Die Geschichte hinter der Geschichte

Die Tsu­nami-Repor­tage von Chri­stoph Wehrli erschien buch­stäb­lich im letz­ten Moment: Nach­dem die Medien aus Anlass des 10. Jah­res­tags der Flut­ka­ta­stro­phe aus­gie­big über ein­stige Opfer und Resul­tate der dama­li­gen Hilfs­ak­tio­nen berich­tet hat­ten, publi­zierte die NZZ als Schluss­punkt ihrer Tsu­nami-Serie am 27. Dezem­ber einen ganz­sei­ti­gen Arti­kel über die Tsu­nami-Wie­der­auf­bau­pro­jekte der Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tion Hel­ve­tas in Sri Lanka.

In die­sem Fall ist die Geschichte hin­ter der Geschichte aller­dings span­nen­der – denn Neues wusste der ehe­ma­lige Inland­re­dak­tor der NZZ nicht zu berich­ten. Kein Wun­der: Auf Repor­tage geschickt wurde er erst Ende Novem­ber 2014 – nach­dem in der Zeit­schrift Hoch­par­terre unser kri­ti­scher Bericht über den Wie­der­auf­bau in Sri Lanka erschie­nen war.

Weil wir darin u.a. die Ent­wick­lung in ehe­ma­li­gen Hel­ve­tas-Umsied­lungs­pro­jek­ten schil­der­ten, befürch­te­ten die Ver­ant­wort­li­chen bei der Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tion mit der Aus­strah­lung unse­res Doku­men­tar­films wei­tere Kri­tik. Und beschlos­sen, sel­ber medien-aktiv zu wer­den und jeman­den für einen Augen­schein in die alten Pro­jekte zu schicken.

Kurz­fri­stig dafür auf­ge­bo­ten wurde der dama­lige, nun pen­sio­nierte, Pro­jekt­lei­ter für den Tsu­nami-Wie­der­auf­bau Chri­stian Oswald. Er erhielt von sei­nem ehe­ma­li­gen Arbeit­ge­ber Hel­ve­tas das Man­dat, seine alten Pro­jekte im Osten Sri Lan­kas zu besu­chen und zu «eva­lu­ie­ren». Zudem luden die Hel­ve­tas-Ver­ant­wort­li­chen den renom­mier­ten pen­sio­nier­ten NZZ-Jour­na­li­sten Chri­stoph Wehrli ein, Oswald zu beglei­ten – um anschlies­send über die Pro­jekte zu schrei­ben. Am 22. Novem­ber machte sich das Duo auf die von Hel­ve­tas orga­ni­sierte Reise.

Eigent­lich wollte Chri­stian Oswald schon ein Jahr zuvor nach Sri Lanka: Wir hat­ten ihn ein­ge­la­den, uns wäh­rend der Dreh­ar­bei­ten zum Dok­film über Sri Lanka, zehn Jahre nach dem Tsu­nami, zu beglei­ten. Und über die Ent­wick­lung sei­ner ehe­ma­li­gen Pro­jekte zu reflek­tie­ren. Weil wir unsere geplante Reise mehr­mals ver­schie­ben muss­ten – es war schwie­rig, die not­wen­di­gen Jour­na­li­sten-Visa für die Dreh­ar­bei­ten zu erhal­ten – zog Chri­stian seine Zusage schliess­lich zurück. Er wollte Weih­nach­ten 2013 lie­ber bei Hund und Fami­lie ver­brin­gen als in Sri Lanka.

Mit uns im Osten Sri Lan­kas war aber Daniel Schwit­ter, der die Umsied­lungs­pro­jekte damals als Archi­tekt lei­tete. Ob er nach sei­nem drei­tä­gi­gen Besuch vor Ort mit Hel­ve­tas Kon­takt auf­ge­nom­men und über das Gese­hene berich­tet hat, ent­zieht sich unse­rer Kennt­nis. – Fest steht, dass das Schick­sal der Men­schen in den abge­schlos­se­nen Pro­jek­ten bei der Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tion Hel­ve­tas nie­man­den inter­es­siert hat, bis man damit rech­nen musste, dass unsere Kri­tik nega­tive Presse nach sich zie­hen könnte. Und damit die anson­sten gut geschmierte PR-Maschine der Ent­wick­lungs­or­ga­ni­sa­tion unter­lau­fen und zu Ein­bus­sen an Spen­den­gel­dern füh­ren könnte.

Bei Hel­ve­tas lei­stet man sich seit Jah­ren eine Edel­fe­der, die es aus­ge­zeich­net ver­steht, mit bewe­gen­den Geschich­ten aus Ent­wick­lungs­pro­jek­ten Spen­de­rin­nen und Spen­der zu rüh­ren und zu Gross­zü­gig­keit zu ani­mie­ren. Von unab­hän­gi­gen jour­na­li­sti­schen Recher­chen scheint man bei Hel­ve­tas jedoch nicht viel zu hal­ten. Wie sonst ist zu erklä­ren, dass man sich bei der Orga­ni­sa­tion gegen jeg­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit unse­rer Arbeit sperrt?

Chri­stoph Wehrli immer­hin ist ein Voll­blut­jour­na­list: Obschon er „embedded“ nach Sri Lanka gereist ist, kann man auch sei­nem Arti­kel ent­neh­men, dass in den ehe­ma­li­gen Umsied­lungs­pro­jek­ten nicht alles so läuft, wie dies Hel­ve­tas und Glücks­kette den Spen­de­rin­nen und Spen­dern gerne weis­ma­chen möch­ten. Wir hät­ten uns aller­dings dar­über gefreut, wenn Wehrli nicht nur aus unse­rem Dok­film zitiert hätte, den er anläss­lich der Kino­pre­miere am 14. Dezem­ber im Kino Riffraff gese­hen hat. Jour­na­li­stisch kor­rekt wäre gewe­sen, er hätte auch die Quelle genannt.

Mindestlohn

Die aktu­elle Lohn­sta­ti­stik zeigt: Gesamt­haft sind die Löhne in der Schweiz in den letz­ten Jah­ren mun­ter gestie­gen. Beson­ders stark im ober­sten Seg­ment, bei den Ein­kom­men von 12’000 Fran­ken im Monat und dar­über. Ganz anders sieht es am unte­ren Ende der Skala aus: Wer weni­ger als 4000 Fran­ken im Monat ver­diente, musste gar Real­lohn­ver­lu­ste hinnehmen.

Trotz­dem wer­den gut bezahlte Wirt­schafts­füh­rer, Hotel­ma­na­ge­rin­nen und Spit­zen­be­amte die­ser Tage nicht müde, die Min­dest­lohn­in­itia­tive zu ver­teu­feln. In immer wie­der neuen Varia­tio­nen rech­nen sie vor, wes­halb die ange­strebte gerech­tere Ver­tei­lung des üppi­gen Kuchens mehr Scha­den anrich­ten als hel­fen würde.

Eine beschä­mende Kam­pa­gne für eines der reich­sten Län­der der Welt. Dabei geht es in kei­ner Art und Weise um eine tief­grei­fende Umver­tei­lung. Die Initia­tive will ein­zig und allein die nied­rig­sten Löhne auf ein exi­stenz­si­chern­des Niveau von 4000 Fran­ken pro Monat anhe­ben. Dies ent­spricht einem mini­ma­len Stun­den­lohn von 22 Franken.

Betref­fen würde dies die Löhne von schät­zungs­weise 300’000 Men­schen, die heute für ihre Arbeit weni­ger als den ange­streb­ten Min­dest­lohn erhal­ten. Im Rah­men der aktu­el­len Debatte schil­der­ten Tief­lohn-Ver­die­ne­rIn­nen aus ver­schie­de­nen Bran­chen, wie schwie­rig es ist, mit dem klei­nen Gehalt in der teu­ren Schweiz über die Run­den zu kom­men. Dar­un­ter lang­jäh­rige Ver­käu­fe­rIn­nen aus der Mode­bran­che, Ange­stellte von Tank­stel­len­shops, Ern­te­ar­bei­te­rIn­nen auf Bau­ern­be­trie­ben – aber auch Flight-Atten­dants bei der Swiss oder Ser­vice- und Küchen­per­so­nal von Nobelherbergen.

In der NZZ rech­nen Hotel­ma­na­ge­rin Anna­tina Pinösch und Tou­ris­mus­pro­fes­sor Andreas Deu­ber vor, wes­halb die Schwei­zer Feri­en­ho­tel­le­rie auf Nied­rig­löhne ange­wie­sen sei: Als Bei­spiel füh­ren sie ein Hotel im «Vier­stern-Supe­rior-Bereich im Ober­enga­din» auf, wo fast die Hälfte des Per­so­nals weni­ger als 4000 Fran­ken ver­dient. Höhere Löhne, so die Autoren, hät­ten höhere Über­nach­tungs­ko­sten zur Folge. Und damit wäre der Schwei­zer Tou­ris­mus nicht mehr konkurrenzfähig.

Ein erstaun­li­ches Fazit, aus­ge­rech­net in einer Bran­che, die ein Luxus­seg­ment bedient: Wer für wohl­be­tuchte Gäste Dienst­lei­stun­gen erbringt, sollte davon auch leben kön­nen. Nicht nur der Hotel­be­sit­zer, seine Mana­ge­rin und der Chef­koch, son­dern alle Betei­lig­ten – das gesamte Personal.

Dies gilt nicht nur für die Luxus­ho­tel­le­rie: Wer arbei­tet, muss eine exi­stenz­si­chernde Ent­schä­di­gung erhal­ten. Das oft zitierte Argu­ment, wer von sei­nem Lohn nicht leben könne, sei sel­ber schuld, weil «unqua­li­fi­ziert», ist men­schen­ver­ach­tend und dis­kri­mi­nie­rend. Nicht allen Men­schen steht die Mög­lich­keit zur Aus- und Wei­ter­bil­dung offen; und auch ein Diplom ver­hilft nicht in jedem Fall zum not­wen­di­gen Mindesteinkommen.

Ganz abge­se­hen davon stelle man sich vor, es gäbe in unse­rem Land nur Ban­ker, Pro­fes­so­rin­nen, Mana­ger und Advo­ka­ten. Und viel­leicht noch ein paar Fuss­ball­spie­ler. – Wer lei­stete in einer sol­chen Gesell­schaft die wirk­lich unver­zicht­ba­ren Arbei­ten? Wer würde WCs und Stras­sen rei­ni­gen, den 24-Stun­den­be­trieb im Pfle­ge­heim garan­tie­ren oder den Anbau von Gemüse sicher stellen?

Wir brau­chen Men­schen, die diese Arbei­ten ver­rich­ten. Oft tun sie es mit min­de­stens soviel Enga­ge­ment und Kön­nen wie ihre Kol­le­gIn­nen in anstän­dig bezahl­ten Jobs. Dass sie davon auch leben kön­nen, sollte eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein. – Weil es dies nicht ist, brau­chen wir den gesetz­lich ver­an­ker­ten Min­dest­lohn. Leider.

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