Pazifismus – wann, wenn nicht jetzt?

Krieg bedeu­tet Mord und Tot­schlag, Hor­ror und Elend. Leid­tra­gende sind Men­schen wie du und ich. Tag­täg­lich ver­lie­ren Hun­derte, Tau­sende welt­weit ihr Leben und ihre Exi­stenz als Folge sinn­lo­ser Zer­stö­rung und Ver­nich­tung. Krieg ist eine men­schen­ge­machte Kata­stro­phe. In jedem Fall grau­sam und nie gerecht.

Wer sich jedoch in die­sen Tagen vehe­ment gegen Krieg aus­spricht oder gar zum Pazi­fis­mus bekennt, wird nie­der­ge­schrien und ern­tet Kampf­an­sa­gen. Frie­dens­ver­hand­lun­gen sind ange­sichts des aktu­el­len Kriegs in der Ukraine ein Tabu­thema – zu dem auch ich allzu oft geschwie­gen habe. Aus Angst vor Dif­fa­mie­run­gen und Streit, dem per­sön­li­chen Frie­den zuliebe.

Nicht nur in Deutsch­land sind es aus­ge­rech­net Exponent:innen der Grü­nen, der ein­sti­gen Frie­dens­par­tei sowie des «lin­ken Estab­lish­ments», die heute die Kriegs­trom­mel schla­gen und laut nach Auf­rü­stung und Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukraine schreien. Ver­bun­den mit einer gehäs­si­gen Dif­fa­mie­rung gegen alle, die die­sen weit­ver­brei­te­ten Gesin­nungs­um­sturz in Frage stellen.

In der Schweiz wie in Deutsch­land lie­fern die Main­stream­m­e­dien mit plum­pen Schwarz­weiss­bil­dern tat­kräf­tig Unter­stüt­zung: Hier die demo­kra­ti­schen, frei­heits­lie­ben­den Hel­den der Ukraine, dort die ver­ge­wal­ti­gen­den rus­si­schen Hor­den. David gegen Goli­ath – gut gegen böse. Mit den Fak­ten nimmt man es dabei oft nicht allzu genau – es geht um die Mes­sage, nicht um Wahrheit.

Erschreckend und beäng­sti­gend, wie geschmiert diese Kriegs­pro­pa­ganda funk­tio­niert – und wie bereit­wil­lig man mit­mar­schiert und in das Kriegs­ge­heul miteinstimmt.

Auch in der Schweiz ertönt der Ruf nach Waf­fen für die Ukraine plötz­lich aus erstaun­li­chen Ecken: Weder die Gruppe Schweiz ohne Armee GSOA noch der Schwei­zer Frie­dens­rat stel­len sich – wie man es von ihnen erwar­tet hätte – vehe­ment gegen eine Auf­wei­chung des Waf­fen­lie­fe­rungs­ver­bots zugun­sten der Ukraine. Im Gegen­teil: Ruedi Tobler, Prä­si­dent des Schwei­ze­ri­schen Frie­dens­rats bezeich­net die Lie­fe­rung von Kriegs­ma­te­rial an die Ukraine als «legi­tim». Und der lang­jäh­rige GSOA-Prä­si­dent Joe Lang refe­rierte kürz­lich an einer Demo, in die gelb-blaue Natio­nal­flagge der Ukraine gehüllt, ein­sei­tig nur über die Kriegs­ver­bre­chen der Rus­sen und war sich nicht zu schade, Sahra Wagen­knecht, die Mit­in­iti­an­tin des Mani­fests «Auf­stand für den Frie­den», aufs häss­lich­ste zu diffamieren. 

«Auch ich war mal Pazi­fist, aber ich habe gelernt, dass es Momente gibt, wo man die Frei­heit mit Waf­fen­ge­walt ver­tei­di­gen muss. Genau das pas­siert im Moment», kom­men­tiert etwa Domi­nik Land­wehr, ehe­ma­li­ger Jour­na­list und Kul­tur­schaf­fen­der auf Face­book. So oder ähn­lich äus­sern sich viele in den Social Media. Dar­auf ange­spro­chen, recht­fer­tigt ein ehe­ma­li­ger Gesin­nungs­ge­nosse und Abrü­stungs­ak­ti­vist: «Sel­ber bin ich anfangs 70er Jahre mit der Waf­fen­aus­fuhr­ver­bots­in­itia­tive (Bühr­le­skan­dal der Schwei­zer Kano­nen in Biafra) poli­ti­siert wor­den, bin seit­her wei­ter für ein strik­tes Waf­fen­aus­fuhr­re­gime, aber jetzt wo es um die legi­time Ver­tei­di­gung gegen einen bru­ta­len Aggres­sor geht, für eine gezielte Ausnahme.»

Der stu­dierte Histo­ri­ker ist nicht der Ein­zige, der im Zusam­men­hang mit Putins Angriff auf die Ukraine von einem «bei­spiel­lo­sen Bruch der glo­ba­len Nach­kriegs­ord­nung zur fried­li­chen Kon­flikt­lö­sung unter unab­hän­gi­gen Staa­ten» spricht und dabei die Geschichte völ­lig ausblendet.

Ja, der mili­tä­ri­sche Angriff auf die Ukraine steht in kras­sem Gegen­satz zu dem, was wir unter «fried­li­cher Kon­flikt­lö­sung» ver­ste­hen und ist mit kei­nem, gar kei­nem Argu­ment zu recht­fer­ti­gen. Lei­der ist er aber nicht so bei­spiel­los und ein­ma­lig, wie man uns weis­ma­chen will. Wie war das etwa mit den US-ame­ri­ka­ni­schen Inter­ven­tio­nen von Viet­nam über den Irak bis nach Afgha­ni­stan – um nur einige Bei­spiele zu nennen? 

Wie war es 1999, als die NATO völ­ker­rechts­wid­rig Jugo­sla­wien mili­tä­risch angriff und so mass­geb­lich zum desa­strö­sen Koso­vo­krieg bei­trug? Die­sen Bruch ver­suchte man im Nach­hin­ein als «huma­ni­tä­ren Kriegs­ein­satz» zu recht­fer­ti­gen – noch so ein Begriff, der Tat­sa­chen ver­schlei­ert: Krieg ist und kann nie­mals «huma­ni­tär» sein. Und den Men­schen in Ex-Jugo­sla­wien hat er bis heute weder wirk­li­chen Frie­den noch Sicher­heit gebracht.

Nur vier Jahre spä­ter, Anfang 2003, pro­vo­zier­ten die USA den Irak­krieg, indem sie ganz bewusst die Welt mit Faken­ews über das Waf­fen­ar­se­nal des ira­ki­schen Dik­ta­tors Sad­dam Hus­sein in die Irre führ­ten. Damals waren wir 40’000 Men­schen, die in Bern für den Frie­den demon­strier­ten. Unter dem Motto «Kein Blut für Öl» enga­gierte sich eine breite pazi­fi­sti­sche Bewe­gung gegen die­sen Krieg.

Umso erschüt­tern­der, dass dies alles ver­ges­sen scheint und heute, 20 Jahre nach der letz­ten gros­sen Frie­dens­demo in der Schweiz, Pazi­fis­mus ein Schimpf­wort ist. Dabei bräuch­ten wir die Kraft des gewalt­freien Wider­stands, das Fest­hal­ten an Abrü­stung, Ver­hand­lun­gen und Befrie­dung gerade heute – viel­leicht sogar mehr denn je.

Die­ser Krieg tötet nicht nur die Men­schen in der Ukraine und zer­stört ihre Lebens­grund­la­gen – seine Aus­wir­kun­gen sind noch viel hor­ren­der: Plötz­lich ste­hen Mili­tär­aus­ga­ben und Auf­rü­stung wie­der ganz oben auf der Agenda aller Staa­ten welt­weit. Statt die drän­gen­den Pro­bleme der wach­sen­den Klima- und Bio­di­ver­si­täts­kri­sen anzu­ge­hen, ver­schärft man sie zusätz­lich. Statt für die Men­schen welt­weit Ernäh­rungs­si­cher­heit, Gesund­heits­ver­sor­gung und Men­schen­rechte durch­zu­set­zen, ver­geu­det man Res­sour­cen und Kräfte für Tötungs­ma­schi­nen und Zerstörung.

Auf das gibt es nur eine Ant­wort: Pazi­fis­mus. Weil man mit Waf­fen weder Frie­den noch Frei­heit oder Gerech­tig­keit schaf­fen kann. Ein Sieg der Ukraine, wie heute von vie­len Sei­ten gefor­dert, bedeu­tet auch, dass es einen Ver­lie­rer gibt. Womit bereits der näch­ste Krieg vor­pro­gram­miert ist. So war es immer. Und so wird es wei­ter sein, bis sich die Mensch­heit sel­ber aus­ge­löscht hat – wenn wir es nicht schaf­fen, aus die­ser Tötungs­spi­rale auszubrechen.

Was es jetzt drin­gend braucht, ist ein Waf­fen­still­stand und anschlies­send Ver­hand­lun­gen. Der Weg zu einer «Lösung» ist lang und schwie­rig – aber er kann erst began­gen wer­den, wenn die Waf­fen schwei­gen. Pazi­fis­mus ist kein Män­tel­chen, das man gegen einen Pan­zer ver­tauscht, sobald das Wet­ter etwas rauer wird.

Oder, wie es Kurt Tuchol­sky auf den Punkt gebracht hat: «Dass nie­mand von uns Lust hat, zu ster­ben – und bestimmt kei­ner, für eine sol­che Sache zu ster­ben. Dass Sol­da­ten, diese pro­fes­sio­nel­len Mör­der, nach vorn flie­hen. Dass nie­mand gezwun­gen wer­den kann, einer Ein­be­ru­fungs­or­der zu fol­gen – dass also zunächst ein­mal die see­li­sche Zwangs­vor­stel­lung aus­zu­rot­ten ist, die den Men­schen glau­ben macht, er müsse, müsse, müsse tra­ben, wenn es bläst. Man muss gar nicht. Denn dies ist eine simple, eine pri­mi­tive, eine ein­fach-grosse Wahr­heit: Man kann näm­lich auch zu Hause bleiben.»

Tanzen am Abgrund

Der 16. Februar 2023 stand für zwei gesell­schaft­li­che Gross­ereig­nisse im deut­schen Sprach­raum: Wien, die Haupt­stadt des Drei­vier­tel­takts lud, nach zwei Jah­ren Corona-beding­ter Pause, zum opu­len­ten Opern­ball. Dank Direkt­über­tra­gung blieb das Spek­ta­kel nicht den 5000 Rei­chen und Mäch­ti­gen vor Ort vor­ent­hal­ten. Längst dür­fen wir alle daran teil­ha­ben und uns zuschal­ten, wenn die Fan­fa­ren erklin­gen, die Debütant:innen auf­mar­schie­ren und sich die Wie­ner Pro­mi­nenz auf dem Tanz­par­kett tummelt.

Das Ganze mutet an wie eine wei­tere Sissi-Film­ver­sion, wie sie gerade in Mode sind. Doch nein: Die in lan­gen, wal­len­den Roben und Fracks auf­tre­ten­den Protagonist:innen die­ser Insze­nie­rung spie­len sich alle sel­ber: Der öster­rei­chi­sche Bun­des­prä­si­dent, der Bun­des­kanz­ler und sein Kabi­nett samt Anhang, eine Reihe aus­län­di­scher Polit­gä­ste – unter ihnen auch der deut­sche Finanz­mi­ni­ster Lindner. 

Doch nicht nur Politiker:innen ver­le­gen ihr Wir­ken an die­sem Abend in die Staats­oper. Dank kun­di­ger Mode­ra­tion durch ein gan­zes Team von ORF-Boulevardjournalist:innen wer­den Nicht­ein­ge­weihte im Sekun­den­takt mit Namen bewor­fen, in unzäh­lige Geheim­nisse und Geschich­ten ein­ge­weiht, wäh­rend sich die mehr oder weni­ger pro­mi­nen­ten Vertreter:innen aus Wirt­schaft, Kul­tur und der Klatsch­presse gemein­sam im Drei­vier­tel­takt auf dem Par­kett ver­lu­stier­ten. Wäre nicht hier und dort immer mal wie­der ein gezück­tes Handy auf­ge­leuch­tet, man hätte sich tat­säch­lich in Sis­sis Zei­ten zurück­ver­setzt füh­len können.

Gleich­zei­tig steht die Welt steht in Flam­men. Kli­ma­krise, Erd­be­ben­ka­ta­stro­phe, dro­hen­der Atom­krieg… Alles weit weg und unwirk­lich – alles was zählt ist der schöne Schein. Inklu­sive Jane Fonda, die ame­ri­ka­ni­sche Schau­spie­le­rin, die sich auch Bür­ger­recht­le­rin und Kli­ma­ak­ti­vi­stin rühmt: Sie winkt aus der Loge des 90jährigen Bau­lö­wen Richard Lug­ner und lässt über die Medien ver­lau­ten, sie habe sich für teu­res Geld kau­fen und nach Wien ein­flie­gen lassen…

Und wäh­rend in Wien die Rei­chen und Mäch­ti­gen wie einst die Passagier:innen auf der Tita­nic sich auf dem Par­kett dre­hen, als gäbe es nichts Wich­ti­ge­res, neigt sich in Ber­lin der zweite gesell­schaft­li­che Gross­an­lass die­ses Abends schon bald dem Ende zu: Hier wan­del­ten, nicht min­der gla­mou­rös und zurecht­ge­schminkt als in Wien, eben­falls Polit- und andere Pro­mi­nenz sowie Stars, Stern­chen, die sich gerne zum kul­tu­rel­len Estab­lish­ment zäh­len, über den roten Tep­pich. Selbst­ver­ständ­lich wird auch die­ses Ereig­nis vom Fern­se­hen direkt über­tra­gen und wir alle kön­nen mit­schwel­gen, mit­fie­bern, mitträumen…

Zum Auf­takt der Ber­li­nale 2023 – dem gröss­ten Film­fe­sti­val im deut­schen Sprach­raum – flim­mert als erstes eine Ein­spie­lung aus der «rea­len Welt» über die Film­lein­wand: Der ein­stige Soap­star und Komi­ker, den das wirk­li­che Leben aufs Par­kett der Welt­po­li­tik gespült hat, spricht per Video­schal­tung zum ver­sam­mel­ten Galapublikum.

Und plötz­lich ver­mi­schen sich auch hier «Rea­li­tät» und Traum­welt: Gross­auf­nah­men zei­gen betrof­fene, ver­klärte Gesich­ter, feuchte Augen wäh­rend der Rede von Wolo­dymyr Selen­skyi. Film­reif ver­steht der Prä­si­dent der Ukraine, das Publi­kum auf sei­nen Kampf «David gegen Goli­ath» ein­zu­stim­men. Und sei­ner For­de­rung nach immer mehr Waf­fen und Soli­da­ri­tät Nach­druck zu verleihen.

Im Rah­men der Ber­li­nale wird Selenk­syi dann als Film­prot­ago­nist einen wei­te­ren pro­mi­nen­ten Auf­tritt haben: Der US-ame­ri­ka­ni­sche Film­schau­spie­ler und Regis­seur Sean Penn hat einen Dok­film über ihn gedreht. Das Publi­kum wird begei­stert sein – und sich zwi­schen Cüpli und Comedy über die Her­aus­for­de­run­gen der heu­ti­gen Zeit debat­tie­ren. Man ist ja unter sich, an der hip­pen Ber­li­nale. Man geniesst die tol­len Tage, gibt sich poli­tisch – und tanzt auch dort mun­ter wei­ter dem Abgrund entgegen.

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