Der 16. Februar 2023 stand für zwei gesellschaftliche Grossereignisse im deutschen Sprachraum: Wien, die Hauptstadt des Dreivierteltakts lud, nach zwei Jahren Corona-bedingter Pause, zum opulenten Opernball. Dank Direktübertragung blieb das Spektakel nicht den 5000 Reichen und Mächtigen vor Ort vorenthalten. Längst dürfen wir alle daran teilhaben und uns zuschalten, wenn die Fanfaren erklingen, die Debütant:innen aufmarschieren und sich die Wiener Prominenz auf dem Tanzparkett tummelt.
Das Ganze mutet an wie eine weitere Sissi-Filmversion, wie sie gerade in Mode sind. Doch nein: Die in langen, wallenden Roben und Fracks auftretenden Protagonist:innen dieser Inszenierung spielen sich alle selber: Der österreichische Bundespräsident, der Bundeskanzler und sein Kabinett samt Anhang, eine Reihe ausländischer Politgäste – unter ihnen auch der deutsche Finanzminister Lindner.
Doch nicht nur Politiker:innen verlegen ihr Wirken an diesem Abend in die Staatsoper. Dank kundiger Moderation durch ein ganzes Team von ORF-Boulevardjournalist:innen werden Nichteingeweihte im Sekundentakt mit Namen beworfen, in unzählige Geheimnisse und Geschichten eingeweiht, während sich die mehr oder weniger prominenten Vertreter:innen aus Wirtschaft, Kultur und der Klatschpresse gemeinsam im Dreivierteltakt auf dem Parkett verlustierten. Wäre nicht hier und dort immer mal wieder ein gezücktes Handy aufgeleuchtet, man hätte sich tatsächlich in Sissis Zeiten zurückversetzt fühlen können.
Gleichzeitig steht die Welt steht in Flammen. Klimakrise, Erdbebenkatastrophe, drohender Atomkrieg… Alles weit weg und unwirklich – alles was zählt ist der schöne Schein. Inklusive Jane Fonda, die amerikanische Schauspielerin, die sich auch Bürgerrechtlerin und Klimaaktivistin rühmt: Sie winkt aus der Loge des 90jährigen Baulöwen Richard Lugner und lässt über die Medien verlauten, sie habe sich für teures Geld kaufen und nach Wien einfliegen lassen…
Und während in Wien die Reichen und Mächtigen wie einst die Passagier:innen auf der Titanic sich auf dem Parkett drehen, als gäbe es nichts Wichtigeres, neigt sich in Berlin der zweite gesellschaftliche Grossanlass dieses Abends schon bald dem Ende zu: Hier wandelten, nicht minder glamourös und zurechtgeschminkt als in Wien, ebenfalls Polit- und andere Prominenz sowie Stars, Sternchen, die sich gerne zum kulturellen Establishment zählen, über den roten Teppich. Selbstverständlich wird auch dieses Ereignis vom Fernsehen direkt übertragen und wir alle können mitschwelgen, mitfiebern, mitträumen…
Zum Auftakt der Berlinale 2023 – dem grössten Filmfestival im deutschen Sprachraum – flimmert als erstes eine Einspielung aus der «realen Welt» über die Filmleinwand: Der einstige Soapstar und Komiker, den das wirkliche Leben aufs Parkett der Weltpolitik gespült hat, spricht per Videoschaltung zum versammelten Galapublikum.
Und plötzlich vermischen sich auch hier «Realität» und Traumwelt: Grossaufnahmen zeigen betroffene, verklärte Gesichter, feuchte Augen während der Rede von Wolodymyr Selenskyi. Filmreif versteht der Präsident der Ukraine, das Publikum auf seinen Kampf «David gegen Goliath» einzustimmen. Und seiner Forderung nach immer mehr Waffen und Solidarität Nachdruck zu verleihen.
Im Rahmen der Berlinale wird Selenksyi dann als Filmprotagonist einen weiteren prominenten Auftritt haben: Der US-amerikanische Filmschauspieler und Regisseur Sean Penn hat einen Dokfilm über ihn gedreht. Das Publikum wird begeistert sein – und sich zwischen Cüpli und Comedy über die Herausforderungen der heutigen Zeit debattieren. Man ist ja unter sich, an der hippen Berlinale. Man geniesst die tollen Tage, gibt sich politisch – und tanzt auch dort munter weiter dem Abgrund entgegen.