China. Die Entwicklung des bevölkerungsreichsten Landes der Erde hin zu einer wirtschaftlichen und politischen Weltmacht ruft in unseren Breitengraden regelmässig Unbehagen hervor. So berechtigt die Kritik am autoritären Régime auch ist, täten wir doch besser daran, unsere eigene Rolle bezüglich der Menschenrechtsverletzungen, Billiglohnarbeit und Umweltzerstörung hier wie dort zu hinterfragen, statt unsere Verhältnisse und die Rolle des Westens selbstgerecht zu verklären. So titelte die NZZ zum Beispiel ihren Kommentar anlässlich des viel beachteten Staatsbesuchs des chinesischen Präsidenten Hu Jintao beim US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama mit «China und die freie Welt – Macht und Unbeholfenheit».
Statt auf den Fortschritt hinzuweisen, dass sich der chinesische Präsident tatsächlich den Fragen von Journalisten stellte, was bis vor kurzem undenkbar gewesen wäre, wird sein Auftritt als «unbeholfen» verhöhnt und die «Demonstration der Überlegenheit einer offenen Gesellschaft» besungen. Einer offenen Gesellschaft notabene, die seit Jahren auf Pump lebt und nicht nur im eigenen Land sehr wohl Unterdrückung und Unfreiheit praktiziert. Im Hauptartikel moniert der Autor Beat U. Wieser, China habe seine wirtschaftliche Stellung und Position als Financier «nicht aus eigener Kraft erlangt, sondern dank jahrzehntelangen ausländischen Investitionen und chronischen Handelsbilanzüberschüssen infolge niedrig gehaltener Löhne und eines gedrückten Aussenwertes der chinesischen Währung».
Als ob die Position der USA – oder irgend eines anderen reichen Staates dieser Welt – einzig und allein auf «Eigenleistungen» beruhen würde. Was immer man darunter verstehen mag. China ist genauso Teil dieser globalisierten Welt, wie der Westen. Kein Wort verliert der Autor z.B. darüber, dass die ausländischen Investitionen (namentlich aus dem «freien Westen») nicht zuletzt getätigt wurden, weil die Löhne niedrig und die Umweltbestimmungen lasch waren und man deshalb in China grössere Gewinne erzielen konnte, als im eigenen Land.
Noch abgehobener wird der Artikel bei der geopolitischen Gegenüberstellung von China und den USA. Während China unterstellt wird, es habe sich im vergangenen Jahr «aussenpolitisch aufgeplustert», weil es Ansprüche auf eine Herrschaftsposition in den Gewässern Ostasiens geltend macht, wird die von US-Amerika angestrebte Rolle als «zuverlässige Ordnungsmacht in der Region» mit der «Transparenz seines politischen Systems und dessen checks and balances» legitimiert. Und weiter: «Ähnliches gibt es in China nicht. So, wie mit Dissidenten und Andersdenkenden umgesprungen wird, kann, wenn es opportun ist, jederzeit auch mit gewöhnlichen Bürgern oder anderen Staaten umgegangen werden.»
Leider kommen mir, wenn ich solches lese, vor allem Beispiele aus den USA in den Sinn: Todesstrafe, Folterung von Häftlingen in Guantanamo, Einschleusung eines Computervirus in Iran, Bombardierung von Zivilisten in Afghanistan…