Jedesmal, wenn wieder ein Gebäude dem Abbruchhammer zum Opfer fällt, durchfährt mich ein physischer Schmerz. Auch wenn ausgesteckte Profile schon lange im Voraus das drohende Unheil angekündigt haben, wenn es dann soweit ist, kommt der Schock.
Auch ein Haus, das während Jahren nie Beachtung fand, ja manchen gar als hässlich galt – sobald die Bagger auffahren, weckt es Emotionen. Wenn Decken und Wände, die soeben noch Schutz geboten haben, mit roher Gewalt traktiert werden, lässt das kaum jemanden kalt. Ob die Bauarbeiter diesen Job wohl gerne machen?
Hässlich ist es, mit anzusehen, wie aus einem soliden Haus zuerst eine Ruine, und schliesslich ein Schutthaufen wird. Trotzdem will der Blick nicht weichen. Fasziniert folgt er dem Wasserstrahl, der die gespenstige Szenerie in farbiges Regenbogenlicht taucht, während sich die Baggerschaufel Stück um Stück durch den Beton frisst.
Im Sommer bereits musste das Bürogebäude aus den 1950er Jahren weichen, im Herbst folgte das Nachbarhaus. Ein stattliches Schulhaus, das mit seinen Backsteinmauern der Nordseite des Bahnhofsquartiers ein Gesicht gab.
Noch als die Ziegel vom Dach abgetragen wurden, konnte man sich diesen Ort nicht ohne das charakteristische Gebäude vorstellen. In den folgenden Tagen dann Erinnerungen an Kriegsbilder – die Ruine veränderte sich fast stündlich. Nach gut zwei Wochen war der altehrwürdige Bau verschwunden. Weg – als wäre er nie da gewesen. Und irgendwie fehlte auch nichts.
Im Gegenteil: Dort, wo einst Mauern die Sicht versperrten, eröffnen sich plötzlich neue Perspektiven. Schon fällt es schwer, im Kopf den alten Zustand zu rekonstruieren. Die lichte Grosszügigkeit im dichten Bahnhofsquartier gefällt, wirkt irgendwie befreiend.
So wie damals, als hinter unserem Haus meine geliebte Tanne gefällt wurde: Über den schmerzvollen Verlust hinweg tröstete für kurze Zeit der morgendliche Kuss der Sonne, die nun den direkten Weg in unser Schlafzimmer fand. Und der freie Blick auf eine Puppenhauskulisse, wo wir aus diskreter Distanz am Leben unserer Nachbarn teilhaben durften.
Leider war diese neue Weitsicht, die Herz und Fantasie beschwingte, nicht von Dauer. Schon bald wuchs auf dem Nachbargrundstück, wo einst im Schatten unseres Baumes ein Chalet gestanden hatte, ein neues Haus in die Höhe. So mächtig, so nah und so gross, wie es die Bauvorschriften nun mal erlaubten.
Noch schweift das staunende Auge über den frisch befreiten Platz hinter dem Bahnhof. Lange dürfte dieser anregende Zustand allerdings nicht anhalten: Zu kostbar und begehrt ist der Boden in dieser reichen Stadt, um ihn einzig und allein für Raumgefühle und Gedankenflüge freizuhalten.
Irgendwann, spätestens wenn der Winter vorbei ist, werden die Bagger wieder auffahren. Diesmal, um neue Wände hochzuziehen, die den aktuellen Weitblick zunichte machen. Wie selbstverständlich wird dann wiederum ein Gebäude, diesmal eines aus Beton und Glas, den Platz einnehmen, der ihm zugewiesen worden ist. Und fortan dem Bahnhofquartier sein Gesicht aufdrücken, als wäre es schon immer da gewesen.