«I need protection»

Sonn­tag­abend, Ende Novem­ber. Glück­lich und zufrie­den sit­zen wir auf unse­ren gebuch­ten Plät­zen im Euro­city von Milano nach Zürich. Unser Zug von Kala­brien her­kom­mend war auf die Minute pünkt­lich, genauso geht es nun wei­ter nord­wärts. Eine rei­bungs­lose Heim­fahrt nach erfüll­ten Ferien. Jetzt die Vor­freude auf unsere warme Stube, das eigene Bett…

Draus­sen ist Nacht, Voll­mond. Zwi­schen­halt in Como, dann Chi­asso. Einige Pas­sa­giere stei­gen zu, der Zug füllt sich. Ein Mann mitt­le­ren Alters fragt scheu, ob er sich zu uns set­zen dürfe. Er ist fast zu warm ange­zo­gen: Stirn­band über den Ohren, dar­über ein Hut, ein­ge­hüllt in einen Man­tel mit Fisch­grat­mu­ster, die Hände in dicken Hand­schu­hen. Als Gepäck eine ver­schlis­sene Schul­ter­ta­sche und ein pink­far­be­ner Kinderrucksack.

Der Mann, ein Schwarz­afri­ka­ner, zuge­stie­gen mit einer Gruppe ande­rer Schwar­zer. Ist er einer von den vie­len die übers Mit­tel­meer gekom­men sind? Er wirkt ängst­lich, ver­un­si­chert. Und beginnt zu erzäh­len: Man habe ihm sein Handy gestoh­len und sein gan­zes Geld – 75 Euro, sagt er. Nun wisse er nicht, wie er nach Ger­many komme. Ob das der rich­tige Weg sei, will er wis­sen und streckt uns einige Doku­mente ent­ge­gen. Zuoberst ein gel­ber Zet­tel. Es ist ein von den SBB aus­ge­stell­tes Doku­ment für eine «Reise ohne gül­ti­gen Fahr­aus­weis» – von Chi­asso nach Basel – kurz vor der Zug­ab­fahrt aus­ge­stellt. Gül­tig bis Mit­ter­nacht. Es ist jetzt kurz vor 20 Uhr.

Wir kön­nen ihn erst­mal beru­hi­gen. «Alles ok», sage ich. Für die Fahrt bis nach Basel brau­che er weder Geld noch Handy… Warum er denn nach Ger­many wolle? Hat er dort Bekannte, Fami­li­en­an­ge­hö­rige? Er schüt­telt den Kopf. Nein, sagt er. Er sei allein, kenne nie­man­den in Europa. Er sei übers Meer geflüch­tet, weil er in sei­nem Hei­mat­land um sein Leben fürch­ten musste.

Mit lei­ser Stimme erzählt er wei­ter: Seine Eltern seien tot, seine Schwe­ster und ihre Fami­lie umge­bracht, auch seine Kin­der… Er komme aus Sierra Leone, wo er als Chauf­feur gear­bei­tet habe. Er sei ein guter Chauf­feur. Wie zum Beweis klaubt er sei­nen Füh­rer­schein aus der Tasche und zeigt ihn mir. Nun ken­nen wir auch sei­nen Namen und sein Geburts­da­tum – er ist 46 Jahre alt.

Dann fasst er in ein paar kur­zen, stocken­den Sät­zen die Geschichte sei­ner Flucht zusam­men. Zuerst nach Bamako in Mali, wo es für ihn auch gefähr­lich gewe­sen sei. Von da durch Wüsten­ge­biete wei­ter nach Tune­sien, wo er wie­derum nicht blei­ben konnte. Des­halb habe er mit 36 ande­ren ein Boot bestie­gen, man habe ihm auch eine Schwimm­we­ste gege­ben. Das Boot sei geken­tert und gesun­ken. Neben ihm seien zwei Män­ner und eine Frau mit ihrer Toch­ter ertrunken.

Unbe­kannte Ret­ter hät­ten ihn aus dem Meer gezo­gen und nach Lam­pe­dusa gebracht. Trotz­dem wäre er fast gestor­ben: Man habe ihm eine Infu­sion gesteckt, ihn in ein ita­lie­ni­sches Spi­tal gebracht, wo er vier Tage im Koma lag. Schliess­lich kam er wie­der auf die Beine und konnte sei­nen Weg fort­set­zen. Warum denn aus­ge­rech­net Ger­many, fra­gen wir noch ein­mal. «I need pro­tec­tion», lau­tet seine Antwort.

Nun sitzt er hier, im Zug neben uns – müde und trau­rig. Was kön­nen wir tun? Wie ihm wenig­stens ein klein wenig hel­fen? Wir zücken unsere Han­dys und suchen im Inter­net nach einer Anlauf­stelle, einer Not­ruf­num­mer, die am Sonn­tag­abend erreich­bar ist. Ohne Erfolg. Die Hil­fe­stelle für Men­schen «Sans Papiers» steht erst am Diens­tag­nach­mit­tag und auf Vor­anmel­dung zur Ver­fü­gung. Auch Men­schen auf der Flucht müs­sen sich hier­zu­lande an Büro­zei­ten hal­ten. Für einen Platz in einer Not­schlaf­stelle in Zürich muss man 3 Monate Auf­ent­halt in der Stadt nachweisen.

Bil­let­kon­trolle. Der Fahr­aus­weis von Samuel – so heisst der Flüch­tende – ist nicht der ein­zige gelbe Zet­tel, den die Kon­duk­teu­rin an die­sem Abend vor­ge­legt erhält. Freund­lich fragt sie, ob er Eng­lisch oder Fran­zö­sisch spre­che und ver­sucht, ihm zu erklä­ren, dass er in Arth-Goldau umstei­gen müsse. Eigent­lich hätte er schon in Bel­lin­zona auf den direk­ten Zug nach Basel wech­seln sol­len, jetzt müsse er an der näch­sten Sta­tion halt eine halbe Stunde auf den Anschluss warten.

Die Kom­mu­ni­ka­tion ist schwie­rig. Samuel aus Sierra Leone kann den schnel­len Sät­zen der jun­gen Frau nicht ganz fol­gen. Sie muss aber wei­ter und bedankt sich, als wir sagen, wir wür­den ihm beim Umstei­gen in Arth-Goldau behilf­lich zu sein.

Der Zug fährt über die Gott­hard-Berg­strecke, da der Basis­tun­nel für den Per­so­nen­ver­kehr wei­ter­hin geschlos­sen bleibt. Uns bleibt noch eine gute Stunde Zeit mit unse­rem Mit­rei­sen­den. Auf einem Stück Papier notie­ren wir die Adresse der Anlauf­stelle für Sans Papiers in Basel. Dort könnte er am fol­gen­den Tag hin­ge­hen, wenn er es im ersten Anlauf nicht nach Ger­many schaf­fen sollte. Auf die Frage, ob er das Geschrie­bene lesen könne, ver­neint er: «Als meine Eltern star­ben, hatte ich den Kopf nicht frei, um zur Schule zu gehen. Ich habe immer nur gearbeitet…»

Ich schlucke leer: Ein 46jähriger Mann aus dem bit­ter­ar­men, kriegs­ge­beu­tel­ten Sierra Leone, wo Rebel­len­grup­pen jah­re­lang mit dro­gen­ver­la­de­nen, miss­brauch­ten Kin­der­sol­da­ten die Men­schen ter­ro­ri­sier­ten, sucht Schutz in Europa. Er kann weder lesen noch schrei­ben, immer­hin spricht er Eng­lisch. Des­halb unsere näch­ste Frage: Ob er seine Geschichte am Zoll in Chi­asso erzählt habe? Er nickt und zieht erneut seine Foto­ko­pien, die er an der Grenz­stelle gekriegt hat, her­vor. Man habe ihm diese Papiere gege­ben, mit dem Kom­men­tar «ever­ything ok». Denn Samuel hat offen­sicht­lich das Zau­ber­wort «Asyl» nicht aus­ge­spro­chen. Und der Grenz­be­amte hat ihn wohl­weis­lich nicht dar­auf ange­spro­chen. Alle die dies nicht tun und nach Ger­many, France oder ins UK wei­ter wol­len, soll man nicht an der Wei­ter­reise hin­dern, son­dern juri­stisch «sau­ber» schnellst­mög­lich durch die Schweiz hin­aus­spe­die­ren. Dies ist offen­bar die aktu­elle Pra­xis an den Schwei­zer Grenzstationen.

Es sind neun A4-Sei­ten, aus­ge­füllt und über­reicht von einem Zoll­be­am­ten der Abtei­lung «Dogana Mend­ri­sio». Das drei­sei­tige For­mu­lar der in ita­lie­ni­scher Spra­che ver­fass­ten Weg­wei­sungs­ver­fü­gung ver­langt, dass unser Mit­rei­sen­der die Schweiz und den gesam­ten Schen­gen­raum inner­halb von sie­ben Tagen (bis zum 3. Dezem­ber 2023) ver­las­sen müsse. Ergän­zend dazu ein wei­te­res For­mu­lar auf Eng­lisch, das in schwer ver­ständ­li­cher Juri­sten­spra­che über die Rechte auf Anhö­rung und Ein­spra­che gegen die Weg­wei­sung infor­miert und vor­der­grün­dig dem Geflüch­te­ten die Mög­lich­keit bie­tet, sich ent­spre­chend zu erklären.

Samuel erhielt auch ein Infor­ma­ti­ons­blatt in die Hand gedrückt, auf dem sämt­li­che Rechts­grund­la­gen und Ein­spra­che­mög­lich­kei­ten auf­ge­führt sind. Was aber hilft ihm das, wenn er es nicht lesen und schon gar nicht ver­ste­hen kann? – Und vor allem, wenn man ihn, der nicht lesen kann, gleich­zei­tig seine Weg­wei­sung und den fak­ti­schen Ver­zicht auf sein «Right to be heard» mit einem Krin­gel unter­schrei­ben lässt?

Ein Vor­gang, der sich Tag für Tag hun­dert­fach an den Schwei­zer Grenz­sta­tio­nen und im gan­zen Schen­gen­raum wie­der­holt. Eine Ali­bi­übung ohne­glei­chen: Wie nur soll ein Mann wie unser Sitz­nach­bar inner­halb von 7 Tagen auf eigene Faust den Schen­gen­raum wie­der ver­las­sen? Warum sollte er das tun? Nach­dem er wäh­rend Wochen und Mona­ten sein Leben ris­kiert hat, auf der Suche nach einem siche­ren, bes­se­ren Leben?

Der Zug fährt durch die Nacht, aus dem Dun­kel taucht die hell beleuch­tete Kir­che von Was­sen auf. Samuel ist ein­ge­nickt, er ist sicht­lich erschöpft. Wäh­rend er schläft, besor­gen wir ihm im Restau­rant­wa­gen etwas zu essen und zu trin­ken. Kurz vor Arth-Goldau wecken wir ihn und über­rei­chen ihm Pro­vi­ant und etwas Geld. «God bless you» mur­melt er leise und ver­schlingt einen klei­nen Panet­tone. Dann errei­chen wir Arth-Goldau.

Zusam­men gehen wir zum Aus­gang, wo ich ihm den Weg durch die Unter­füh­rung aufs andere Per­ron zeige. Dort fährt in einer hal­ben Stunde der direkte Zug nach Basel, wo er dann mit­ten in der Nacht ankom­men wird. Ob das gut kommt? Eben noch haben wir ihm gut zuge­re­det, er sei stark und werde es nach Deutsch­land schaf­fen. Immer­hin hat er sich bereits von Sierra Leone bis hier­her durchgeschlagen…

Und doch habe ich ein schlech­tes Gewis­sen. In Zürich war­tet eine grosse, warme Woh­nung auf uns, wo es auch Platz hätte für einen Gast. Warum haben wir ihn nicht zu uns ein­ge­la­den? Oder ihm unser Feri­en­häus­chen am Bie­ler­see zur Ver­fü­gung gestellt? – Gedan­ken, die uns bei­den durch den Kopf gegan­gen sind. Wir haben sie schnell ver­drängt und uns mit den klei­nen Hil­fe­lei­stun­gen begnügt.

Mit einem ungu­ten Gefühl ver­ab­schiede ich mich von Samuel und schaue ihm nach, wie er in die kalte Nacht ver­schwin­det. Ein Mensch auf der Flucht, auf der Suche nach Schutz…

Koks und etwas Wärme

Sams­tag­abend im Advent: Mit dem Zug durch die Däm­me­rung nach Bern. Als wir ankom­men, ist es bereits Nacht. In den Stras­sen viel Volk. Auf dem Wai­sen­hausplatz Weih­nachts­markt — Gedränge, müpf und stüpf und keine Spur von Strom­spa­ren im Strah­len­meer. Jahr für Jahr die glei­chen Stände. Und immer noch einige dazu.

Die Palette reicht vom Weih­nachts­tand über Lecke­reien, Schnit­ze­reien, kul­ti­gen Schmuck bis hin zu edlen Musik­in­stru­men­ten. Ein üppi­ges Ange­bot – das mei­ste davon Dinge, die der Mensch für ein men­schen­wür­di­ges Leben eigent­lich nicht braucht. Ein Per­pe­tuum Mobile des Über­flus­ses. Kein Luxus, aber wie es auf Neu­deutsch heisst: Nice to have, nicht mehr. Weih­nach­ten, das Fest zwi­schen Black Fri­day und Ostern, funk­tio­niert nach wie vor als zuver­läs­si­ger Motor für den Kon­sum­rausch in der rei­chen Schweiz.

Vor dem Kon­zert ist noch Zeit für ein Apéro im Korn­haus, so der Plan. Natür­lich auch das Nice to have, nicht mehr. Seit unse­rem letz­ten Besuch hat sich dort eini­ges ver­än­dert. Das Inte­ri­eur ist zum Edel-Piz­za­lo­kal mutiert. Wir wagen uns nicht an die gedeck­ten Restau­rant-Tische, aber in der ange­glie­der­ten Vino­thek scheint es noch Platz zu haben.

Am Fen­ster steht in gros­sen Let­tern Più – ein wei­te­res Lokal in der Ber­ner Innen­stadt, das sich der Zür­cher Bin­della Kon­zern ein­ver­leibt hat. Ein Glas Rot­wein ist hier mit 15 Fran­ken oder mehr auf der Schie­fer­ta­fel bepreist. Im Glau­ben an ein Leben in beschei­de­ne­rem For­mat ver­las­sen wir das Lokal und fin­den vis-à-vis im guten alten Café des Pyre­nées, was wir suchen: Ein Glas Rioja zu einem ver­nünf­ti­gen Preis, und erst noch in leben­di­ger Gesellschaft…

Vor dem Ein­gang zur Fran­zö­si­schen Kir­che eine Frau, in einen Schal ein­ge­wickelt, mit einem Pla­stik­be­cher in der Hand. Die mei­sten Konzertbesucher:innen gehen unge­rührt an ihr vor­bei. Schliess­lich haben wir für unsere Tickets bezahlt, da bleibt kein Klein­geld für eine Bett­le­rin. Zumal hier­zu­lande – so die vor­herr­schende Mei­nung – man mit 10 Fran­ken pro Tag für Nah­rung, Klei­dung und Hygiene aus­rei­chend ver­sorgt ist und daher nie­mand bet­teln muss.

Was folgt ist eine Stunde Wohl­klang, ein vor­weih­nächt­li­ches Chor­kon­zert mit Wer­ken aus Europa und Latein­ame­rika. Als Höhe­punkt die Misa Criolla von Ariel Ramí­rez. Das Publi­kum reagiert mit Begei­ste­rung und applau­diert kräf­tig. Zwei Zuga­ben, dann wer­den wir in die kalte Nacht entlassen.

Die Frau im Schal steht immer noch da, bei Bis­wind und Null­g­rad­tem­pe­ra­tur. Weih­nachts­be­leuch­tung auf dem Weg zum Mün­ster. In der unte­ren Alt­stadt sit­zen einige Unver­dros­sene draus­sen vor dem Bild­schirm. Argen­ti­nien hat soeben das zweite Tor geschossen.

Wir spa­zie­ren zurück Rich­tung Bahn­hof. Die Buden des Weih­nachts­markts sind nun geschlos­sen, in den erleuch­te­ten Restau­rants und Bars teils gäh­nende Leere, andern­orts reger Betrieb.

Der Inter­city nach Zürich ist schon gut besetzt. Unten hat es noch freie Plätze.

Kurz nach­dem sich der Zug in Bewe­gung gesetzt hat, stol­pern zwei junge Män­ner in unse­ren Wagen und set­zen sich in die Reihe schräg hin­ter uns. Sie sind laut und sicht­bar ver­la­den. Zwei Pas­sa­giere, die schon vor uns da waren, ver­las­sen das Abteil, suchen sich ver­mut­lich einen ande­ren Platz, wei­ter vorne im Zug.

Die bei­den Jungs hin­ter uns reden unab­läs­sig auf­ein­an­der ein. Der Spra­che nach zu schlies­sen, kom­men sie aus dem ara­bi­schen Raum. Vor ihnen liegt ein Handy, Dis­play nach oben. Dar­auf streut der eine weis­ses Pul­ver, formt es zu einer Linie… Dann lau­tes Räus­pern – zuerst der eine, dann der andere.

Kurz vor Olten kommt der Kon­duk­teur. Die bei­den haben kein Bil­lett. Er ver­zieht das Gesicht und ver­langt: «Pass­port!» Auch mehr­ma­li­ges Wie­der­hol­den der For­de­rung nützt nichts. Natür­lich haben die bei­den kei­nen Aus­weis dabei. Also zieht der SBB-Mann zwei Zet­tel aus der Tasche und lässt sie Name und Adresse auf­schrei­ben. Der eine folgt dem Befehl, der andere schaut zu.

Der Kon­duk­teur kann die Schrift nicht lesen. «M – E– H – M – E – D, Meh­med», buch­sta­biert der junge Mann. Die Adresse lau­tet Centre Asyl in Lyss. «Wie lau­tet die Stras­sen­num­mer», will der SBB-Beamte wis­sen. Schulterzucken.

Wei­tere Fra­gen, nun wird klar: Die Zwei sind aus Tune­sien. Nach eini­gem Hin und Her gibt sich der Kon­duk­teur zufrie­den und zieht wei­ter. Die Zet­tel mit Namen und Adresse steckt er ein. Kaum ist er weg, gibt es eine wei­tere Linie Koks…

Die Jungs haben nichts zu ver­lie­ren. Wann und wie sie in die Schweiz gekom­men sind, mit wel­chen Hoff­nun­gen wis­sen wir nicht. Die bei­den sind schät­zungs­weise um die Zwan­zig. Ich stelle mir vor, wie sie als kleine Buben in der Sonne am Strand gespielt haben. In die­sem schö­nen Land, das unser­eins mit Tou­ris­mus lockt, wäh­rend seine Bevöl­ke­rung unter Repres­sion, Per­spek­ti­ven­lo­sig­keit und Armut lei­det. Tau­sende suchen des­halb ihr Glück im Aus­land – und fin­den oft nur Elend.

Fest steht: Wer aus Tune­sien kommt, hat in der Schweiz kaum Chance auf Asyl. Und wer im Bun­des­asyl­zen­trum in Lyss gestran­det ist, bekommt die Kälte in unse­rem Land von ihrer schlimm­sten Seite zu spü­ren. Sie blei­ben aus­ge­schlos­sen, im Wart­saal zur Aus­schaf­fung. Auch wir hal­ten Distanz. Ein­zig, als dem einen ein Feu­er­zeug run­ter­fällt, hel­fen wir beim Wie­der­fin­den. Die bei­den bedan­ken und ent­schul­di­gen sich über­schwäng­lich. Sie haben gelernt, dass sie hier nicht will­kom­men sind und die ein­hei­mi­schen Pas­sa­giere bes­ser nicht stören.

Egal. Irgend­wann ist alles egal, für jene, die nichts mehr zu ver­lie­ren haben. Mit Zwan­zig gestran­det in der rei­chen Schweiz, wo die Kälte durch Mark und Bein geht. Die Zug­fahrt von Bern nach Zürich bedeu­tet immer­hin eine Stunde ohne Frie­ren. Und der Koks wärmt die Seele. Ein wenig.

In Zürich stei­gen wir alle aus. Der Kon­duk­teur hat keine Poli­zei auf­ge­bo­ten. Gut so. Was wohl mit den auf­ge­nom­me­nen Per­so­na­lien geschieht? Viel­leicht trifft er sie ja wie­der, auf ihrem Rück­weg ins Asyl­zen­trum. In einem näch­sten Inter­city, der ohne Halt von Zürich nach Bern fährt, wes­halb er keine Mög­lich­keit hat, zwei Sans Papiers ohne Bil­lett unter­wegs der Poli­zei zu übergeben…

Am näch­sten Tag beim Sonn­tags­brunch in der war­men Stube die Frage: Wo sind die Tune­sier gestern noch hin? Wie haben sie die Nacht ver­bracht, wie geht es ihnen heute Morgen?

Fluchtwege

Oli­vetta, ein male­ri­sches Berg­dorf, unweit des Mit­tel­meers gele­gen, inmit­ten von Oli­ven­hai­nen. Mit­tel­al­ter­li­che Häu­ser kle­ben an steil abfal­len­den Hän­gen. Die Ruine einer Mühle am fel­si­gen Bach­bett, eine Fuss­gän­ger­brücke über glas­kla­res Was­ser. Diese Brücke, den Ponte Ron­coni, pas­sier­ten 1939/​40 ita­lie­ni­sche Jüdin­nen und Juden auf ihrer Flucht aus dem faschi­sti­schen Ita­lien ins damals noch freie Süd­frank­reich. Eine Gedenk­ta­fel erin­nert an die schlimme Zeit.

Fast 80 Jahre spä­ter sind wir auf dem schma­len Weg unter­wegs, der jen­seits der Brücke im Zick­zack steil den Berg­hang hin­auf kreuzt. Ziel unse­rer Wan­de­rung ist der Passo Treit­tone, von wo der Weg auf den Gram­mondo führt, den höch­sten Berg der Region. Sowie tal­wärts, ins fran­zö­si­sche Sospel.

Es ist August. Das Blät­ter­dach der Bäume schützt vor der bren­nen­den Sonne, die Aus­sicht ist atem­be­rau­bend. Was für uns Wan­de­re­rIn­nen ein Ver­gnü­gen, war für die Men­schen damals eine Grat­wan­de­rung zwi­schen Todes­angst und Hoff­nung. Es ist anzu­neh­men, dass sie im Schutz der Dun­kel­heit hier hoch­ge­stie­gen sind. Mit orts­kun­di­gen «Pas­seurs», die sich auf den Schmugg­ler­pfa­den im Grenz­ge­birge auskannten.

Schritt für Schritt stei­gen wir hoch, in Gedan­ken bei den Flücht­lin­gen. Der Wan­der­weg ist gut signa­li­siert, doch wir sind alleine unter­wegs. Aus­ser einer Gruppe Pfad­fin­der, die wir beim Auf­stieg über­ho­len, scheint die Gegend heute menschenleer.

Oder täuscht der erste Ein­druck? Ab und an lässt uns ein Rascheln im Unter­holz auf­hor­chen. Sind wir gar nicht allein? Wer­den wir beob­ach­tet, fol­gen uns gar ängst­li­che Augenpaare?

In Oli­vetta hatte man uns erzählt, dass auch heute wie­der Men­schen ver­su­chen wür­den, über die alten Flucht­wege der Jüdin­nen und Juden Frank­reich zu errei­chen. Spät­abends im Schutz der Dun­kel­heit sehe man sie durchs Dorf, in die Berge ziehen…

Unter­wegs meh­ren sich die Zei­chen: Am Weg­rand eine schmut­zige Vlies­decke, etwas wei­ter die Reste einer Kom­pres­sen-Ver­packung, kürz­lich erst weg­ge­wor­fen und noch kaum ver­wit­tert. In einem Strauch hängt ein T‑Shirt, auf dem Boden Fet­zen eines zer­ris­se­nen Briefs mit ita­lie­ni­schem Absen­der, in ara­bi­scher Schrift.

Leise, kaum wahr­nehm­bare Spu­ren, die auf die Flücht­linge hin­wei­sen, die heute wie­der die alten Flucht­wege nut­zen, um im Schutz der Dun­kel­heit nach Frank­reich, nach Europa zu gelan­gen. Aller­dings ist es schwie­rig gewor­den: Frank­reich lässt auch seine abge­le­gen­sten Gren­zen scharf bewa­chen. Im Kampf gegen die Flücht­linge hat der Staat ganze Heer­scha­ren von Poli­zi­sten und Mili­tärs in der Region stationiert.

Zudem sind die Berg­pfade gefähr­lich. Das wis­sen auch die ver­zwei­fel­ten Flücht­linge, die es trotz­dem immer wie­der ver­su­chen. Weil sie keine Wahl hät­ten, wie uns ein jun­ger Mann drei Tage spä­ter in Ven­tig­mi­lia erklärt. Wir tref­fen ihn im Cari­tas-Zen­trum, wo täg­lich Hun­derte von Flücht­lin­gen not­dürf­tig ver­sorgt wer­den. Wie die mei­sten hier, kommt er aus Darfur.

Die jun­gen Män­ner erzäh­len von Bür­ger­krieg, Gewalt und Armut. In Dar­fur, aber auch unter­wegs. Libyen sei die Hölle, mit eige­nen Augen habe er gese­hen, wie die Leute dort erschos­sen wür­den, sagt unser Gesprächs­part­ner, der auf die Frage nach sei­nem Namen viel­sa­gend ant­wor­tet: «Adam, Ach­med, Abdes­lam – je nachdem…»

Er sei seit 45 Tagen in Ita­lien und wolle wei­ter. Sein Bru­der lebt in Frank­reich. Zehn­mal habe er bereits ver­sucht, die Grenze zu über­que­ren, um zu ihm zu gelan­gen. Drei­mal über den Berg – jedes­mal ist er erwischt und nach Ita­lien zurück­ge­bracht worden.

Er wird es wie­der ver­su­chen und hofft, dass er von sei­nem Bru­der Unter­stüt­zung erhält, um einen Schlep­per zu bezah­len. Er sei aus Dar­fur weg, weil er ein wür­di­ges Leben wollte. Statt der erwar­te­ten Frei­heit und der Mög­lich­keit, Geld zu ver­die­nen, sich wei­ter­zu­bil­den, müss­ten sie in Ita­lien nun auf der Strasse leben. Doch Rück­kehr sei keine Option, und irgend­wann werde er es nach Europa schaf­fen – oder ster­ben. «We have a desire», sagte er zum Abschied.

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