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Tisch an Tisch mit jüdischen Le Pen-Anhängern

Der 7. Okto­ber – ein histo­risch auf­ge­la­de­nes Datum. Im Vor­feld rauschte ein Medi­en­hur­ri­kan über unsere Köpfe hin­weg und jagte uns Wel­len an Pro­pa­ganda, Spe­ku­la­tio­nen und soge­nann­ten Ana­ly­sen ins Haus, was an die­sem Tag gesche­hen könnte.

Es ist der erste Jah­res­tag des Hamas-Über­falls in Israel – dem Aus­lö­ser für den neuen alten Krieg im Nahen Osten und den Ver­nich­tungs­feld­zug, den die israe­li­sche Regie­rung seit­her gezielt und immer dra­sti­scher führt.

Wir sind am 7. Okto­ber 2024 in den Ferien und somit auf News-Kon­sum-Diät, ver­gli­chen mit dem All­tag. Doch auch so holt uns die Nah­ost­rea­li­tät und ihre Aus­wir­kun­gen in Europa ein.

Auf unse­rem Rei­se­plan steht nach zwei Tagen Stadt- und Muse­ums­be­sich­ti­gung in Per­pignan ein Aus­flug in die Natur. Unser Bus fährt um 10.05 von der Gare Rou­tière. Viel ist hier nicht los, an die­sem Mon­tag­mor­gen. Auf­fal­lend ein­zig, dass sich auf dem für Busse reser­vier­ten Umschlag­platz gleich zwei Poli­zei­strei­fen in Voll­mon­tur breit machen.

Beim Ein­tref­fen eines Fern­bus­ses aus Spa­nien brin­gen sie sich in Stel­lung. Offen­sicht­lich sind die Flics auf Migran­ten und/​oder Ter­ror­ver­däch­tige aus – dies­mal aller­dings ver­ge­bens: Der ankom­mende Bus ist prak­tisch leer, bloss eine ein­zige (unver­däch­tige) Pas­sa­gie­rin steigt aus. Der Poli­zei­ein­satz ent­fällt, die Beamt:innen zie­hen sich gelang­weilt in ihre Fahr­zeuge zurück.

Am spä­te­ren Nach­mit­tag, zurück von unse­rem Aus­flug, tref­fen wir dann auf eine wei­tere Poli­zei­ak­tion. Dies­mal in der Innen­stadt, wo auf dem Platz vor dem «Castil­let» eine Kund­ge­bung im Gang ist, die von einem beacht­li­chen Auf­ge­bot von Sicher­heits­kräf­ten – wie­derum in Voll­mon­tur – beglei­tet wird:

Vor dem ein­sti­gen Stadt­tor hat sich eine kleine Gruppe von Men­schen ein­ge­fun­den. Wir sehen weder Palä­stina- noch Israel-Flag­gen, statt­des­sen wird die Tri­co­lore geschwenkt. Trotz­dem ver­mu­ten wir, dass es sich um Israel-treue Demonstrant:innen han­delt, die sich hier zu einer Gedenk­feier zusam­men­ge­fun­den haben. Nur so ist das grosse Poli­zei­auf­ge­bot zu erklären.

Wir beob­ach­ten das Ganze aus Distanz – unser Ziel ist ein ande­res: Im Kino «Castil­let» gleich um die Ecke läuft um 18.30 Uhr die Vor­pre­mière des Films «No other Land», mit anschlies­sen­der Begeg­nung mit dem Regis­seur, wie es im Pro­gramm­heft heisst.

Zur Erin­ne­rung: Der 95minütige Dok­film wurde von einem palä­sti­nen­sisch-israe­li­schen Kol­lek­tiv gedreht und han­delt von der Ver­trei­bung von Palästinenser:innen aus ihren Dör­fern im süd­li­chen Westjordanland.

«No other Land» erhielt an der Ber­li­nale 2024 den Doku­men­tar­film­preis und den Pan­orama-Publi­kums­preis, was hef­tige Kon­tro­ver­sen aus­lö­ste. Absur­der­weise wurde der israe­li­sche Co-Autor und Jour­na­list Yuval Abra­ham von Medien und Politiker:innen ins Kreuz­feuer genom­men und, wie seine palä­sti­nen­si­schen Kolleg:innen, des Anti­se­mi­tis­mus bezichtigt..

Nach­dem wir die nost­al­gi­sche Jugend­stil­fas­sade des berühm­ten Kinos bewun­dert haben, betre­ten wir erwar­tungs­voll das Entrée, wo uns eine freund­li­che Frau ent­ge­gen­lacht. Für wel­che Vor­stel­lung aus ihrem rei­chen Ange­bot sie uns denn ein Ticket ver­kau­fen dürfe, fragt sie.

Und schon weicht das Lachen einem ent­schul­di­gen­den Lächeln. Diese Vor­stel­lung sei abge­sagt – aus Sicher­heits­grün­den, teilt sie uns mit. Man habe beschie­den, dass es zu ris­kant sei, die­sen Film am heu­ti­gen Tag im Kino zu zei­gen, man habe Aus­schrei­tun­gen befürchtet…

Wer genau für die Absage ver­ant­wort­lich ist, kann oder will sie uns nicht sagen. Ange­sichts der Tat­sa­che, dass auch in Frank­reich die Anti­se­mi­tis­mus­keule schnell zur Hand ist und das Ras­sem­blem­ent Natio­nal in Per­pignan regiert, ist anzu­neh­men, dass das Rat­haus unter Bür­ger­mei­ster Aliot (einem Ex-Com­pa­gnon von Marine Le Pen) für die Abset­zung und die Aus­la­dung der Regis­seure ver­ant­wort­lich ist.

Dabei wäre genau die­ser Film mit sei­ner The­ma­tik ein wich­ti­ger Bei­trag zum 7. Okto­ber gewe­sen. Ich denke, dass dies das Kino «Castil­let» auch so gese­hen hat und die Ver­an­stal­tung nicht zufäl­lig auf die­sen Mon­tag legte. Ver­geb­lich, die Kul­tur ist vor der Poli­tik ein­knickt. Ein­mal mehr…

Drei Stun­den spä­ter ver­su­chen wir, unse­ren Ärger mit einem Znacht in der Bras­se­rie L’Arago zu ver­ges­sen, nur wenige Schritte vom Castil­let ent­fernt. Ein stim­mi­ger Ort, zuvor­kom­mende Bedie­nung, fran­zö­si­sche und ita­lie­ni­sche Köstlichkeiten…

Gestört wird die Stim­mung ein­zig durch eine Gruppe Män­ner am Neben­tisch, die durch ihr lau­tes Geba­ren auf­fal­len. Sie sind unter­schied­li­chen Alters – einer ganz klar der Chef. Er ist zwar der Klein­ste, aber auch der Lau­te­ste. Lau­fend teilt er nicht nur ver­bal in die Runde aus, son­dern ver­passt sei­nen Kum­pels der Reihe nach auch immer wie­der mal einen Klapps.

Was ist das nur für ein schrä­ges Sex­tett? Unsere Mut­mas­sun­gen schwan­ken zwi­schen Tür­ste­hern (aller­dings hat nur einer von ihnen die ent­spre­chende Sta­tur), einem Kon­sor­tium von Klein­kri­mi­nel­len oder Winkeladvokaten…

Nach­dem sie ihre Piz­zas ver­schlun­gen haben, zuckt einer sein Handy und reicht es herum. Jetzt wird es rich­tig laut und immer beschwing­ter. Mit gros­ser Lust und viel Élan begut­ach­ten und kom­men­tie­ren sie ein Foto nach dem andern, wäh­rend der Kell­ner das Des­sert serviert.

Ich kann es nicht las­sen und schiele auf die Bil­der. Und siehe da: Zu erken­nen sind die Män­ner vom Nach­bar­tisch zu zweit, zu dritt, in einer Gruppe – mit orden­ge­schmück­ter Brust posie­ren sie vor einer Tri­co­lore mit David­stern – im Hin­ter­grund das Castillet…

© L’In­dé­pen­dent 2024

Ganz offen­sicht­lich haben sie an der Ver­an­stal­tung teil­ge­nom­men, die wir heute Nach­mit­tag aus der Ferne beob­ach­tet haben. Als Gruppe, aber was für eine? Wir wol­len es wis­sen – und fra­gen. Bereit­wil­lig geben sie Aus­kunft und erzäh­len uns von ihrer Mission.

Wir hat­ten rich­tig ver­mu­tet: Die Fotos stam­men von der Gedenk­kund­ge­bung für die israe­li­schen Opfer vom 7. Okto­ber 2023.

«Wir sind ein Ver­ein zur Erin­ne­rung an die Schrecken des Holo­caust», klärt uns der Chef auf. Und fügt fast ent­schul­di­gend an: Sie seien gerade etwas aus­ge­las­sen, nach der ern­sten Ver­an­stal­tung vom Nach­mit­tag sei jetzt eben die Zeit zum Feiern…

Auf Geheiss des Klei­nen reicht uns einer sei­ner Freunde eine Visi­ten­karte: «Zak­hor pour La Mémoire» heisst der Ver­ein, und Phil­ippe Ben­gu­i­gui, mit nord­afri­ka­nisch jüdi­schen Wur­zeln, ist des­sen Grün­der und Chef. Leut­se­lig schil­dert er uns die Akti­vi­tä­ten und Enga­ge­ments sei­nes Ver­eins: Zak­hor betreibt ein Museum in Per­pignan, besucht Schu­len, um den Anti­se­mi­tis­mus zu bekämp­fen und sei über­haupt gesell­schaft­lich sehr aktiv. Im letz­ten Monat hät­ten sie im Rah­men des Eras­mus-Pro­gramms sogar einen deut­schen Stu­den­ten betreut, erklärt er stolz und reicht auch dazu einen Handy-Fotobeweis.

Dann end­lich bre­chen sie auf, der Tag sei lang gewe­sen. Zum Abschied das grosse Hän­de­schüt­teln – jeder will sich per­sön­lich von uns verabschieden.

Mir wird zuneh­mend unwohl dabei. Anti­se­mi­tis­mus bekämp­fen, klar. Will ich aber wirk­lich die Kom­pli­zin, Ver­bün­dete die­ser Her­ren sein? Mein Bauch sagt mir klar und deut­lich: NEIN

Schliess­lich schlüpft Ben­gu­i­gui in sei­nen Kit­tel und dreht sich vor dem Aus­gang noch ein­mal zu uns, auf dass wir seine reich behängte Brust bewun­dern: Orden und Medail­len in allen For­men und Far­ben leuch­ten uns ent­ge­gen und ver­stär­ken das mul­mige Gefühl…

Zurück im Hotel dann die Recher­ché. Jetzt ist klar: Ben­gu­i­gui und seine Mit­strei­ter kämp­fen nicht nur gegen Anti­se­mi­tis­mus, son­dern vor allem auch für die Rechts­na­tio­na­len. Im Früh­jahr noch stand zur Debatte, ob Ben­gu­i­gui bei den Euro­pa­rats­wah­len für das RS antre­ten solle.

Auch wenn man schliess­lich auf ihn ver­zich­tet hat, ist die Ver­ban­de­lung von Zak­hor mit den Rechts­po­pu­li­sten augen­fäl­lig: Auf der Web­site von Zak­hor wird der RN-Bür­ger­mei­ster Louis Aliot pro­mi­nent gefei­ert, weil er dem palä­sti­nen­si­schen Foto­gra­fen Loay Ayyoub einen Preis aberkannt hat. Und auf sei­nem Insta-Pro­fil bezeich­net Ben­gu­i­gui das RN-Aus­hän­ge­schild Aliot expli­zit als «mon ami».

Ganz nach dem Motto: Der Feind mei­nes Fein­des ist mein Freund. Gemeint ist in die­sem Fall Juden und Fran­zo­sen gegen alles Arabische.

Ben­gu­i­gui und sein Ver­ein sind nicht die ein­zi­gen jüdi­schen Inter­es­sen­ver­tre­ter in Frank­reich, die sich mit dem Ras­sem­blem­ent Natio­nal ver­bün­det haben. Pro­mi­nen­te­stes Bei­spiel die­ser lau­fen­den Ent­wick­lung ist das ehe­ma­lige Nazi-Jäger-Ehe­paar Klars­feld, das sich im Vor­feld der letz­ten Wah­len klar und deut­lich auf die Seite des RN geschla­gen und gegen die demo­kra­ti­schen und libe­ra­len Kräfte Stel­lung genom­men hat.

«Liberté, Ega­lité, Fra­ter­nité» lau­tete einst die Losung aus der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion. Im 20. Jahr­hun­dert wurde sie von den Fran­zö­sin­nen und Fran­zo­sen erwei­tert, mit den Begrif­fen «Laï­cité» und «Soli­da­rité».

Man kann sich vor­stel­len, was von die­sen gesell­schaft­lich zen­tra­len, staats­tra­gen­den Grund­sät­zen übrig blei­ben wird, wenn nach Prä­si­dent Macron tat­säch­lich Marine Le Pen und ihre Ver­bün­de­ten das Zep­ter ergreifen…

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