Olivetta, ein malerisches Bergdorf, unweit des Mittelmeers gelegen, inmitten von Olivenhainen. Mittelalterliche Häuser kleben an steil abfallenden Hängen. Die Ruine einer Mühle am felsigen Bachbett, eine Fussgängerbrücke über glasklares Wasser. Diese Brücke, den Ponte Ronconi, passierten 1939/40 italienische Jüdinnen und Juden auf ihrer Flucht aus dem faschistischen Italien ins damals noch freie Südfrankreich. Eine Gedenktafel erinnert an die schlimme Zeit.
Fast 80 Jahre später sind wir auf dem schmalen Weg unterwegs, der jenseits der Brücke im Zickzack steil den Berghang hinauf kreuzt. Ziel unserer Wanderung ist der Passo Treittone, von wo der Weg auf den Grammondo führt, den höchsten Berg der Region. Sowie talwärts, ins französische Sospel.
Es ist August. Das Blätterdach der Bäume schützt vor der brennenden Sonne, die Aussicht ist atemberaubend. Was für uns WandererInnen ein Vergnügen, war für die Menschen damals eine Gratwanderung zwischen Todesangst und Hoffnung. Es ist anzunehmen, dass sie im Schutz der Dunkelheit hier hochgestiegen sind. Mit ortskundigen «Passeurs», die sich auf den Schmugglerpfaden im Grenzgebirge auskannten.
Schritt für Schritt steigen wir hoch, in Gedanken bei den Flüchtlingen. Der Wanderweg ist gut signalisiert, doch wir sind alleine unterwegs. Ausser einer Gruppe Pfadfinder, die wir beim Aufstieg überholen, scheint die Gegend heute menschenleer.
Oder täuscht der erste Eindruck? Ab und an lässt uns ein Rascheln im Unterholz aufhorchen. Sind wir gar nicht allein? Werden wir beobachtet, folgen uns gar ängstliche Augenpaare?
In Olivetta hatte man uns erzählt, dass auch heute wieder Menschen versuchen würden, über die alten Fluchtwege der Jüdinnen und Juden Frankreich zu erreichen. Spätabends im Schutz der Dunkelheit sehe man sie durchs Dorf, in die Berge ziehen…
Unterwegs mehren sich die Zeichen: Am Wegrand eine schmutzige Vliesdecke, etwas weiter die Reste einer Kompressen-Verpackung, kürzlich erst weggeworfen und noch kaum verwittert. In einem Strauch hängt ein T‑Shirt, auf dem Boden Fetzen eines zerrissenen Briefs mit italienischem Absender, in arabischer Schrift.
Leise, kaum wahrnehmbare Spuren, die auf die Flüchtlinge hinweisen, die heute wieder die alten Fluchtwege nutzen, um im Schutz der Dunkelheit nach Frankreich, nach Europa zu gelangen. Allerdings ist es schwierig geworden: Frankreich lässt auch seine abgelegensten Grenzen scharf bewachen. Im Kampf gegen die Flüchtlinge hat der Staat ganze Heerscharen von Polizisten und Militärs in der Region stationiert.
Zudem sind die Bergpfade gefährlich. Das wissen auch die verzweifelten Flüchtlinge, die es trotzdem immer wieder versuchen. Weil sie keine Wahl hätten, wie uns ein junger Mann drei Tage später in Ventigmilia erklärt. Wir treffen ihn im Caritas-Zentrum, wo täglich Hunderte von Flüchtlingen notdürftig versorgt werden. Wie die meisten hier, kommt er aus Darfur.
Die jungen Männer erzählen von Bürgerkrieg, Gewalt und Armut. In Darfur, aber auch unterwegs. Libyen sei die Hölle, mit eigenen Augen habe er gesehen, wie die Leute dort erschossen würden, sagt unser Gesprächspartner, der auf die Frage nach seinem Namen vielsagend antwortet: «Adam, Achmed, Abdeslam – je nachdem…»
Er sei seit 45 Tagen in Italien und wolle weiter. Sein Bruder lebt in Frankreich. Zehnmal habe er bereits versucht, die Grenze zu überqueren, um zu ihm zu gelangen. Dreimal über den Berg – jedesmal ist er erwischt und nach Italien zurückgebracht worden.
Er wird es wieder versuchen und hofft, dass er von seinem Bruder Unterstützung erhält, um einen Schlepper zu bezahlen. Er sei aus Darfur weg, weil er ein würdiges Leben wollte. Statt der erwarteten Freiheit und der Möglichkeit, Geld zu verdienen, sich weiterzubilden, müssten sie in Italien nun auf der Strasse leben. Doch Rückkehr sei keine Option, und irgendwann werde er es nach Europa schaffen – oder sterben. «We have a desire», sagte er zum Abschied.