Vorweihnachtslust

Samstagvormittag, halb zehn. Auf dem Bahnsteig in Schaffhausen eisi­ger Wind. Endlich fährt der rote Regionalzug der Deutschen Bahn ein. Er ist knall­voll. Wir ste­hen zwi­schen Abteiltür und Toilette, auf den zwei Sitzen im Gang hockt ein jun­ger Glatzkopf, dane­ben eine bereits sehr ange­hei­ter­te Dame mit einem vol­len Plastiksektglas in der Hand. Die Schaumweinflasche reicht sie zwi­schen den dicht an dicht ste­hen­den PassagierInnen hin­durch zu einer Kollegin.

In Singen füllt sich der bereits über­füll­te Zug wei­ter. Zwei Freundinnen mit Kindern drän­gen sich durch den Mittelgang, sagt die eine: «Deshalb fah­re ich das nächs­te Mal wie­der mit dem Auto» wäh­rend ihre Freundin schimpft: «Die wis­sen doch, dass heu­te Weihnachtsmarkt ist, da müss­ten sie doch län­ge­re Züge bereitstellen.»

Die ange­hei­ter­ten Damen mit der Sektflasche stei­gen in Radolfzell aus. Sie sind nicht die ein­zi­gen. Das Städtchen Radolfzell am Bodensee wirbt mit «einem der schöns­ten Christkindlemärkte der Region.» Doch wer gedacht hät­te, dass es nun rich­tig Platz geben wür­de im Zug, hat sich getäuscht. Unter dem Strich stei­gen in Radolfzell mehr Leute ein als aus…

Unter ihnen eine alte Frau, der ich den soeben von der beschwips­ten Dame geerb­ten Sitzplatz im Gang gleich wie­der über­las­se. Die Glatze auf dem Nebensitz trak­tiert unge­rührt ihr Smartphone wei­ter. Die Jungen heu­te, sagt die alte Frau begeis­tert, sei­en so hilfs­be­reit und dan­ke für den Platz! Sie fährt nur eine Station weit, bis Überlingen. Will sich den dor­ti­gen Weihnachtsmarkt anschau­en, der soll beson­ders schön sein… Sind wir eigent­lich die Einzigen, die nicht «zum Weihnachtsmarkt» wollen?

Allerdings scheint der «gemüt­li­che Weihnachtsmarkt» von Überlingen die Einheimischen wenig zu rei­zen: Gleich mas­sen­wei­se stei­gen sie hier zu, inklu­si­ve Kinderwagen und Reiseproviant. Nun muss man sogar um sei­nen Stehplatz kämp­fen. Zu guter Letzt drängt sich noch eine Ausflugsgruppen von erwach­se­nen Behinderten samt BetreuerInnen in den Zug. «Wollen die alle nach Ulm?» ärgert sich ein ath­le­tisch gebau­ter jun­ger Mann, wäh­rend sei­ne BegleiterInnen rät­seln, ob man sich nicht mit dem Weihnachtsmarkt in Ravensburg begnü­gen soll­te. Statt ein­ein­halb Stunden dau­er­te die Fahrt dort­hin nur gut dreis­sig Minuten.

«Geht nicht, die Kollegen aus Ingolstadt sind bereits unter­wegs nach Ulm», wirft einer ein. Die Mutter schält das Kind aus dem Wagen und ergat­tert für sich und den stäm­mi­gen Athleten einen Sitzplatz. Der lee­re Kinderwagen bleibt vor der Toilette ste­hen. Er dient nun als Tisch für das ers­te Gelage des Tages: Mitgebrachte Bretzeln wer­den her­um­ge­reicht, dazu Rotkäppchen Sekt aus Plastikbechern.

In Ravensburg dann der ers­te gros­se Exodus. Aufatmen im Zug. Doch auch hier stei­gen wie­der zahl­rei­che MarktgängerInnen ein, die sich nicht mit dem loka­len Christkindlemarkt begnü­gen und für den ulti­ma­ti­ven Weihnachtsmarkt-Kick nach Ulm fah­ren wollen.

Während die Massen am Bahnhof Ulm Richtung Altstadt aus­schwär­men, stei­gen wir noch ein­mal um, Richtung Augsburg. Und wel­che Überraschung! Auch dort ist der Rathausplatz von Marktständen über­stellt, in der Luft ein Gemisch aus Glühwein‑, Bratwurst und Sauerkrautgerüchen. Auch hier drän­gen sich Massen auf engs­tem Raum. Sie kom­men nicht nur aus den Nachbarstädten, auch aus Italien und Österreich sind sie ange­reist, mit dem Reisebus auf Weihnachtsmarktrundreise durch Deutschland: Gestern Stuttgart, heu­te Augsburg, mor­gen Nürnberg… Was für eine Lust, Stadt für Stadt die immer und über­all sich glei­chen­den Stände abzuschreiten!

Wir leben in merk­wür­di­gen Zeiten: Einst reis­ten die HändlerInnen von Marktplatz zu Marktplatz. Der Jahrmarkt war ein regio­na­les Grossereignis und wich­tig für die Versorgung der ansäs­si­gen Bevölkerung. Die Errungenschaften von Mobilität und Überfluss haben das Ganze völ­lig per­ver­tiert: Weihnachtsmärkte glei­chen sich wie ein Ei dem andern. Trotzdem rei­sen Menschen stun­den­lang, weil der Glühwein in der Ferne offen­bar bes­ser schmeckt, als jener auf dem eige­nen Weihnachtsmarkt…

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