Der Bus Nr. 17 fährt gleich gegenüber dem Bahnhofausgang. Rushhour – das Gedränge ist immens. Wir quetschen uns mit unseren Rollkoffern zwischen die anderen Passagiere. Endlich wieder einmal richtiges Grossstadtfeeling. Es kann losgehen!
Die Türen schliessen, doch der Bus kommt kaum vom Fleck. Hamburg rund um den Hauptbahnhof erstickt im Feierabend-Verkehrschaos. Bis zur ersten Haltestelle dauert es eine gefühlte Ewigkeit. Stop and Go and Stop. Und auch danach geht es bloss im Schritttempo vorwärts.
Hüst und hott, wie ein Pferdefuhrwerk, bis wir über die Brücke sind, dann nimmt der Bus endlich Fahrt auf. Jetzt lichten sich auch die Reihen – bei jeder Haltestelle steigen mehr Leute aus als ein. Sogar Sitzplätze werden frei, was wir natürlich sofort ausnützen. Beim Betrachten der vorbeifahrenden Fassaden geht’s nun plötzlich schnell – und schon sind wir da!
Rollkoffer gepackt und raus auf das Trottoir – der Bus biegt um die Ecke, und wir in die nächste Seitenstrasse. Der Hoteleingang ist in Sichtweite, als N. (richtiger Name bekannt) abrupt stehen bleibt und mich fassungslos anschaut: «Wo ist mein Rucksack?»
Besser gesagt, ein Rucksäckli: Es handelt sich beim vermissten Gepäckstück nämlich um das kleinstmögliche Rucksackmodell. Dafür umso gewichtiger der Inhalt. Alles, das zu kostbar ist, um im Koffer transportiert zu werden: Die Hotelreservation und Theatertickets für die kommenden Tage, die Bahnbillette für die Rückreise – und, schwirrt mir sogleich durch den Kopf: Handy weg, Portemonnaie weg…
Fassungslos blickt N. um sich. Kein Rucksack weit und breit?!? Fest steht: Nicht über seiner Schulter, wo er eigentlich hingehört. Vermutlich also im Bus. Am Bahnhof nämlich, war er noch dabei. Also im Bus liegengeblieben. Was tun?
Statt zum Hotel, rechtsumkehrt. Wir eilen in Fahrtrichtung des Busses zur nächsten Haltestelle. Irgendwann wird er ja an der Endstation wenden und den gleichen Weg zurückfahren, so N.’s scharfe Kalkulation und Hoffnung. Zudem gibt’s Entwarnung: Handy und Portemonnaie sind auf Mann, in der Jackentasche… Einzig rund 500 Euro, extra abgehoben am Vortag, sind im vermissten Rucksack.
Kein Pappenstiel, aber angesichts der Erleichterung, dass das Handy und die Kreditkarten nicht weg sind, verkraftbar. Und trotzdem blöd: Das Geld verringert die ohnehin minimale Chance, so meine Einschätzung, dass wir das Rucksäckli je wieder zurückerhalten.
Aber aufgeben war noch nie N.’s Sache. Am Anschlagbrett der Bushaltestelle finden wir eine Telefonnummer des Hamburger Verkehrsverbunds HVV. Trotz Freitagabend meldet sich ein freundlicher Herr auf den Anruf und nimmt alle Angaben zum liegen gelassenen Gepäckstück auf. Er verspricht, die Sache weiterzuverfolgen und sich wieder zu melden.
Während N. also noch am Telefon den Inhalt des Rucksacks detailliert beschreibt (ohne die 500 Euro zu erwähnen), stürze ich mich in den nächsten Bus, der die Haltestelle anfährt und überfalle den Chauffeur mit unserem Problem. Freundlich und hilfsbereit auch er. Trotz Fahrplandruck sucht er mir die Telefonnummer der Leitstelle heraus, schreibt sie auf einen Zettel und meint, wir sollten dort gleich selber anrufen, das sei am effizientesten.
Ich greife nach dem wertvollen Stück Papier, entschuldige mich bei ihm und den Fahrgästen für das Intermezzo und die dadurch erfolgte Verspätung. Rundum freundliches, verständnisvolles Nicken. Man versichert mir «kein Problem», während ich den Bus fluchtartig verlasse und zur Weiterfahrt freigebe. Sind das jetzt die echten, angeblich so kühlen Hanseaten oder alles freundliche Hamburger mit Migrationshintergrund?
Wir warten noch einmal 10 Minuten, in der Hoffnung, vielleicht den richtigen Bus auf der Rückfahrt doch noch zu erwischen. Leider ist dem nicht so: Diesmal ist der unbekannte Fahrer hanseatisch kurz angebunden, will nichts hören – er habe das Fahrzeug eben erst übernommen und wisse von nichts. Punktschluss.
Also machen wir uns endlich auf den Weg ins Hotel. Und stellen fest, dass alles halb so schlimm ist: Die Tickets haben wir alle auf dem Handy auch online dabei. Allerdings könnte es sein, so meine Befürchtung, dass ein Finder unsere ausgedruckten Tickets für Theater und Elbphilharmonie behändigt oder weiterverkauft, und uns damit ausbremst.
Sei’s drum – fertig mit der Schwarzmalerei. Nach einem feinen kleinen Nachtessen, leicht betäubt von beruhigendem Rotwein, schlafen wir bestens. Und machen uns am nächsten Morgen ans Sightseeing, wie geplant: Ein ausgedehnter Spaziergang im Volkspark mit anschliessendem Museumsbesuch.
Erst als wir uns an die Sonne setzen, um uns vom dichten Programm zu erholen und etwas zu essen, bemerkt N., dass jemand versucht hat anzurufen: Die Rezeptionistin unseres Hotels. Mit der Information, wir sollten die HVV-Leitstelle kontaktieren. Was N. sofort macht – und siehe da: Der Rucksack ist gefunden worden und wartet im Büro auf ihn! Kann am Samstagabend bis 19 Uhr abgeholt werden.
Freundlich und geduldig erklärt der Herr von der Leitstelle, wie wir auf schnellstem Weg mit dem ÖV zum Busbahnhof kommen, wo das Rucksäckli zwischengelagert ist. Inklusive Busnummern, Haltestelle und Zieladresse.
Die gute Nachricht fördert den Appetit – und die Bedienung im Restaurant freut sich mit uns. Dann machen wir uns auf den Weg. Nachdem wir mit dem ersten Bus zuerst eine Haltestelle in die verkehrte Richtung gefahren sind, geht es einfach, Schlag auf Schlag. Zweimal umsteigen, dann sind wir beim zentralen Busbahnhof und werden durch den Innenhof ins Büro gebeten.
Dort ist einiges los: Chauffeure und Büroangestellte gehen ein und aus, Wortfetzen fliegen – es herrscht eine angeregte, überaus freundliche Stimmung. Während sich N. sein Rucksäckli aushändigen lässt, meint eine HVV-Beamtin zu mir: «Es ist unglaublich, was Menschen im Bus alles liegen lassen!» Dass Regenschirme liegen bleiben, könne sie ja noch verstehen. Aber die vollgepackte Einkaufstausche, die hier seit Tagen stehe?!? Und sogar Kinder würden vergessen.
Ja, das komme immer mal wieder vor, sagt sie als Antwort auf meinen ungläubigen Blick: «Ich weiss auch nicht, was die Leute denken. Steigen mit einem Kinderwagen ein – und lassen ihn beim Aussteigen einfach im Bus stehen…» Der Fahrer merke dann oft erst an der Endstation, was da los sei – und müsse wohl oder übel einen Kinderabhol- und ‑hütedienst organisieren. Sachen gibt’s!
Beim Abschied warme Worte und die besten Wünsche für unseren weiteren Aufenthalt in Hamburg. Nach diesem Intermezzo schweben wir fast durch die Strassen: Unglaublich! Ich zumindest hatte nie daran geglaubt, dass wir das kleine herzige Rucksäckli je wieder in Händen halten würden. Schon gar nicht mit seinem ganzen Inhalt, inklusive der 500 Euro…
Ein Schreck, mit einem schönen, wunderschönen Ende: Wir haben nicht nur das Rucksäckli wiedergefunden – sondern darüber hinaus auch den Glauben an das Gute im Menschen nicht verloren. In der anonymen Grossstadt, wo die Kriminalität angeblich auf Schritt und Tritt lauert.