Der erste ICE von Zürich Richtung Berlin fährt morgens um 05.59. Bis Basel geniesse ich einen ganzen Bahnwagen für mich allein. Es ist ruhig, und vor mir wunderbar viel Zeit, um zu lesen und zu schreiben. Allzu viel ist in den letzten Tagen liegen geblieben.
Ab Basel erwacht der Tag. Bereits in Freiburg füllt sich der Zug. Ein junger Mann – schätzungsweise Mitte Zwanzig – schnappt sich den letzten freien Platz in unserem Abteil, packt sogleich seinen Laptop aus und platziert ihn neben meinem Powerbook auf dem Tisch.
Die Konzentration wird schwieriger. Kaum hat mein Sitznachbar sein Gerät aufgestartet, wandert mein Blick auf den fremden Bildschirm. Verschämt zuerst, dann immer öfter – spannend, was es da zu entdecken gibt…
Gerade ploppt ein wissenschaftlicher Artikel auf. Aufgrund von Titel und den farbigen Karten, die ich auf Distanz diskret entziffern kann, tippe ich auf einen Aufsatz zum Klimawandel.
Neugierig versuche ich, weitere Infos zu erhaschen, um mehr über meinen Mitreisenden und dessen Beschäftigung zu erfahren. Während ich auf seinem Bildschirm fremdgehe, bleibt der Artikel, auf meinem Desktop vermeintlich unbeachtet.
«Was arbeiten Sie?» – seine Frage schreckt mich unvermittelt aus meinem Spionagefeldzug auf. Ganz offensichtlich ist er mutiger als ich und outet sich auch als Fremdleser: Er habe bemerkt, dass wir uns offenbar mit ähnlichen Themen beschäftigten…
Wir kommen ins Gespräch. Er studiert Geographie an der Uni Freiburg – als Zweitstudium, nachdem er zuerst Französisch und Sport belegt hatte, um Lehrer zu werden. Diese Fächer würden ihm immer noch grossen Spass machen und auch die Perspektive mit Jugendlichen zu arbeiten.
Nach einem Erasmus-Jahr in Frankreich habe er sich trotzdem entschieden, statt gleich in den Schuldienst zu wechseln, noch ein Geographiestudium anzuhängen. Weil dies die Chance biete, sich mit einer Reihe von Themen vertieft zu befassen, die ihn umtreiben und beschäftigen.
Eine Wahl, die auch ich treffen würde, könnte ich mich heute noch einmal für ein Studium entscheiden. An der Universität Freiburg gibt es verschiedene Lehrstühle, wo sich Forschende mit den brennenden Fragen unserer Zeit auseinandersetzen, wie etwa die Institute «Geographie des Globalen Wandels», «Klimageographie» oder «Wirtschaftsgeographie und Nachhaltige Entwicklung»…
Schon sind wir mitten in einer angeregten Diskussion, die sich ums Klima, die Gesellschaft und unseren Umgang damit dreht. «Wissenschaft hat eine wichtige Funktion – sie muss ohne Alltagsdruck, jenseits von Politik und Wirtschaft Fakten liefern», sagt er. Um gleich anzufügen, dass die aus seiner Sicht notwendige scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und umweltpolitischem Handeln für ihn schwierig, ja zuweilen unmöglich sei.
Wir sprechen von Wissenschaftler:innen, die sich aus Verzweiflung über das Nicht-Handeln der Politik den Klimaaktivist:innen angeschlossen haben – wie etwa die Lausanner Ökonomie-Professorin Julia Steingruber oder der Bonner Geologie-Professor Nikolaus Froitzheim.
Deren mutiges Engagement steht in diametralem Gegensatz zum Selbstverständnis jener Forscher:innen, die sich darauf beschränken, im akademischen Wettkampf mit wissenschaftlichen Publikationen zu punkten. Wer die Spitze des Elfenbeinturms erklimmen will, verzichtet wohlweislich darauf, seine Erkenntnisse auf die Strasse zu tragen.
Wer etwas bewegen will, brauche viel Energie, Ausdauer und Frustrationstoleranz, weiss mein Sitznachbar aus eigener Erfahrung. Trotzdem sei Widerstand wichtig und beschwingend, weil er auch Hoffnung gebe, darin sind wir uns einig. Ich erzähle vom erfolgreichen Kampf gegen die Westastaustobahn ihn Biel, er outet sich als Mitglied der «Letzten Generation».
Während draussen die Landschaft vorbeisaust, debattieren wir über die Notwendigkeit des Handelns – und die Frage nach dem WIE.
Die Strassenblockaden hätten sich zu Tode gelaufen, man könne nicht immer das Gleiche wiederholen – die «Letzte Generation» habe deshalb Anfang Jahr ihre Strategie geändert und sich unter anderem an den EU-Wahlen beteiligt, erzählt der Aktivist. Was bei einer Freundin, die als Spitzenkandidatin angetreten sei, fast zu einem Burn-out geführt habe.
«Man darf sich nicht auffressen lassen», sagt er und wir sprechen davon, wie man es schafft, nicht auszubrennen, nicht zu verbittern. Zusammen mit zwei Freundinnen aus der Bewegung, sie sitzen im Abteil hinter uns, ist er unterwegs an ein Geburtstagsfest in Berlin, wo sie gemeinsam feiern und eine unbeschwerte Zeit verbringen wollen. Das sei wichtig, um Kraft zu schöpfen, betont er. Aber auch auf dieser Party werde es Polit- und Strategiediskussionen geben – anders gehe es nicht, in seinem Freund:innenkreis gehöre das einfach dazu, lacht er.
Gerne hätte ich noch mehr von ihm erfahren. In Darmstadt muss er aber den ab dort reservierten Sitz neben mir freigeben – wir verabschieden uns und wünschen uns gegenseitig eine gute Zeit in Berlin.
Vier Tage nach unserer Begegnung im ICE sorgen Blockaden an verschiedenen Flughäfen für Schlagzeilen und viel Aufregung unter Ferienfliegenden… Die Drahtzieher:innen dahinter in Deutschland: Die Letzte Generation.
Ich stelle mir eine rauschende Geburtstagsparty in Berlin vor, als Kulisse für das Finetuning der Aktionen in Frankfurt und Basel…