Wer zu früh schreibt…

NZZ-Auslandchef Peter Rásony dürf­te heu­te nicht gera­de sei­nen bes­ten Tag gehabt haben. In gros­sen Lettern titel­te sein Blatt am 19. Januar 2023: «Greta Thunberg ver­rät ihr eige­nes jun­ges Lebenswerk» – und im Lead folgt die Begründung: «Die berühm­te Klimaaktivistin Greta Thunberg zieht den Schlamm des Kohleabbaus bei Lützerath dem Glanz des Weltwirtschaftsforums in Davos vor.»

Nur Stunden spä­ter ist sein Text Makulatur. Tatsache ist: Die bei­den Klimaaktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer sind direkt aus Lützerath kom­mend in Davos ein­ge­trof­fen. Um zusam­men mit Mitstreiterinnen im Rahmen eines CNBC-Panels ihren Aufruf für einen sofor­ti­gen Ausstieg aus den fos­si­len Energien zu bekräftigen.

Ein wohl­über­leg­ter, klu­ger Schachzug, der die «Analyse» von Rásony dumm aus­se­hen lässt. Dieser hat­te näm­lich in sei­nem Artikel mit fast rüh­ren­den Worten sei­nem Bedauern Ausdruck gege­ben, dass aus der «unschul­di­gen, um die Zukunft der Jugend besorg­ten Schülerin» eine Aktivistin gewor­den sei, die heu­te «Lützerath als Bühne für ihre Mission» wähle.

Dort, räso­niert Rásony wei­ter, wer­de fürs glo­ba­le Klima nichts gewon­nen. Wohingegen auf dem Parkett der Mächtigen in der Vergangenheit, nicht zuletzt dank der Klimajugend, «poli­ti­sche Weichenstellungen und wirt­schaft­li­che Investitionsentscheidungen zum Ausbau des Klimaschutzes von immenser Tragweite beschlos­sen» wor­den sei­en. Allerdings muss auch der NZZ-Redaktor ein­räu­men, dass die­se völ­lig unge­nü­gend sind. Und wünscht sich des­halb «mehr Einfluss Thunbergs auf die Mächtigen der Welt auf der gros­sen Bühne des WEF oder an den Klimakonferenzen.» 

Was er nicht begrif­fen hat: Ohne Klimastreik und dem dar­aus resul­tie­ren­den Druck von der Strasse, hät­te Greta Thunberg gar nie eine Einladung ans WEF erhal­ten. Sie hat kei­nes­wegs die Bühne gewech­selt – gute Aktivist:innen zeich­nen sich eben dadurch aus, dass sie ihre Mission agil und gescheit ver­tre­ten – mit den je nach Situation pro­ba­ten Mitteln. 

Die vier jun­gen Frauen haben heu­te ihren ein­stün­di­gen Auftritt am WEF jeden­falls genutzt und Klartext gespro­chen. Ihre Forderung ist so ein­fach wie radi­kal: Keine wei­te­ren Investitionen in fos­si­le Energien!

Es braucht einen raschen Ausstieg, ohne Wenn und Aber, das beto­nen nicht nur die vier Aktivistinnen auf dem Podium, unter­stützt wird ihre Forderung auch vom Direktor der Internationalen Energieagentur IEA, der eine Vervielfachung der Investitionen in grü­ne Energien for­dert, um den Umstieg zu beschleunigen.

Wie drin­gend Handeln gefor­dert ist, macht Klimaaktivistin Vanessa Nekate deut­lich: Mit ersti­cken­der Stimme erzählt sie von erschüt­tern­den Begegnungen in afri­ka­ni­schen Dörfern, wo Menschen infol­ge der zuneh­men­den Dürre ster­ben. Für die aktu­el­len Diskussionen zur Energiekrise fin­det sie deut­li­che Worte: Alles dre­he sich immer nur um die Befindlichkeit der rei­chen Länder des Westens. «Die dis­ku­tier­te Beschränkung auf 1,5 Grad Klimaerwärmung ver­mag viel­leicht Europa zu schüt­zen – es gibt aber Regionen in Afrika, wo schon 1,2 Grad Erwärmung kata­stro­pha­le Folgen haben.»

Die Vierte im Bunde, Helena Gualinga, unter­streicht die Forderung nach einer «gerech­ten Transformation». Der an der Klimakonferenz in Ägypten beschlos­se­ne Klimafonds zuguns­ten armer Länder sei bis­lang ein «lee­rer Korb», die Dringlichkeit der gefor­der­ten Massnahme spieg­le sich bis­her nicht in Massnahmen.

Eindrücklich, wie sach­lich die vier gut infor­mier­ten Frauen ihre Botschaft ver­tre­ten, wie gut sie argu­men­tie­ren – wie logisch und ein­deu­tig ihre Message ist. Trotzdem – oder gera­de des­halb – ist zu befürch­ten, dass auch die­ser Appell im Selenski-Sperrfeuer weit­ge­hend unge­hört verhallt.

Auf die Frage, wie es wei­ter­ge­hen soll, fasst Vanessa Nekate zusam­men: «Viele sagen, dass es uns braucht und loben unser Engagement – aber nur weni­ge schlies­sen sich uns an. Das ist frus­trie­rend.» Ihre drei Mitstreiterinnen stos­sen ins glei­che Horn. Luisa Neubauer betont, dass die Erfahrungen der letz­ten Tage in Lützerath, wo sich Landwirt:innen, Grosseltern — gan­ze Dorfgemeinschaften dem Protest ange­schlos­sen hät­ten, ermu­ti­gend gewe­sen seien.

Und Greta Thunberg bringt es noch­mals auf den Punkt: «Die Entwicklung geht mit Vollgas vor­an – aber in die fal­sche Richtung. Die Hoffnung, dass wir das stop­pen kön­nen, kommt von den Leuten, die sich unse­rer Bewegung anschlies­sen. Wir sind schon vie­le. Aber wir müs­sen vie­le vie­le mehr wer­den.…». Nicht wahr, Peter Ràsony?

 

 

Skiferien, Socken und Schokolade.… alles CO2-neutral!

Kürzlich benö­tig­te ich mal wie­der Socken. Selbstverständlich nicht irgend­wel­che Wegwerfsocken, schliess­lich ist frau ja sen­si­bi­li­siert. Ein siche­rer Wert für unbe­denk­li­che Einkäufe: Naturaline bei Coop. Die Socken im Gestell sind – Paar für Paar – fein säu­ber­lich an Kunststoffhaken auf­ge­hängt. Deren Recycling kann ich als auf­ge­klär­te Konsumentin gleich sel­ber im Coop über­neh­men, durch das Einwurfloch «Plastikflaschen», nach­dem ich die Sammelstelle im zwei­ten Untergeschoss gesucht und gefun­den habe. Soweit, so gut.

Bio & Fair steht auf der rezi­k­lier­ba­ren Etikette. Mehr noch: Das Produkt wur­de zu 100% fair pro­du­ziert, die Baumwolle stammt zu 100% aus Bioanbau und vor allem: Die Socken sind 100 % CO2-neu­tral. Da wird einem leicht gemacht, was der Slogan auf der Etikette auch noch sug­ge­riert: «Gut aus­se­hen und sich gut füh­len.» 100% rei­nes Konsument:innengewissen, also.

Das ist wun­der­bar: Klimaschutz beim Sockenkauf! Aber wie funk­tio­niert das über­haupt? Schliesslich fal­len ja ent­lang der gesam­ten Lieferkette – von der Baumwollproduktion auf dem Feld über die Herstellung der Socken (die nota­be­ne nebst Baumwolle auch Polyamid und Elasthan ent­hal­ten) bis zum Verkauf in der Filiale CO2-Emissionen an. Also wirk­lich 100% CO2-neutral?

Das Zauberwort heisst «Kompensation»… Auf der Coop-Website erfah­re ich, dass die CO2-Neutralität mei­ner Socken erkauft wur­de: «Für unver­meid­ba­re CO2-Emissionen haben wir eine Kompensationslösung gesucht und in unse­rer eige­nen tex­ti­len Lieferkette gefun­den. Durch den Bau von Biogasanlagen und effi­zi­en­ten Öfen in Indien und Tansania redu­zie­ren wir den Verbrauch von Feuerholz und kom­pen­sie­ren ent­stan­de­ne CO2-Emissionen direkt bei den Bio-Baumwollbauern.»

Keine Frage: Solche Projekte sind wich­tig und begrüs­sens­wert. Trotzdem: Das Label «CO2-neu­tral» sug­ge­riert etwas ande­res. Als Käuferin wird mir vor­ge­gau­kelt, dass ich nicht nur Socken, son­dern was immer mein Herz begehrt wei­ter­hin gren­zen­los kau­fen und kon­su­mie­ren kann – solan­ge es «kom­pen­siert» CO2-neu­tral ist.

Kein Wunder, hat der Begriff mitt­ler­wei­le Hochkonjunktur. Aktuell wer­ben etwa die St. Moritzer Bergbahnen mit dem schweiz­weit ers­ten «CO2-neu­tra­len» Schneesportangebot – was bei nähe­rer Betrachtung nicht viel mehr als ein bil­li­ger Werbegag ist. Dass aus­ge­rech­net eine Luxusdestination wie St. Moritz mit dem CO2-Label wirbt und gleich­zei­tig ein Geschäftsmodell betreibt, das sich weit­ge­hend um Energie- und Ressourcensparmassnahmen fou­tiert, ist aller­dings nicht wei­ter erstaun­lich: The Trend is your friend!

Vom Kuscheltier bis zum Flug auf die Malediven kann man heu­te – dank Kompensation – alles zum ver­meint­li­chen CO2-Nulltarif zu haben. Ein cle­ve­res Geschäftsmodell, denn wir Konsumierenden las­sen uns ger­ne ein­lul­len: Wenn Du mein Produkt kaufst, tust Du was fürs Klima. Also kauf ruhig, am bes­ten drei Stück, eines ist gratis!

Wer wirk­lich etwas für die Reduktion des CO2-Fussabdrucks tun will, kommt um die ernüch­tern­de Erkenntnis nicht her­um: CO2-neu­tral ist nur, was nicht pro­du­ziert, kon­su­miert und schliess­lich weg­ge­wor­fen wird. Mit dem blos­sen Label «CO2-neu­tral» hin­ge­gen gelangt kein Gramm Kohlendioxid weni­ger in die Atmosphäre. Im bes­ten Fall bleibt sich der Ausstoss gleich, «dank» Kompensation.

Bei der «Kosten-Nutzen-Berechnung» für Kompensationsleistungen stel­len sich jedoch zusätz­li­che Fragen. Wie kann es zum Beispiel sein, dass ich mich bei MyClimate etwa für einen Retourflug Zürich-Heraklion mit gera­de mal 20 Franken «neu­tral­kau­fen» kann. Dies, obschon ich dabei das Verpuffen von 0,7 Tonnen CO2 in die Atmosphäre verantworte.

Fakt ist: Soll der Klimawandel noch gestoppt wer­den, dürf­ten pro Person und Jahr welt­weit höchs­tens 0,6 Tonnen CO2 aus­ge­stos­sen wer­den. In der Schweiz ver­ur­sacht eine Person im Durchschnitt über 8 Tonnen CO2 (ohne Flüge) – davon kann man sich bei MyClimate mit 228 Franken im Jahr frei­kau­fen. – Irgendwie geht die­se Rechnung nicht auf.

Und ich fra­ge mich, ob es für mein Gewissen und vor allem fürs Klima nicht bes­ser ist, wenn ich mir beim nächs­ten Mal kli­ma­fol­gen­aus­ser­acht­las­sen­de Socken kau­fe, qua­li­ta­tiv hoch­ste­hen­de, die ich bei Bedarf auch stop­fen kann…

Kleine Überraschung

Altjahreswoche. Ich habe mich mit einer Freundin zu einem Museumsbesuch ver­ab­re­det. Ein paar Minuten zu früh am Bahnhof, gibt’s noch einen Abstecher zur Buchhandlung Orell Füssli. Wo mir von einem Gestell gleich neben dem Eingang eine klei­ne Metalldose ins Auge sticht. Die Aufschrift hat mich auf der Stelle ver­führt: «POWERBOOST für Powerfrauen».

Was für ein hüb­sches Geschenk! Nicht unbe­dingt lebens­not­wen­dig und schon gar kei­ne höhe­re Literatur, aber wit­zig: Die hand­li­che Schachtel ent­hält zwei Dutzend Kärtchen mit Sprüchen und Zitaten für Motivation und Schwung im Alltag. Herausgegeben von einem deut­schen Verlag.

Die Zeit läuft, der Zug fährt bald. Ich wer­fe einen flüch­ti­gen Blick auf die auf der Rückseite auf­ge­kleb­te Preisetikette – CHF 11.90. Ziemlich teu­er, für eine klei­ne Überraschung – aber egal. Ich eile zur Kasse, zah­le und ste­cke die Dose ein. Um sie ein paar Minuten spä­ter im Zug wie­der aus mei­ner Tasche zu zie­hen: Schliesslich han­delt es sich um ein Geschenk, also muss das Preisschild weg.

Der Kleber ist schnell ent­fernt. Darunter befin­det sich aller­dings, auf die Schachtel auf­ge­druckt, ein wei­te­res Schild – mit der «unver­bind­li­chen Preisempfehlung: 6.00 Euro». – Super, und ich habe soeben den dop­pel­ten Preis bezahlt! Ein tol­ler Booster für die Powerfrau…

Zwei Tage spä­ter in mei­ner Lieblingsbuchhandlung Nievergelt in Zürich-Oerlikon: In der Hoffnung auf neue, opti­mis­ti­sche­re Impulse erste­he ich den Wälzer «Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit» von David Graeber und David Wengrow. Die deut­sche Ausgabe ist im Klett-Cotta Verlag erschie­nen und kos­tet bei Nievergelt CHF 39.90

Nach dem Powerbooster-Erlebnis kann ich es nicht las­sen und knüb­le, sobald ich zuhau­se auf dem Sofa sit­ze, und noch bevor ich das Buch über­haupt auf­schla­ge, das Preisschild weg. Und sie­he da: Der auf­ge­druck­te Preis beträgt in die­sem Fall 28 Euro. Angesichts des aktu­el­len Wechselkurses von 98,5 Rappen für einen Euro habe ich auch hier glat­te CHF 12.30 mehr bezahlt als vom Verlag bestimmt. Aufpreis: 44 Prozent!

Dass wir in der Schweiz für vie­le Waren, nament­lich auch für Bücher, mehr bezah­len als in Deutschland, ist teil­wei­se ok. Schliesslich müs­sen die Buchhändler:innen in der Schweiz auch mehr ver­die­nen als in den Nachbarländern, um über­le­ben zu kön­nen. Aber trotz­dem: Sind solch enor­me Preisunterschiede wirk­lich gerechtfertigt?

Nun will ich es genau wis­sen und recher­chie­re noch ein wenig wei­ter: Hätte ich «Anfänge» bei Amazon bestellt (was ich NIEMALS tun wür­de!!!), wäre ich mit 26.82 Euro am güns­tigs­ten weg­ge­kom­men. Bei Orell Füssli hin­ge­gen – der mit 46 Filialen gröss­ten Buchhandelskette in der Schweiz – kos­tet das glei­che Buch sage und schrei­be CHF 42.90!

Da stellt sich mir in der frei­en Schweizer Marktwirtschaft noch die Frage, deren Antwort wohl ein streng gehü­te­tes Geheimnis bleibt: Wer – wie Orell Füssli – gros­se Mengen ein­kauft und umsetzt, kriegt bei der Beschaffung güns­ti­ge Grosshandelspreise. Womit die Orell Füssli Bruttomarge noch atem­be­rau­ben­der wäre…

Was mich in mei­ner bis­he­ri­gen Haltung bestärkt: Ich wer­de mei­ne Lektüre wei­ter­hin in unse­rer Quartierbuchhandlung bezie­hen. Und wenn ich nach Deutschland fah­re, ver­su­che ich – egal ob in Eisenach, Berlin oder Bamberg – vor den Schaufenstern ein­la­den­der, ver­füh­re­ri­scher Buchläden der Versuchung zu wider­ste­he, mein Köfferchen mit 40 Prozent bil­li­ge­ren Büchern zu fül­len. Was jedoch nicht heisst, dass ich gänz­lich auf das Stöbern in «frem­den Buchhandlungen» und auf Reisesouvenirs in Buchform verzichte…

Koks und etwas Wärme

Samstagabend im Advent: Mit dem Zug durch die Dämmerung nach Bern. Als wir ankom­men, ist es bereits Nacht. In den Strassen viel Volk. Auf dem Waisenhausplatz Weihnachtsmarkt — Gedränge, müpf und stüpf und kei­ne Spur von Stromsparen im Strahlenmeer. Jahr für Jahr die glei­chen Stände. Und immer noch eini­ge dazu.

Die Palette reicht vom Weihnachtstand über Leckereien, Schnitzereien, kul­ti­gen Schmuck bis hin zu edlen Musikinstrumenten. Ein üppi­ges Angebot – das meis­te davon Dinge, die der Mensch für ein men­schen­wür­di­ges Leben eigent­lich nicht braucht. Ein Perpetuum Mobile des Überflusses. Kein Luxus, aber wie es auf Neudeutsch heisst: Nice to have, nicht mehr.  Weihnachten, das Fest zwi­schen Black Friday und Ostern, funk­tio­niert nach wie vor als zuver­läs­si­ger Motor für den Konsumrausch in der rei­chen Schweiz.

Vor dem Konzert ist noch Zeit für ein Apéro im Kornhaus, so der Plan. Natürlich auch das Nice to have, nicht mehr. Seit unse­rem letz­ten Besuch hat sich dort eini­ges ver­än­dert. Das Interieur ist zum Edel-Pizzalokal mutiert. Wir wagen uns nicht an die gedeck­ten Restaurant-Tische, aber in der ange­glie­der­ten Vinothek scheint es noch Platz zu haben.

Am Fenster steht in gros­sen Lettern Più – ein wei­te­res Lokal in der Berner Innenstadt, das sich der Zürcher Bindella Konzern ein­ver­leibt hat. Ein Glas Rotwein ist hier mit 15 Franken oder mehr auf der Schiefertafel bepreist. Im Glauben an ein Leben in beschei­de­ne­rem Format ver­las­sen wir das Lokal und fin­den vis-à-vis im guten alten Café des Pyrenées, was wir suchen: Ein Glas Rioja zu einem ver­nünf­ti­gen Preis, und erst noch in leben­di­ger Gesellschaft…

Vor dem Eingang zur Französischen Kirche eine Frau, in einen Schal ein­ge­wi­ckelt, mit einem Plastikbecher in der Hand. Die meis­ten Konzertbesucher:innen gehen unge­rührt an ihr vor­bei. Schliesslich haben wir für unse­re Tickets bezahlt, da bleibt kein Kleingeld für eine Bettlerin. Zumal hier­zu­lan­de – so die vor­herr­schen­de Meinung – man mit 10 Franken pro Tag für Nahrung, Kleidung und Hygiene aus­rei­chend ver­sorgt ist und daher nie­mand bet­teln muss.

Was folgt ist eine Stunde Wohlklang, ein vor­weih­nächt­li­ches Chorkonzert mit  Werken aus Europa und Lateinamerika. Als Höhepunkt die Misa Criolla von Ariel Ramírez. Das Publikum reagiert mit Begeisterung und applau­diert kräf­tig. Zwei Zugaben, dann wer­den wir in die kal­te Nacht entlassen.

Die Frau im Schal steht immer noch da, bei Biswind und Nullgradtemperatur. Weihnachtsbeleuchtung auf dem Weg zum Münster. In der unte­ren Altstadt sit­zen eini­ge Unverdrossene draus­sen vor dem Bildschirm. Argentinien hat soeben das zwei­te Tor geschossen.

Wir spa­zie­ren zurück Richtung Bahnhof. Die Buden des Weihnachtsmarkts sind nun geschlos­sen, in den erleuch­te­ten Restaurants und Bars teils gäh­nen­de Leere, andern­orts reger Betrieb.

Der Intercity nach Zürich ist schon gut besetzt. Unten hat es noch freie Plätze.

Kurz nach­dem sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, stol­pern zwei jun­ge Männer in unse­ren Wagen und set­zen sich in die Reihe schräg hin­ter uns. Sie sind laut und sicht­bar ver­la­den. Zwei Passagiere, die schon vor uns da waren, ver­las­sen das Abteil, suchen sich ver­mut­lich einen ande­ren Platz, wei­ter vor­ne im Zug.

Die bei­den Jungs hin­ter uns reden unab­läs­sig auf­ein­an­der ein. Der Sprache nach zu schlies­sen, kom­men sie aus dem ara­bi­schen Raum. Vor ihnen liegt ein Handy, Display nach oben. Darauf streut der eine weis­ses Pulver, formt es zu einer Linie… Dann lau­tes Räuspern – zuerst der eine, dann der andere.

Kurz vor Olten kommt der Kondukteur. Die bei­den haben kein Billett. Er ver­zieht das Gesicht und ver­langt: «Passport!» Auch mehr­ma­li­ges Wiederholden der Forderung nützt nichts. Natürlich haben die bei­den kei­nen Ausweis dabei. Also zieht der SBB-Mann zwei Zettel aus der Tasche und lässt sie Name und Adresse auf­schrei­ben. Der eine folgt dem Befehl, der ande­re schaut zu.

Der Kondukteur kann die Schrift nicht lesen. «M – E– H – M – E – D, Mehmed», buch­sta­biert der jun­ge Mann. Die Adresse lau­tet Centre Asyl in Lyss. «Wie lau­tet die Strassennummer», will der SBB-Beamte wis­sen. Schulterzucken.

Weitere Fragen, nun wird klar: Die Zwei sind aus Tunesien. Nach eini­gem Hin und Her gibt sich der Kondukteur zufrie­den und zieht wei­ter. Die Zettel mit Namen und Adresse steckt er ein. Kaum ist er weg, gibt es eine wei­te­re Linie Koks…

Die Jungs haben nichts zu ver­lie­ren. Wann und wie sie in die Schweiz gekom­men sind, mit wel­chen Hoffnungen wis­sen wir nicht. Die bei­den sind schät­zungs­wei­se um die Zwanzig. Ich stel­le mir vor, wie sie als klei­ne Buben in der Sonne am Strand gespielt haben. In die­sem schö­nen Land, das unser­eins mit Tourismus lockt, wäh­rend sei­ne Bevölkerung unter Repression, Perspektivenlosigkeit und Armut lei­det. Tausende suchen des­halb ihr Glück im Ausland – und fin­den oft nur Elend.

Fest steht: Wer aus Tunesien kommt, hat in der Schweiz kaum Chance auf Asyl. Und wer im Bundesasylzentrum in Lyss gestran­det ist, bekommt die Kälte in unse­rem Land von ihrer schlimms­ten Seite zu spü­ren. Sie blei­ben  aus­ge­schlos­sen, im Wartsaal zur Ausschaffung. Auch wir hal­ten Distanz. Einzig, als dem einen ein Feuerzeug run­ter­fällt, hel­fen wir beim Wiederfinden. Die bei­den bedan­ken und ent­schul­di­gen sich über­schwäng­lich. Sie haben gelernt, dass sie hier nicht will­kom­men sind und die ein­hei­mi­schen Passagiere bes­ser nicht stören.

Egal. Irgendwann ist alles egal, für jene, die nichts mehr zu ver­lie­ren haben. Mit Zwanzig gestran­det in der rei­chen Schweiz, wo die Kälte durch Mark und Bein geht. Die Zugfahrt von Bern nach Zürich bedeu­tet immer­hin eine Stunde ohne Frieren. Und der Koks wärmt die Seele. Ein wenig.

In Zürich stei­gen wir alle aus. Der Kondukteur hat kei­ne Polizei auf­ge­bo­ten. Gut so. Was wohl mit den auf­ge­nom­me­nen Personalien geschieht? Vielleicht trifft er sie ja wie­der, auf ihrem Rückweg ins Asylzentrum. In einem nächs­ten Intercity, der ohne Halt von Zürich nach Bern fährt, wes­halb er kei­ne Möglichkeit hat, zwei Sans Papiers ohne Billett unter­wegs der Polizei zu übergeben…

Am nächs­ten Tag beim Sonntagsbrunch in der war­men Stube die Frage: Wo sind die Tunesier ges­tern noch hin? Wie haben sie die Nacht ver­bracht, wie geht es ihnen heu­te Morgen?

Muttersein – weder Gütesiegel noch politisches Programm!

Die SP wur­de mit dem Rücktritt von Bundesrätin Simonetta Sommaruga vor einem Monat sicht­lich auf dem fal­schen Fuss erwischt. Trotzdem reagier­te die Parteileitung schnell und prä­gnant: Sofort gab sie die Order durch, für die Nachfolge kom­me nur eine Frau infra­ge. Dabei liess sie nichts ver­lau­ten über deren poli­ti­sche Positionierung, Erfahrung und Zukunftsvision: im Moment unwich­tig, zweit­ran­gig. Das Profil der Wunschkandidatin lau­te­te schlicht und ein­fach: eine jun­ge Mutter.

Damit woll­te die SP-Spitze wohl zei­gen, wie auf­ge­schlos­sen und à jour sie ist. Und merk­te nicht, dass sie aus­ge­rech­net mit die­ser Fokussierung ein­mal mehr alte Clichés bedient und sich in die trü­ben Fahrwasser der Gender-Diskriminierung ver­irrt hat.

Die meis­ten Menschen hier­zu­lan­de wür­den den Vorwurf, Frauen auf ihre Kleidung, Frisur oder das Muttersein zu redu­zie­ren weit von sich wei­sen. Zu recht. Gleichzeitig ist es aber eine Tatsache, dass die­se Attribute je nach Gender-Status einer Person unter­schied­lich gewich­tet werden.

Oder kann sich jemand erin­nern, dass je ein männ­li­cher Politiker zum Bundesratskandidaten gekürt wur­de, weil er «ein jun­ger Vater» war? – Was wis­sen wir über­haupt über das Vatersein unse­rer Bundesräte? Müssen wir dar­über etwas wis­sen? Und: Welche Rolle darf – oder soll – der Familienstatus eines Politikers, einer Politikerin spielen?

Bei der Suche nach einer «jun­gen Mutter» für den Bundesrat durf­te natür­lich der Hinweis auf Vorbilder im Ausland nicht feh­len. Dazu gehört etwa die Premierministerin von Neuseeland, Jacinda Ardern. Die pro­fi­lier­te Politikerin, die sich ins­be­son­de­re für sozia­le Gerechtigkeit und Umweltschutz enga­giert, wur­de 2017 zur Premierministerin gewählt – wegen ihres Parteiprogramms. Dieses dürf­te sich mit der Geburt ihrer Tochter 2018 kaum ver­än­dert haben. Zumindest nicht, wegen dem Kind.

Obschon uns die SP und die Medien in den letz­ten Wochen das Gegenteil weis­ma­chen woll­ten: Muttersein ist weder ein Gütesiegel noch ein Programm. Aber sehr wohl ein Unique Selling Point im heu­ti­gen Politikgeschäft. Nachdem eine Mutterpolitikerin nach der ande­ren abge­wun­ken hat­te, blieb schliess­lich Evi Allemann als ein­zi­ge «jun­ge Mutter» übrig.

Die Berner Regierungsrätin ist 44 Jahre alt und hat zwei schul­pflich­ti­ge Kinder im Alter von 7 und 11 Jahren. Eine jun­ge Mutter? Echt jetzt? — Ob die­se Etikette ein Etikettenschwindel war, spielt aber letzt­end­lich kei­ne Rolle. Fakt ist: Evi Allemann wur­de wäh­rend der gesam­ten Kandidatinnenkür auf ihr Muttersein redu­ziert. Das hat sie nicht ver­dient – auch wenn sie am rech­ten Rand der SP poli­ti­siert und für mich nie und nim­mer eine Wunschkandidatin gewe­sen wäre. Kinder hin oder her.

 

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