Bildung verbessert die Welt. Ein weitverbreitetes Credo. Die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung fordert denn auch für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen – insbesondere für die Ärmsten und am meisten Benachteiligten – Zugang zu einer hochwertigen Grund- und Berufsausbildung.
Das deklarierte Ziel: Bildung soll einen Beitrag zu einer «sicheren, nachhaltigen und interdependenten Welt leisten.» Schöne Worte – und die schulische Realität?
Im nahen Osten – genauer, «from the river to the sea» – ist Bedenkliches festzustellen. Im Zusammenhang mit der Forderung, dem Palästinenser-Hilfswerk UNRWA den Geldhahn abzudrehen, wird immer wieder der Vorwurf laut, dieses finanziere mit westlicher Unterstützung Schulmaterial, das die Vernichtung Israels propagiere.
Israel-nahe Organisationen werden, mit tatkräftiger Unterstützung des westlichen Medienchors nicht müde, palästinensische Schulen in den besetzten Gebieten der Hetze gegen Israel zu bezichtigen. Sie schafften es sogar, eine von der EU in Auftrag gegebene Studie des Leibnitz-Instituts für Bildungsmedien zu skandalisieren, weil die Analyse von palästinensischen Lehrmitteln ein differenziertes Bild ergab – von inakzeptablem Lehrmaterial bis zu Schulbüchern, die voll und ganz den UNESCO-Empfehlungen entsprechen.
Was hingegen an israelischen Schulen gelehrt wird, scheint im vereinigten, von Holocaust-Verantwortlichkeit gezeichneten Europa und den USA kein Thema zu sein. Die Rollen von Gut und Böse sind von vornherein vergeben. Dabei bringt ein Blick in israelisches Schulmaterial Vergleichbares zutage, wie auf der anderen (palästinensischen) Seite: Ansätze, die aus Menschenrechtsperspektive tadellos sind, aber auch die gesamte Palette von offensichtlicher Hetze bis zur subtilen Vermittlung diskriminierender Stereotypen und Vorurteile.
So suggerieren israelische Schulbücher jüdischen Kindern etwa, sie seien etwas Besseres als ihre palästinensischen Kamerad:innen. Und dass das Land «from the river to the sea» allein den Israeliten zustehe. – Palästinenser:innen werden als «schmutzige Massen aufgeputschter Menschen» bezeichnet und dargestellt. Sie seien «primitiv, unterwürfig, abartig, kriminell und böse» und «ein Problem, das gelöst werden muss».
Dies nur einige wenige Beispiele, die Nurit Peled-Elhanan in ihrem Buch «Palästina in israelischen Schulbüchern» aufführt. Die israelische Erziehungswissenschafterin, die in ihrem Land zur Persona non grata erklärt wurde, kritisierte in ihrer Publikation bereits vor zehn Jahren, dass junge Israelis durch die ideologische Indoktrinierung an den Schulen zu Feindseligkeit und Verachtung gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern erzogen würden.
Damit nicht genug: Jüdische Familien in Israel können wählen, ob sie ihre Kinder in eine staatliche Schule, eine religiöse oder eine orthodoxe schicken wollen. Für die palästinensischen Kinder gibt es eigene Schulen, deren Lehrmittel vom israelischen Staat zensuriert werden.
Die Tatsache, dass jüdische Kinder separate Schulen besuchen, hat zudem zur Folge, dass sie kaum Begegnungsmöglichkeiten mit der arabischen Welt haben, wo sie positive Erfahrungen des Zusammenlebens machen könnten. Sie haben keine palästinensischen Spielkamerad:innen, wie auch palästinensische Kinder unter sich bleiben. Also basiert das «Wissen» der Kinder «über die Anderen» ausschliesslich auf den Zerrbildern, die sie aus ihren Schulbüchern kennen. Das ist menschenfeindliche Propaganda-Pädagogik. Die an israelischen Schulen vermittelten Narrative sind sind somit keinen Deut besser als die Verfehlungen, die der Hamas vorgeworfen werden.
Wie wichtig Schulbücher zur Friedensstiftung «in den Köpfen der Männer und Frauen» sind, erkannten schon die Gründer:innen der UNESCO. Nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs erklärten sie die Entwicklung von Schulbüchern zum zentralen Schwerpunkt, «als pädagogisches Werkzeug zur Förderung des Friedens durch gegenseitiges Verständnis, insbesondere zwischen ehemaligen Gegnern».
Die damaligen Richtlinien gelten bis heute: Qualitativ hochwertige Schulbücher dürfen keine schädlichen Stereotypen und Vorurteile enthalten. Eine Anforderung, die israelische Schulbücher wie diejenigen der Hamas gleichermassen ungenügend erfüllen. Schlimmer noch: Das gesamte Schulsystem perpetuiert und vertieft die Gräben in der Gesellschaft und den Krieg.
Wenn Schule und Bildung zu einer besseren Welt und zum Frieden beitragen sollen, braucht es in Israel einen drastischen Systemwechsel hin zu einem integrativen Schulsystem.
Die Forderung der UNESCO lautet diesbezüglich: Alle Kinder sollten soweit möglich zusammen lernen, ungeachtet der Unterschiede in Bezug auf ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Kultur, wirtschaftliche Situation, schulische Leistungen oder Gesundheitszustand. Für Israel heisst dies zwingend: Keine separierten Schulen mehr, die Begegnungen und das Zusammenleben von jüdischen und arabischen Kindern auf allen Ebenen fördern!
Das ist keine Utopie. Initiativen und Beispiele, dass gegenseitiges Verständnis und Zusammenleben geht, gibt es auch in Israel. So haben etwa der palästinensische Erziehungswissenschaftler Sami Adwan und der israelische Psychoanalytiker Dan Bar-On bereits vor 20 Jahren gemeinsam ein Schulbuch entwickelt, das die beiden Sichtweisen auf die Geschichte und die gesellschaftlichen Prozesse im Nahen Osten zu vermitteln versucht. Leider wird es von beiden Seiten bis heute kaum eingesetzt.
Ob zionistische Extremisten in Israel oder palästinensischer Extremismus in Gaza – sie gleichen sich aufs Haar und wollen nur eins: Ihre Weltsicht durchsetzen. Solange das so bleibt, gibt es keine Chance auf eine Besserung der Situation, geschweige denn auf Frieden.
Nurit Peled-Enhanan präsentiert ihre Recherchen und spricht zur aktuellen Situation – eindrückliches Webinar (auf englisch) vom 8. Januar 2024