Glück, Erfolg, Erfüllung, Gesundheit… oder kurz und bündig: HAPPY NEW YEAR.
Festtags- und Neujahrsgrüsse ohne Ende – manche originell und persönlich, andere vorgedruckt, standardmässig, copy paste. Ab Mitte Dezember flattern sie in die Briefkästen, immer öfter in die elektronischen. In Form von Bildern, Karten, Filmchen – push the button, und sie prasseln herein – die letzten im Lauf der ersten Januarwoche…
Vor der alljährlichen Glückwunschorgie gibt es kein Entrinnen. Wider besseres Wissen kolportieren wir damit die Hoffnung auf bessere Zeiten und huldigen dem naiven Glauben, dass ein Jahreswechsel am Weltgeschehen oder unserem Verhalten irgendetwas ändern würde…
Obschon dies dringend nötig wäre. Die Tatsachen sprechen für sich. Beispiele dafür, dass es an der Zeit ist, endlich zu handeln, statt sich mit schönen Worten und Wünschen zu begnügen, gibt es genug.
2024 war das heissteste Jahr seit Klimadaten gemessen werden. Es ist davon auszugehen, dass dieser Rekord schon bald erneut gebrochen wird. Die katastrophalen Folgen der Klimaerhitzung werden weiter zunehmen, Unwetter, Dürren, Murgänge und Überschwemmungen bedrohen das Leben von Menschen immer häufiger, weltweit. Nur uns trifft es nicht, meinen wir.
Das Gleiche gilt auch in Bezug auf die Kriege im Sudan, in der Ukraine, in Gaza… und die weltweite Aufrüstung, den Siegeszug von Rechtsextremen, den Ressourcenverschleiss und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen…
Wenn wir es wirklich ernst meinten mit dem Happy New Year und wir verhindern wollten, dass 2025 noch schlimmer wird als 2024 war, müssten (oder müssen?) wir anpacken und handeln. Daran führt kein Weg vorbei. Weder kreative noch KI-Bildchen, und auch keine scharfsinnigen Sprüche und wohlgemeinte Zeilen können darüber hinwegtäuschen.
Und doch lasse auch ich mich allzu gerne durch die alljährlich wiederkehrenden Grüsse und Wünsche verführen. Jede Karte in meinem Briefkasten, die nun für ein paar Wochen mein Sideboard ziert, jeder Mail- und Whatsapp-Gruss von Kolleg:innen, Freund:innen und Verwandten ist ein Zeichen. Ein Zeichen der Verbundenheit, eine Erinnerung daran, dass ich nicht allein bin, mit meinen Hoffnungen und Ängsten.
Das tut irgendwie gut. Auch wenn ich mit den meisten Menschen, die mich mit ihren Wünschen beglücken, und die ich meinerseits bewünsche, im Alltag kaum je zu tun habe. Umso willkommener das Aufpoppen am Jahresende.
Ich suhle in Erinnerungen, gebe mich der Melancholie hin und trauere den Zeiten nach, als ich noch an Fortschritt, Gerechtigkeit und Frieden glaubte. Derweil neigt sich das Jahr dem Ende entgegen. Es ist Silvester, die Uhr zeigt schon fast Mitternacht. Ich öffne das Fenster – auch dies eine alte, liebe Gewohnheit – um dem Glockengeläut zu lauschen, mit dem das vergangene Jahr aus- und das neue eingeläutet wird.
Draussen dicker Nebel – und ohrenbetäubender Lärm. Feuerwerk statt Besinnlichkeit. Das neue Jahr beginnt, wie das alte aufgehört hat. Nach dem Motto: Wir amüsieren uns weiter zu Tode – auch wenn die Welt den Bach runter geht…
Ich greife zum Sektglas, wir stossen an. Und langsam kehrt die Kampfeslust zurück, die Sentimentalität weicht dem Trotz. Solange Verzicht und Vernunft Tabuthemen sind, in unserer Gesellschaft, solange in der Welt herumgejettet wird, was das Zeug hält (notabene nur von den reichsten fünf Prozent der Erdbevölkerung), solange Eigennutz und Bequemlichkeit Vorrang haben vor Solidarität und Achtsamkeit, will ich weiterhin schreiben und kämpfen. Schweigen und Aufgeben ist keine Option.
«Du hast keine Chance – aber nutze sie» – das geflügelte Wort von Herbert Achterbusch aus den 1970er Jahren gilt heute wie damals. Dranbleiben, nicht aufgeben heisst die Devise.
Seit ein paar Tagen hängt über meinem Schreibtisch ein neu erstandenes Bild. «Sammelstelle für Resthoffnung» ist darauf zu lesen. Ein wunderschönes (Sprach)-Bild, kreiert von der Aargauer Künstlerin Eva Keller. Es ist gleichzeitig Inspiration und Verpflichtung – für ein weiteres Jahr des Widerstands.