Verrat oder Kompromiss?

Wenn es um die Ren­ten­re­form 2020 geht, über die bald abge­stimmt wird, lie­gen die Ner­ven blank. Ins­be­son­dere bei jenen, die sich für einen funk­tio­nie­ren­den Sozi­al­staat ein­set­zen. So über­bie­ten sich SP- und Grü­nen-Poli­ti­ke­rIn­nen mit Welt­un­ter­gangs- und Droh­sze­na­rien für den Fall einer Ableh­nung der Abstimmungsvorlage.

Bei einem Nein würde das Ren­ten­al­ter für alle auf 67 stei­gen, heisst es. Die AHV und das Pen­si­ons­kas­sen­sy­stem wür­den zugun­sten der Rei­chen umstruk­tu­riert. Die rechts­bür­ger­li­che starke Ver­tre­tung im Par­la­ment warte nur dar­auf, unser Sozi­al­ver­si­che­rungs­sy­stem aus­zu­he­beln. Die Zei­ten seien schlecht, für die Durch­set­zung sozia­ler Anlie­gen, sagt etwa die Histo­ri­ke­rin und Femi­ni­stin Heidi Wit­zig in der WOZ. Des­halb müsse man sich mit dem vor­lie­gen­den Kom­pro­miss begnü­gen, dies das sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Mantra.

Von AHV an die Wand fah­ren ist die Rede, und davon, dass der AHV-Fonds in 10 bis 12 Jah­ren leer sei, wenn die Ren­ten­re­form abge­lehnt würde.

Droh­sze­na­rien im Abstim­mungs­kampf sind nicht neu. Angst­ma­che­rei und Welt­un­ter­gangs-Sze­na­rien haben sich an der Urne seit jeher bestens bewährt: Pla­kate war­nen ewig­gleich vor dro­hen­der Kri­mi­na­li­sie­rung durch Über­frem­dung, vor Wohl­stands­ver­lust und vor dem Abbau von Arbeits­plät­zen, mit dem man in der Ver­gan­gen­heit prak­tisch jede Abstim­mung gebo­digt hat.

Neu ist aller­dings, dass sol­che Sze­na­rien von jenen her­auf­be­schwo­ren wer­den, die eigent­lich für soziale Werte, Ideale und Visio­nen ein­ste­hen soll­ten. Dazu gehö­ren auch eine Reihe ehe­ma­li­ger Kämp­fe­rIn­nen für die Rechte der Frauen in der Schweiz.

Letzte Woche in Zürich: Das Sozi­al­ar­chiv lud zu einer Ver­an­stal­tung über die Frau­en­be­we­gung in der Schweiz. Nost­al­gie kam auf, als Frauen wie Judith Stamm, Zita Küng, Chri­stine Sie­ber und Anita Fetz von ihren Kämp­fen in den 1970er Jah­ren erzähl­ten. Wie sie für ihre Anlie­gen auf die Strasse gin­gen, Podi­ums enter­ten und sich Gehör ver­schaff­ten. Heute fehle die­ser Druck, bedau­er­ten die alten Kämp­fe­rin­nen, obschon längst nicht alle Ziele erreicht seien.

In Bezug auf die Gleich­stel­lung von Mann und Frau habe sie keine Kom­pro­misse gedul­det, betonte etwa Anita Fetz. Und for­derte dezi­diert einen neuen Frau­en­streik. Kein Wort hin­ge­gen zur aktu­el­len Ren­ten­re­form. Der angeb­lich feh­lende Druck ist näm­lich durch­aus da, z. B. von lin­ken, kämp­fe­ri­schen Frauen wie Tamara Funi­ciello oder Manuela Hon­eg­ger, die an der alten Devise der Femi­ni­stin­nen fest­hal­ten: Keine Erhö­hung des Ren­ten­al­ters für Frauen, bevor die Lohn­gleich­heit durch­ge­setzt ist!

Sol­che Stim­men wer­den von den «Real­po­li­ti­ke­rIn­nen» mar­gi­na­li­siert, an den Rand gedrückt. Anita Fetz etwa, eine klare Befür­wor­te­rin der aktu­el­len Reform, reagierte am Rande der Ver­an­stal­tung in Zürich offen­bar genervt und abwei­send, als sie von einer enga­gier­ten Polit­ak­ti­vi­stin auf die AHV-Revi­sion ange­spro­chen wurde.

Mit ihrem Ein­ste­hen, ja Wei­beln für einen fau­len Kom­pro­miss, hin­ter dem eigent­lich nie­mand wirk­lich ste­hen mag, bege­ben sich Sozi­al­po­li­ti­ke­rIn­nen aller­dings auf ein gefähr­li­ches Feld: Bei einer all­fäl­li­gen Ableh­nung des Reform­vor­schlags über­las­sen sie die Deu­tungs­ho­heit den rechts­bür­ger­li­chen Nein-Sagern. Das ist fatal.

Für eine nach­hal­tige Siche­rung unse­res Sozi­al­sy­stems brau­chen wir Visio­nen und linke Posi­tio­nen. Schade, dass diese in der aktu­el­len Vor­lage nur von einer Min­der­heit postu­liert und kon­se­quent ver­tre­ten wer­den! Eine Min­der­heit nota­bene, die von ihren eigent­li­chen Gesin­nungs- und Par­tei­ge­fähr­ten zusätz­lich mar­gi­na­li­siert wird. Die lau­ten Ja-Sager von SP und Grü­nen wer­den es schwie­rig haben, bei einer all­fäl­li­gen Ableh­nung der Reform das Steuer her­um­zu­reis­sen. So gese­hen ist das Her­auf­be­schwö­ren von Droh­sze­na­rien und Angst min­de­stens so gefähr­lich, wie ein Nein an der Urne.

Im Zen­trum steht die Frage: Wie­viel Kom­pro­miss ver­trägt es – wann beginnt der Ver­rat an unse­ren Wer­ten? Was zudem unver­ständ­lich ist: Wes­halb ver­brei­ten Genos­sin­nen und Genos­sen das Mär­chen, dass sich in der Schweiz eine Mehr­heit erge­ben könnte, die für eine Zer­stö­rung des Jahr­hun­dert-Sozi­al­werks AHV votiert? Wür­den etwa die Bau­ern für die Abschaf­fung der AHV stimmen?

Mit einem Nein wird der Weg frei für eine bes­sere Alters­vor­sorge – eine Alters­vor­sorge, wie sie in der Ver­fas­sung steht. Das will die Mehr­heit, das muss unser Ziel sein. Wir dür­fen unsere Zukunft nicht ses­sel­kle­ben­den Angst­ha­sen-Poli­ti­ke­rIn­nen über­las­sen. Wir brau­chen eine Poli­tik, die wie­der kon­se­quent und mit Herz­blut soziale Werte vertritt!

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