Die aktuelle Lohnstatistik zeigt: Gesamthaft sind die Löhne in der Schweiz in den letzten Jahren munter gestiegen. Besonders stark im obersten Segment, bei den Einkommen von 12’000 Franken im Monat und darüber. Ganz anders sieht es am unteren Ende der Skala aus: Wer weniger als 4000 Franken im Monat verdiente, musste gar Reallohnverluste hinnehmen.
Trotzdem werden gut bezahlte Wirtschaftsführer, Hotelmanagerinnen und Spitzenbeamte dieser Tage nicht müde, die Mindestlohninitiative zu verteufeln. In immer wieder neuen Variationen rechnen sie vor, weshalb die angestrebte gerechtere Verteilung des üppigen Kuchens mehr Schaden anrichten als helfen würde.
Eine beschämende Kampagne für eines der reichsten Länder der Welt. Dabei geht es in keiner Art und Weise um eine tiefgreifende Umverteilung. Die Initiative will einzig und allein die niedrigsten Löhne auf ein existenzsicherndes Niveau von 4000 Franken pro Monat anheben. Dies entspricht einem minimalen Stundenlohn von 22 Franken.
Betreffen würde dies die Löhne von schätzungsweise 300’000 Menschen, die heute für ihre Arbeit weniger als den angestrebten Mindestlohn erhalten. Im Rahmen der aktuellen Debatte schilderten Tieflohn-VerdienerInnen aus verschiedenen Branchen, wie schwierig es ist, mit dem kleinen Gehalt in der teuren Schweiz über die Runden zu kommen. Darunter langjährige VerkäuferInnen aus der Modebranche, Angestellte von Tankstellenshops, ErntearbeiterInnen auf Bauernbetrieben – aber auch Flight-Attendants bei der Swiss oder Service- und Küchenpersonal von Nobelherbergen.
In der NZZ rechnen Hotelmanagerin Annatina Pinösch und Tourismusprofessor Andreas Deuber vor, weshalb die Schweizer Ferienhotellerie auf Niedriglöhne angewiesen sei: Als Beispiel führen sie ein Hotel im «Vierstern-Superior-Bereich im Oberengadin» auf, wo fast die Hälfte des Personals weniger als 4000 Franken verdient. Höhere Löhne, so die Autoren, hätten höhere Übernachtungskosten zur Folge. Und damit wäre der Schweizer Tourismus nicht mehr konkurrenzfähig.
Ein erstaunliches Fazit, ausgerechnet in einer Branche, die ein Luxussegment bedient: Wer für wohlbetuchte Gäste Dienstleistungen erbringt, sollte davon auch leben können. Nicht nur der Hotelbesitzer, seine Managerin und der Chefkoch, sondern alle Beteiligten – das gesamte Personal.
Dies gilt nicht nur für die Luxushotellerie: Wer arbeitet, muss eine existenzsichernde Entschädigung erhalten. Das oft zitierte Argument, wer von seinem Lohn nicht leben könne, sei selber schuld, weil «unqualifiziert», ist menschenverachtend und diskriminierend. Nicht allen Menschen steht die Möglichkeit zur Aus- und Weiterbildung offen; und auch ein Diplom verhilft nicht in jedem Fall zum notwendigen Mindesteinkommen.
Ganz abgesehen davon stelle man sich vor, es gäbe in unserem Land nur Banker, Professorinnen, Manager und Advokaten. Und vielleicht noch ein paar Fussballspieler. – Wer leistete in einer solchen Gesellschaft die wirklich unverzichtbaren Arbeiten? Wer würde WCs und Strassen reinigen, den 24-Stundenbetrieb im Pflegeheim garantieren oder den Anbau von Gemüse sicher stellen?
Wir brauchen Menschen, die diese Arbeiten verrichten. Oft tun sie es mit mindestens soviel Engagement und Können wie ihre KollegInnen in anständig bezahlten Jobs. Dass sie davon auch leben können, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. – Weil es dies nicht ist, brauchen wir den gesetzlich verankerten Mindestlohn. Leider.