Der Anfang vom Ende

In der Nacht vom 12. auf den 13. Juli fegte ein hef­ti­ger Sturm über die Stadt Zürich, dem Hun­derte von Bäu­men zum Opfer fie­len. Ein trau­ri­ges Bild der Zer­stö­rung – etwa am Wald­rand des Käfer­bergs, wo rei­hen­weise statt­li­che Bäume der Wucht des Win­des nicht stand­hal­ten konn­ten und ein­fach umge­ris­sen wur­den. Wur­zel­stöcke rag­ten in die Luft, mäch­tige Baum­stämme und dicke Äste lagen quer über die Stras­sen – auch im Wald war kein Durch­kom­men mehr.

Die Gärt­ne­rin­nen und Gärt­ner von Grün­Stadt Zürich hat­ten in die­sen Tagen alle Hände voll zu tun, um ent­wur­zelte Bäume zu ber­gen, geknickte Baum­stämme und abge­ris­sene Äste zu zer­sä­gen, Wege zu sichern und den Scha­den an Men­schen, Gebäu­den und Fahr­zeu­gen mög­lichst in Gren­zen zu halten.

Wie durch ein Wun­der blie­ben die Gär­ten und Häu­ser in unsere Nach­bar­schaft in der Sturm­nacht weit­ge­hend ver­schont. Auch die stolze Tanne am Cha­let­weg 3, in deren Wip­fel die Amsel so gerne ihr Mor­gen­lied sang, trotzte den Kräf­ten der Natur. Sie war denn auch früh­mor­gens wie­der zur Stelle und zwit­scherte aus der wun­der­ba­ren Gar­ten­oase rund um das histo­ri­sche Cha­let wie eh – und je und liess die Schrecken der Nacht ver­ges­sen. Auch das Haus, des­sen Bewoh­ne­rIn­nen bereits vor Mona­ten die Kün­di­gung erhal­ten hat­ten und aus­zie­hen muss­ten, stand am Mor­gen danach unbe­scha­det im Schat­ten von Ahorn, Weide und Tanne.

Aller­dings war die Freude dar­über, dass die statt­li­chen Bäume im Nach­bar­gar­ten den Sturm über­stan­den hat­ten, von kur­zer Dauer. Wäh­rend rundum in Gär­ten und im Wald Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter ver­such­ten, zu ret­ten, was noch zu ret­ten war, fuh­ren am Cha­let­weg 3 die Holz­fäl­ler auf. In Voll­mon­tur, mit Ket­ten­säge, Kran und Transportcontainer.

Als wir uns am Mor­gen auf den Weg zum Märit mach­ten, stand die alt­ehr­wür­dige, weit­herum sicht­bare Tanne noch. Als wir eine Stunde spä­ter zurück­kehr­ten, klaffte eine grosse Lücke in der Sil­hou­ette unse­res Quartiers.

Ohren­be­täu­bend das jau­lende Krei­schen der Motor­säge, wel­che dem wäh­rend Jah­ren gewach­se­nen Stamm die Äste abtrennte und den eben noch statt­li­chen Baum in trans­por­tier­bare Holz­stücke zer­legte. Emo­ti­ons­los besei­tigte ein Arbei­ter mit dicken Lärm­schutz-Pol­stern auf den Ohren auch die üppige Hecke, die das Cha­let und seine Bewoh­ne­rIn­nen in der Ver­gan­gen­heit vor neu­gie­ri­gen Blicken geschützt hatte. Der höl­zerne Gar­ten­zaun ist umge­kippt – das passt zum trost­lo­sen Bild, das die Grün­be­sei­ti­ger bei ihrer Weg­fahrt hin­ter­las­sen haben.

Jetzt erst zeigt sich, dass sie nicht die ersten waren, die mit der defi­ni­ti­ven Zer­stö­rung des letz­ten Cha­lets am Cha­let­weg begon­nen haben: Die grü­nen Fen­ster­lä­den sind ver­schwun­den, und auch die Fen­ster­schei­ben sind abmon­tiert. Ob die frü­he­ren Besit­zer, die die Lie­gen­schaft dem ren­di­te­hung­ri­gen Inve­stor ver­kauft hat­ten, hier noch ein­mal Hand ange­legt haben? – Im Ver­kaufs­ver­trag hat­ten sie sich näm­lich aus­be­dun­gen, dass sie – bevor das Cha­let, Bau­jahr 1926, dem Erd­bo­den gleich­ge­macht wird – noch her­aus­ho­len dür­fen, was ihnen nüt­zen könnte…

Die Besit­ze­rin des Grund­stücks, eine Collofundo AG, will end­lich vor­wärts machen. Trotz wei­ter stei­gen­der Bau­ko­sten und der Tat­sa­che, dass auf­grund der aktu­el­len kli­ma­ti­schen und öko­no­mi­schen Ent­wick­lun­gen das Pro­jekt für einen Wohn­turm mit 14 Kleinst­woh­nun­gen frag­wür­dig erscheint, liess sie sich nicht von ihrem unse­li­gen Vor­ha­ben abbringen.

Dies bestä­tigte Mit­in­ha­ber und Geschäfts­füh­rer Andreas Friedli in einer Mail vom 8. Juli auf unsere Anfrage, ob er als Inve­stor mög­li­cher­weise auf die Umset­zung des Pro­jekts ver­zich­ten und das Grund­stück ver­kau­fen würde…

Die Ant­wort war kurz und bün­dig und lau­tete: «Danke für Ihre Anfrage. Das Bau­vor­ha­ben wird wie geplant aus­ge­führt. Bau­be­ginn im Sep­tem­ber 2021.»

Der Anfang vom Ende ist voll­bracht: Die Augen des Cha­lets wur­den her­aus­ge­ris­sen, der üppige Gar­ten ram­po­niert – die stolze Tanne ist nicht mehr. Die Amsel muss sich einen neuen Aus­sichts­wip­fel suchen. Aller­dings wird das immer schwie­ri­ger: Die gros­sen Bäume sind rar gewor­den, in unse­rem Quar­tier. Das Dach mit dem Abluft­rohr von 14 Küchen dürfte kaum als valabler Ersatz in Frage kommen…

Sep­tem­ber 2021: 
DAS ENDE VOM ENDE

APRIL 2023:
OMG!!😱😱

Zerstörerischer Verdichtungswahn

Seit einem Monat kün­di­gen erneut Bau­pro­file auf einem Nach­bar­grund­stück Ungu­tes an. Sie ragen beson­ders hoch in den Him­mel, weil das neue Bau­re­gle­ment der Stadt Zürich zugun­sten von Ver­dich­tung auch in unse­rem Quar­tier die maxi­male Gebäu­de­höhe um ein Geschoss her­auf­ge­setzt hat. Zum Nach­teil aller umlie­gen­den, bereits bestehen­den Liegenschaften.

In den letz­ten zehn Jah­ren musste zuerst die statt­li­che Tanne vor unse­rem Schlaf­zim­mer­fen­ster einem Neu­bau wei­chen. Im Westen, wo ein Nach­kriegs-Mehr­fa­mi­li­en­haus durch ein vier­stöcki­ges Ren­dite-Objekt ersetzt wurde, hat man uns die Abend­sonne gestoh­len. Der Blick von unse­rer Woh­nung im ober­sten Stock über eine einst leben­dige Dächer­land­schaft ist längst Geschichte. Alte Back­stein­bau­ten, ehe­ma­lige Gewer­be­lie­gen­schaf­ten – kurzum, die ein­stige Gebäu­de­viel­falt eines gewach­se­nen Quar­tiers, wurde durch Varia­tio­nen von immer­glei­chen Beton­klöt­zen ersetzt, mit wel­chen man aus jedem Grund­stück das Maxi­mum an Pro­fit her­aus­zu­ho­len sucht.

Das dürfte auch das Ziel der 3A Immo­bi­lien AG sein, die das Nach­bar­grund­stück erwor­ben hat. Hin­ter einer mäch­ti­gen Trau­er­weide ver­steckt, über­ragt von einer hohen Tanne mit aus­la­den­den Ästen steht ein zwei­stöcki­ges Holz­haus mit 7 Zim­mern mit­ten in einem wun­der­schö­nen, üppi­gen Gar­ten – in bestem Zustand.

Es ist das letzte einer Reihe von Cha­lets, die einst hier stan­den – bewohnt von Ange­stell­ten der gros­sen Fabri­ken in Oer­li­kon. Die Cha­lets ver­brei­te­ten einen Hauch von Roman­tik und präg­ten das Gesicht der Strasse, die nach ihnen benannt wurde, so wie auch die nahe­ge­le­gene Bushaltestelle.

Das Haus am Cha­let­weg 3 ist einer der letz­ten Zeu­gen histo­ri­scher Archi­tek­tur im Quar­tier. In unmit­tel­ba­rer Nähe wurde bereits vor einem Jahr ein wun­der­schö­nes Arbei­ter-Back­stein­häus­chen zer­stört, um einem Beton-Ver­dich­tungs­pro­jekt Platz zu machen.

Die Zer­stö­rung die­ser Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit tut mir per­sön­lich weh. Noch viel schwe­rer wiegt hin­ge­gen der mit der über­mäs­si­gen Ver­dich­tung ein­her­ge­hende Ver­lust von grü­nen Oasen im Quar­tier. Dach­be­grü­nun­gen sind kein Ersatz für die Grün­räume, die ver­schwin­den, wenn Grund­stücke bis an den Rand bebaut und die Gär­ten mini­ma­li­siert wer­den, so dass sie gerade noch so gross sind wie der Rand einer Briefmarke.

Das üppige Grün, wel­ches das letzte Cha­let umgibt, ist nicht nur eine Augen­weide, es ist ein klei­nes Para­dies der Bio­di­ver­si­tät, mit­ten in einer Beton­land­schaft. Elstern ver­sam­meln sich in der Trau­er­weide, vom Wip­fel der Tanne singt die Amsel, abwech­selnd mit den Rot­kehl­chen, die sich etwas wei­ter unten im Geäst ein­ge­rich­tet haben… Das alles soll nun einem vier­stöcki­gen Beton­klotz mit zehn wei­te­ren Woh­nun­gen weichen?

Das darf nicht sein! Gerade heute, in Zei­ten des Kli­ma­wan­dels muss städ­ti­schen Grün­räu­men Sorge getra­gen wer­den. Bäume haben viel­fäl­tige Funk­tio­nen – und ein leben­di­ges Quar­tier braucht viel­fäl­tige For­men des Woh­nens und des Lebens. Was am Cha­let­weg 3 droht, ist genau das Gegen­teil: Ver­dich­ten im Namen des Pro­fits heisst Zer­stö­rung. Sinn­volle Ver­dich­tung geht anders: Sie nimmt Rück­sicht auf eine über Jahr­zehnte gewach­sene Umge­bung und ermög­licht inno­va­tive For­men des Tei­lens und Zusam­men­le­bens bei gleich­zei­ti­gem Erhalt oder sogar Aus­deh­nung bestehen­der Grün­flä­chen im Quartier.

Die­ses war der erste Streich (im Quar­tier), doch der näch­ste folgt sogleich:

Und gleich noch einer:

6. Dezem­ber 2021

8. Dezem­ber 2021

Ein Haus – gebaut in einem Jahr – demo­liert in 3 Tagen – aus den Augen, aus dem Sinn.

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