad» die zuneh­mend auf­ge­heizte Stim­mung: «Einige wer­den sogar mit einem fünf­jäh­ri­gen Visum­ver­bot für die Euro­päi­sche Union zurück­ge­scho­ben, selbst Men­schen, die seit vie­len Jah­ren in Litauen leben, die Spra­che sehr gut beherr­schen und sehr gut inte­griert sind. Auch ich wurde zur Bedro­hung der natio­na­len Sicher­heit Litau­ens erklärt, weil wir in Litauen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer aus Gewis­sens­grün­den schüt­zen. Natür­lich sind wir strikt dage­gen, sie nach Weiss­russ­land abzuschieben.»

Nicht nur Litauen tut sich schwer mit dem Schutz geflüch­te­ter Kriegsdienstverweigerer:innen. Auch im übri­gen Europa und in der Schweiz ist die Flucht vor staat­lich ver­ord­ne­tem Töten kein aus­rei­chen­der Asyl­grund. Im Gegen­teil: Denn im welt­wei­ten mili­tä­ri­schen Den­ken und Han­deln gibt es ein all­ge­mein­gül­ti­ges Dogma. Befehl ist Befehl. Wer sich die­ser Maxime ver­wei­gert, ist hart zu bestra­fen. Dienst­ver­wei­ge­rung wird des­halb kaum als Asyl­grund aner­kannt, auch in der Schweiz nicht. Sie wird als Schwe­ster der Deser­tion behan­delt, die in der Mili­tär­lo­gik zum Zer­fall der Befehls­ma­schi­ne­rie führt.

Gerade aus die­sem Grund ist die Auf­nahme und Unter­stüt­zung von Men­schen, die sich dem Krieg ver­wei­gern, ein radi­ka­ler und sinn­vol­ler Akt der Friedenspolitik.

Statt­des­sen wer­den Friedensaktivist:innen ver­folgt, ein­ge­sperrt und miss­han­delt – beson­ders schlimm ist es in krieg­füh­ren­den Län­dern wie Israel, Russ­land oder der Ukraine, wo Män­ner zum Kriegs­dienst gezwun­gen wer­den. Dies nota­bene, obschon die UNO seit 1987 Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung aus Gewis­sens­grün­den als Men­schen­recht anerkennt.

Ein Men­schen­recht, das in Zei­ten von Auf­rü­stung und neu ange­heiz­tem Mili­ta­ris­mus quer in der Polit­land­schaft steht und bei uns für Kon­tro­ver­sen sorgt. Umso wich­ti­ger ist die Unter­stüt­zung jener muti­gen Men­schen, die sich der Kriegs­ma­schi­ne­rie offen entgegenstellen.

So wie Sofia Orr und Tal Mit­nick, die sich wei­ger­ten, ihren obli­ga­to­ri­schen Mili­tär­dienst in Israel anzu­tre­ten. Die 19jährige Sofia ver­brachte fast drei Monate im Mili­tär­ge­fäng­nis, bevor sie das Mili­tär­ge­richt zur «Dienst­ver­wei­ge­re­rin aus Gewis­sens­grün­den» erklärte – ein Sta­tus, dem man ihrem Kol­le­gen Tal* bis­lang ver­wei­gerte. Er begrün­dete seine Ver­wei­ge­rung im Dezem­ber 2023 mit den Wor­ten: «Ich wei­gere mich zu glau­ben, dass mehr Gewalt Sicher­heit brin­gen wird. Ich wei­gere mich, an einem Krieg der Rache teilzunehmen.»

Noch sind es nur wenige, die den Mut haben, sich gegen die Ein­be­ru­fung zu stel­len – weil für viele wohl die Pflicht am Vater­land vor­geht. Andere sehen schlicht und ein­fach keine Mög­lich­keit, sich dem Befehl zu ent­zie­hen – der Druck von Fami­lie, Gesell­schaft mag eben­falls eine ent­schei­dende Rolle spielen.

Etan Nechin, ein ehe­ma­li­ger israe­li­scher Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, der heute in New York lebt, schreibt aus eige­ner Erfah­rung: «Ver­wei­ge­rung ist nicht hero­isch, aber sie drückt eine andere Art von Ent­schlos­sen­heit aus: Die Ent­schlos­sen­heit, allein zu ste­hen, die Kom­ple­xi­tät des Dis­sen­ses zu bewäl­ti­gen und ange­sichts gesell­schaft­li­cher Span­nun­gen sei­nen Über­zeu­gun­gen treu zu blei­ben; zu erken­nen, dass Rebel­lion not­wen­dig ist, wenn Men­schen einem gewalt­tä­ti­gen und unhalt­ba­ren Sta­tus quo gegenüberstehen.»

Rebel­lion statt Fah­nen­eid mit mili­tä­ri­schem Gehor­sam: Damit wird dem Mili­ta­ris­mus und letzt­lich den Kriegs­trei­bern das Was­ser abge­gra­ben. Genauso wie mit einer Frie­dens­po­li­tik, die statt dem süs­sen Gift von Waf­fen­lie­fe­run­gen und end­lo­ser Ankur­be­lung der Kriegs­in­du­strie zu erlie­gen, Men­schen unter­stützt, die sich dem Krieg ver­wei­gern und ihnen Asyl bietet. 

Ernst Bar­lach, Dom Mag­de­burg: Denk­mal des Krieges

* Nach­trag: Nach 185 Tagen im Knast wurde der 18jährige Tal Mit­nick am 11. Juli 2024 aus dem Mili­tär­dienst ent­las­sen. Er war im Dezem­ber 2023 der erste Wehr­dienst­ver­wei­ge­rer seit Beginn des Gaza-Kriegs und hat die läng­ste Haft­zeit aller Dienst­ver­wei­ge­rer des letz­ten Jahr­zehnts ver­büsst. Sein Kom­men­tar: «Ich bin erleich­tert, dass ich nach so lan­ger Zeit frei­ge­las­sen wurde. Glück­li­cher­weise hatte ich die Mög­lich­keit, mich amKampf gegen den Krieg und die Besat­zung zu betei­li­gen. In unse­rer Gesell­schaft meh­ren sich die Stim­men, die erken­nen, dass nur Frie­den Sicher­heit garan­tie­ren kann… »

Zwischenhalt bei den Bisontin(e)s

Drei Tage Frank­reich, auf den Spu­ren von Gust­ave Cour­bet. Wir tau­chen ein, in die wilde mäch­tige Land­schaft der Hei­mat des Malers, der 1877 im Schwei­zer Exil gestor­ben ist. Zu Fuss erwan­dern wir durch moos­be­wach­se­nen Wald die Quelle der Loue, die Cour­bet immer und immer wie­der gemalt hat.

Aus der Höhle spru­delt das Was­ser, flan­kiert von den grün über­wach­se­nen Rui­nen der alten Müh­len. Zeit­los anmu­tende Stille – bis plötz­lich, wie von Gei­ster­hand her­bei­ge­zau­bert, ein Trupp jun­ger Sol­da­tin­nen und Sol­da­ten auf­kreuzt. Mit schwer bela­de­nen Ruck­säcken und umge­häng­ten Sturm­ge­weh­ren posie­ren sie lachend und win­kend für das Erin­ne­rungs­foto. – Und schon sind sie wie­der weg. Eine Erschei­nung, wie aus einer ande­ren Welt.

Wei­ter geht es über nasse Fuss­wege, gesäumt von Orchi­deen und weiss blü­hen­den Sträu­chern. Tief im Tal rauscht die Loue, und wenn die Sonne durch­bricht, leuch­ten die Fel­sen und das fri­sche Grün der Blätter.

In Orn­ans besu­chen wir das Grab und das Museum des berühm­ten Malers, der von den Kunsthistoriker:innen zum Weg­be­rei­ter des Rea­lis­mus in Frank­reich gekürt wurde. Für seine Hei­mat­re­gion, der Cour­bet heute als Tou­ris­mus-Magnet dient, ein sehr will­kom­me­ner Umstand.

Er sel­ber hätte sich wäh­rend sei­ner Leb­zeit wohl gegen eine sol­che Ver­ein­nah­mung gewehrt. Der Non­kon­for­mist und beken­nende Repu­bli­ka­ner, ver­bat sich jeg­li­che Schub­la­di­sie­rung und wurde in sei­ner Hei­mat nicht immer geschätzt. 1873 musste er sogar, als Folge des Schei­terns der Pari­ser Com­mune, in die Schweiz flie­hen. Und litt die letz­ten Jahre sei­nes Lebens sehr dar­un­ter, dass er nicht in sein gelieb­tes Val­lée de la Loue zurück­keh­ren konnte.

Erst Jahr­zehnte nach sei­nem Tod wurde der nun­mehr berühmte Maler reha­bi­li­tiert – und im Rah­men der neu ent­flamm­ten Cour­bet-Ver­eh­rung und ‑Ver­mark­tung auf den hei­mi­schen Fried­hof umge­bet­tet… Auf dem Brun­nen der zen­tra­len Place Cour­bet in Orn­ans steht die zu des­sen Leb­zei­ten von der Stadt ver­schmähte Skulp­tur des nack­ten Fischer­jun­gen mit Harpune.

Mit dem Bus fah­ren wir wei­ter nach Besan­çon, wo wir einen zwei­stün­di­gen Zwi­schen­halt ein­le­gen. Der Weg vom Bahn­hof ins Stadt­zen­trum führt durch einen Park mit alten, mäch­ti­gen Bäu­men. Im Zen­trum des schön gestal­te­ten Parc de Gla­cis, am Ein­gang zum Ehren­mal für die fran­zö­si­schen Kriegs­ge­fal­le­nen, fällt unser Blick auf eine unge­wöhn­li­che Bronzestatue.

Ein über­le­bens­gros­ser Mensch, in einen lan­gen Kapu­zen­man­tel gehüllt, das Gesicht kaum zu sehen – offen­sicht­lich ein Afri­ka­ner. Unter den Fal­ten des Man­tels hält er ein Kind ver­steckt – sicht­bar ein­zig des­sen klei­nen, nack­ten und ver­letz­li­chen Füss­chen, neben den zer­beul­ten Schu­hen sei­nes Beschützers.

Eine Skulp­tur von unglaub­li­cher Kraft und Aktua­li­tät, deren Wir­kung sich die Besu­che­rin vor Ort nicht ent­zie­hen kann. «L’homme et l’enfant» heisst sie, geschaf­fen vom sene­ga­le­si­schen Bild­hauer Ous­mane Sow, wie der in den Boden ein­ge­las­se­nen Beschrif­tung zu ent­neh­men ist. Zeigt er uns einen nach Europa Geflüch­te­ten mit sei­nem Kind?

Ein paar Schritte wei­ter, im Rücken der Sta­tue, die Tri­co­lore mit in Stein gehaue­ner Glo­rie. Beson­ders auf­fal­lend die schwar­zen Ste­len, auf wel­chen in gol­de­nen Let­tern die Namen der in Nord­afrika, Indo­china und Korea «für Frank­reich» gestor­be­nen Sol­da­ten aus dem Depar­te­ment Doubs auf­ge­führt sind.

Das merk- und denk­wür­dige Ensem­ble im Parc de Gla­cis ver­folgt mich bis nach Hause. Die wei­tere Recher­ché zeigt: Die Erin­ne­rungs­stätte für die Kriegs­ge­fal­le­nen in Besan­çon wurde 2013 vom Bahn­hof­platz in den Park ver­legt. Zeit­gleich kaufte die Stadt das Werk von Ous­mane Sow, der für die Stadt zuvor bereits eine Sta­tue zur Erin­ne­rung an Vic­tor Hugo geschaf­fen hatte.

Sow sel­ber bezeich­nete sein Werk «L’homme et l’enfant» als Sym­bol der Hoff­nung… Das Scrol­len in Inter­views, Arti­kel und Bil­dern zum 2016 ver­stor­be­nen Bild­hauer aus Dakar weckt Neu­gier und Lust auf wei­tere Ent­deckun­gen und Reisen.

Etwa nach Genf, wo an der Rue du Mont Blanc, wie in Besan­çon in unmit­tel­ba­rer Bahn­hofs­nähe, ein wei­te­res Werk von Ous­mane Sow steht: «L’Immigré», 2008 vom dama­li­gen Gen­fer Stadt­prä­si­den­ten Patrice Mugny beim sene­ga­le­si­schen Künst­ler in Auf­trag gege­ben. Um ein Zei­chen für die Sans-Papiers zu set­zen und sie aus dem Ver­bor­ge­nen an die Öffent­lich­keit zu holen…

Der sene­ga­le­si­sche Künst­ler wollte auch mit die­sem Auf­trag ein Zei­chen der Hoff­nung set­zen – und hat eine Skulp­tur geschaf­fen, die wenig gemein hat mit unse­rem Kli­schee­bild der Sans-Papiers. Nicht gebeugt und ver­äng­stigt, son­dern selbst­be­wusst und auf­recht sitzend.

Beim näch­sten Besuch in Genf heisst es für mich des­halb: Augen auf und Aus­schau hal­ten, nach dem zei­tung­le­sen­den Sans-Papiers aus Bronze. Des­sen Aus­trah­lung bis heute reine Sym­bol­kraft geblie­ben ist und mei­len­weit ent­fernt ist von der Rea­li­tät der mei­sten Sans-Papiers hierzulande.

I need protection

Sonn­tag­abend, Ende Novem­ber. Glück­lich und zufrie­den sit­zen wir auf unse­ren gebuch­ten Plät­zen im Euro­city von Milano nach Zürich. Unser Zug von Kala­brien her­kom­mend war auf die Minute pünkt­lich, genauso geht es nun wei­ter nord­wärts. Eine rei­bungs­lose Heim­fahrt nach erfüll­ten Ferien. Jetzt die Vor­freude auf unsere warme Stube, das eigene Bett…

Draus­sen ist Nacht, Voll­mond. Zwi­schen­halt in Como, dann Chi­asso. Einige Pas­sa­giere stei­gen zu, der Zug füllt sich. Ein Mann mitt­le­ren Alters fragt scheu, ob er sich zu uns set­zen dürfe. Er ist fast zu warm ange­zo­gen: Stirn­band über den Ohren, dar­über ein Hut, ein­ge­hüllt in einen Man­tel mit Fisch­grat­mu­ster, die Hände in dicken Hand­schu­hen. Als Gepäck eine ver­schlis­sene Schul­ter­ta­sche und ein pink­far­be­ner Kinderrucksack.

Der Mann, ein Schwarz­afri­ka­ner, zuge­stie­gen mit einer Gruppe ande­rer Schwar­zer. Ist er einer von den vie­len die übers Mit­tel­meer gekom­men sind? Er wirkt ängst­lich, ver­un­si­chert. Und beginnt zu erzäh­len: Man habe ihm sein Handy gestoh­len und sein gan­zes Geld – 75 Euro, sagt er. Nun wisse er nicht, wie er nach Ger­many komme. Ob das der rich­tige Weg sei, will er wis­sen und streckt uns einige Doku­mente ent­ge­gen. Zuoberst ein gel­ber Zet­tel. Es ist ein von den SBB aus­ge­stell­tes Doku­ment für eine «Reise ohne gül­ti­gen Fahr­aus­weis» – von Chi­asso nach Basel – kurz vor der Zug­ab­fahrt aus­ge­stellt. Gül­tig bis Mit­ter­nacht. Es ist jetzt kurz vor 20 Uhr.

Wir kön­nen ihn erst­mal beru­hi­gen. «Alles ok», sage ich. Für die Fahrt bis nach Basel brau­che er weder Geld noch Handy… Warum er denn nach Ger­many wolle? Hat er dort Bekannte, Fami­li­en­an­ge­hö­rige? Er schüt­telt den Kopf. Nein, sagt er. Er sei allein, kenne nie­man­den in Europa. Er sei übers Meer geflüch­tet, weil er in sei­nem Hei­mat­land um sein Leben fürch­ten musste.

Mit lei­ser Stimme erzählt er wei­ter: Seine Eltern seien tot, seine Schwe­ster und ihre Fami­lie umge­bracht, auch seine Kin­der… Er komme aus Sierra Leone, wo er als Chauf­feur gear­bei­tet habe. Er sei ein guter Chauf­feur. Wie zum Beweis klaubt er sei­nen Füh­rer­schein aus der Tasche und zeigt ihn mir. Nun ken­nen wir auch sei­nen Namen und sein Geburts­da­tum – er ist 46 Jahre alt.

Dann fasst er in ein paar kur­zen, stocken­den Sät­zen die Geschichte sei­ner Flucht zusam­men. Zuerst nach Bamako in Mali, wo es für ihn auch gefähr­lich gewe­sen sei. Von da durch Wüsten­ge­biete wei­ter nach Tune­sien, wo er wie­derum nicht blei­ben konnte. Des­halb habe er mit 36 ande­ren ein Boot bestie­gen, man habe ihm auch eine Schwimm­we­ste gege­ben. Das Boot sei geken­tert und gesun­ken. Neben ihm seien zwei Män­ner und eine Frau mit ihrer Toch­ter ertrunken.

Unbe­kannte Ret­ter hät­ten ihn aus dem Meer gezo­gen und nach Lam­pe­dusa gebracht. Trotz­dem wäre er fast gestor­ben: Man habe ihm eine Infu­sion gesteckt, ihn in ein ita­lie­ni­sches Spi­tal gebracht, wo er vier Tage im Koma lag. Schliess­lich kam er wie­der auf die Beine und konnte sei­nen Weg fort­set­zen. Warum denn aus­ge­rech­net Ger­many, fra­gen wir noch ein­mal. «I need pro­tec­tion», lau­tet seine Antwort.

Nun sitzt er hier, im Zug neben uns – müde und trau­rig. Was kön­nen wir tun? Wie ihm wenig­stens ein klein wenig hel­fen? Wir zücken unsere Han­dys und suchen im Inter­net nach einer Anlauf­stelle, einer Not­ruf­num­mer, die am Sonn­tag­abend erreich­bar ist. Ohne Erfolg. Die Hil­fe­stelle für Men­schen «Sans Papiers» steht erst am Diens­tag­nach­mit­tag und auf Vor­anmel­dung zur Ver­fü­gung. Auch Men­schen auf der Flucht müs­sen sich hier­zu­lande an Büro­zei­ten hal­ten. Für einen Platz in einer Not­schlaf­stelle in Zürich muss man 3 Monate Auf­ent­halt in der Stadt nachweisen.

Bil­let­kon­trolle. Der Fahr­aus­weis von Samuel – so heisst der Flüch­tende – ist nicht der ein­zige gelbe Zet­tel, den die Kon­duk­teu­rin an die­sem Abend vor­ge­legt erhält. Freund­lich fragt sie, ob er Eng­lisch oder Fran­zö­sisch spre­che und ver­sucht, ihm zu erklä­ren, dass er in Arth-Goldau umstei­gen müsse. Eigent­lich hätte er schon in Bel­lin­zona auf den direk­ten Zug nach Basel wech­seln sol­len, jetzt müsse er an der näch­sten Sta­tion halt eine halbe Stunde auf den Anschluss warten.

Die Kom­mu­ni­ka­tion ist schwie­rig. Samuel aus Sierra Leone kann den schnel­len Sät­zen der jun­gen Frau nicht ganz fol­gen. Sie muss aber wei­ter und bedankt sich, als wir sagen, wir wür­den ihm beim Umstei­gen in Arth-Goldau behilf­lich zu sein.

Der Zug fährt über die Gott­hard-Berg­strecke, da der Basis­tun­nel für den Per­so­nen­ver­kehr wei­ter­hin geschlos­sen bleibt. Uns bleibt noch eine gute Stunde Zeit mit unse­rem Mit­rei­sen­den. Auf einem Stück Papier notie­ren wir die Adresse der Anlauf­stelle für Sans Papiers in Basel. Dort könnte er am fol­gen­den Tag hin­ge­hen, wenn er es im ersten Anlauf nicht nach Ger­many schaf­fen sollte. Auf die Frage, ob er das Geschrie­bene lesen könne, ver­neint er: «Als meine Eltern star­ben, hatte ich den Kopf nicht frei, um zur Schule zu gehen. Ich habe immer nur gearbeitet…»

Ich schlucke leer: Ein 46jähriger Mann aus dem bit­ter­ar­men, kriegs­ge­beu­tel­ten Sierra Leone, wo Rebel­len­grup­pen jah­re­lang mit dro­gen­ver­la­de­nen, miss­brauch­ten Kin­der­sol­da­ten die Men­schen ter­ro­ri­sier­ten, sucht Schutz in Europa. Er kann weder lesen noch schrei­ben, immer­hin spricht er Eng­lisch. Des­halb unsere näch­ste Frage: Ob er seine Geschichte am Zoll in Chi­asso erzählt habe? Er nickt und zieht erneut seine Foto­ko­pien, die er an der Grenz­stelle gekriegt hat, her­vor. Man habe ihm diese Papiere gege­ben, mit dem Kom­men­tar «ever­ything ok». Denn Samuel hat offen­sicht­lich das Zau­ber­wort «Asyl» nicht aus­ge­spro­chen. Und der Grenz­be­amte hat ihn wohl­weis­lich nicht dar­auf ange­spro­chen. Alle die dies nicht tun und nach Ger­many, France oder ins UK wei­ter wol­len, soll man nicht an der Wei­ter­reise hin­dern, son­dern juri­stisch «sau­ber» schnellst­mög­lich durch die Schweiz hin­aus­spe­die­ren. Dies ist offen­bar die aktu­elle Pra­xis an den Schwei­zer Grenzstationen.

Es sind neun A4-Sei­ten, aus­ge­füllt und über­reicht von einem Zoll­be­am­ten der Abtei­lung «Dogana Mend­ri­sio». Das drei­sei­tige For­mu­lar der in ita­lie­ni­scher Spra­che ver­fass­ten Weg­wei­sungs­ver­fü­gung ver­langt, dass unser Mit­rei­sen­der die Schweiz und den gesam­ten Schen­gen­raum inner­halb von sie­ben Tagen (bis zum 3. Dezem­ber 2023) ver­las­sen müsse. Ergän­zend dazu ein wei­te­res For­mu­lar auf Eng­lisch, das in schwer ver­ständ­li­cher Juri­sten­spra­che über die Rechte auf Anhö­rung und Ein­spra­che gegen die Weg­wei­sung infor­miert und vor­der­grün­dig dem Geflüch­te­ten die Mög­lich­keit bie­tet, sich ent­spre­chend zu erklären.

Samuel erhielt auch ein Infor­ma­ti­ons­blatt in die Hand gedrückt, auf dem sämt­li­che Rechts­grund­la­gen und Ein­spra­che­mög­lich­kei­ten auf­ge­führt sind. Was aber hilft ihm das, wenn er es nicht lesen und schon gar nicht ver­ste­hen kann? – Und vor allem, wenn man ihn, der nicht lesen kann, gleich­zei­tig seine Weg­wei­sung und den fak­ti­schen Ver­zicht auf sein «Right to be heard» mit einem Krin­gel unter­schrei­ben lässt?

Ein Vor­gang, der sich Tag für Tag hun­dert­fach an den Schwei­zer Grenz­sta­tio­nen und im gan­zen Schen­gen­raum wie­der­holt. Eine Ali­bi­übung ohne­glei­chen: Wie nur soll ein Mann wie unser Sitz­nach­bar inner­halb von 7 Tagen auf eigene Faust den Schen­gen­raum wie­der ver­las­sen? Warum sollte er das tun? Nach­dem er wäh­rend Wochen und Mona­ten sein Leben ris­kiert hat, auf der Suche nach einem siche­ren, bes­se­ren Leben?

Der Zug fährt durch die Nacht, aus dem Dun­kel taucht die hell beleuch­tete Kir­che von Was­sen auf. Samuel ist ein­ge­nickt, er ist sicht­lich erschöpft. Wäh­rend er schläft, besor­gen wir ihm im Restau­rant­wa­gen etwas zu essen und zu trin­ken. Kurz vor Arth-Goldau wecken wir ihn und über­rei­chen ihm Pro­vi­ant und etwas Geld. «God bless you» mur­melt er leise und ver­schlingt einen klei­nen Panet­tone. Dann errei­chen wir Arth-Goldau.

Zusam­men gehen wir zum Aus­gang, wo ich ihm den Weg durch die Unter­füh­rung aufs andere Per­ron zeige. Dort fährt in einer hal­ben Stunde der direkte Zug nach Basel, wo er dann mit­ten in der Nacht ankom­men wird. Ob das gut kommt? Eben noch haben wir ihm gut zuge­re­det, er sei stark und werde es nach Deutsch­land schaf­fen. Immer­hin hat er sich bereits von Sierra Leone bis hier­her durchgeschlagen…

Und doch habe ich ein schlech­tes Gewis­sen. In Zürich war­tet eine grosse, warme Woh­nung auf uns, wo es auch Platz hätte für einen Gast. Warum haben wir ihn nicht zu uns ein­ge­la­den? Oder ihm unser Feri­en­häus­chen am Bie­ler­see zur Ver­fü­gung gestellt? – Gedan­ken, die uns bei­den durch den Kopf gegan­gen sind. Wir haben sie schnell ver­drängt und uns mit den klei­nen Hil­fe­lei­stun­gen begnügt.

Mit einem ungu­ten Gefühl ver­ab­schiede ich mich von Samuel und schaue ihm nach, wie er in die kalte Nacht ver­schwin­det. Ein Mensch auf der Flucht, auf der Suche nach Schutz…

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