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Kriegsdienstverweigerung – Recht auf Asyl?

Kürz­lich publi­zierte die inter­na­tio­nale Pres­se­agen­tur Pres­senza die Geschichte von Mikita, einem jun­gen bela­rus­si­schen Deser­teur, den die Euro­päi­sche Union – selbst­er­nannte Ver­tei­di­ge­rin der «west­li­chen Werte» – nach Weiss­russ­land zurück­schicken will. Obschon ihm dort Fol­ter und Gefäng­nis, wenn nicht gar die Todes­strafe drohen.

Ange­fan­gen hat die Geschichte im Herbst 2021, als der damals 18jährige Mikita zum obli­ga­to­ri­schen Wehr­dienst in die bela­rus­si­sche Armee ein­ge­zo­gen wurde. Nur sechs Monate spä­ter wurde der Krieg in der Ukraine los­ge­tre­ten. Die jun­gen Sol­da­ten muss­ten damit rech­nen, schon bald als Kano­nen­fut­ter im Dien­ste Lukaschen­kos und Putins an die Front geschickt zu werden.

Ein Krieg, den Mikita nicht mit­tra­gen konnte und wollte. Wäh­rend einer Mili­tär­übung nahe der Grenze zu Litauen, gelang ihm im Mai 2022 die Flucht in die EU. In Litauen stellte der junge Mann umge­hend einen Asyl­an­trag. Die­ser wurde vor weni­gen Wochen in zwei­ter Instanz und damit defi­ni­tiv abge­lehnt. Die Begrün­dung: Bela­rus sei ein siche­res Land, eine Rück­kehr für den geflüch­te­ten Sol­da­ten problemlos.

Eine Ein­schät­zung, die in kras­sem Wider­spruch zu all den Zeu­gen­be­rich­ten über Repres­sio­nen, Fol­ter und Miss­hand­lun­gen von Men­schen wie Mikita durch das weiss­rus­si­sche Régime steht. Wenn es um Kri­tik an Lukaschen­kos Unrechts­staat geht, ken­nen west­li­che Politiker:innen in der Regel keine Zurück­hal­tung. Umso stos­sen­der ist es, dass nun aus­ge­rech­net jene Men­schen, die sich wei­gern, im Namen die­ses Staa­tes zu töten, zurück­ge­schickt statt geschützt wer­den sollen.

Mikita ist kein Ein­zel­fall. Ver­schie­dene Quel­len berich­ten, dass bela­rus­si­sche Geflüch­tete in Litauen heute als «Bedro­hung der natio­na­len Sicher­heit» gese­hen und des­halb immer öfter abge­scho­ben werden.

Olga Karach, die Lei­te­rin des Men­schen­rechts­zen­trums «Unser Haus», die sel­ber vor den Repres­sio­nen in ihrer bela­rus­si­schen Hei­mat nach Litauen geflüch­tet ist, schil­dert gegen­über der Zeit­schrift «Spinn­rad» die zuneh­mend auf­ge­heizte Stim­mung: «Einige wer­den sogar mit einem fünf­jäh­ri­gen Visum­ver­bot für die Euro­päi­sche Union zurück­ge­scho­ben, selbst Men­schen, die seit vie­len Jah­ren in Litauen leben, die Spra­che sehr gut beherr­schen und sehr gut inte­griert sind. Auch ich wurde zur Bedro­hung der natio­na­len Sicher­heit Litau­ens erklärt, weil wir in Litauen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer aus Gewis­sens­grün­den schüt­zen. Natür­lich sind wir strikt dage­gen, sie nach Weiss­russ­land abzuschieben.»

Nicht nur Litauen tut sich schwer mit dem Schutz geflüch­te­ter Kriegsdienstverweigerer:innen. Auch im übri­gen Europa und in der Schweiz ist die Flucht vor staat­lich ver­ord­ne­tem Töten kein aus­rei­chen­der Asyl­grund. Im Gegen­teil, denn im welt­wei­ten mili­tä­ri­schen Den­ken und Han­deln gibt es ein all­ge­mein­gül­ti­ges Dogma: Befehl ist Befehl. Wer sich die­ser Maxime ver­wei­gert, ist hart zu bestra­fen. Dienst­ver­wei­ge­rung wird des­halb kaum als Asyl­grund aner­kannt, auch in der Schweiz nicht. Sie wird als Schwe­ster der Deser­tion behan­delt, die in der Mili­tär­lo­gik zum Zer­fall der Befehls­ma­schi­ne­rie führt.

Gerade aus die­sem Grund ist die Auf­nahme und Unter­stüt­zung von Men­schen, die sich dem Krieg ver­wei­gern, ein radi­ka­ler und sinn­vol­ler Akt der Friedenspolitik.

Statt­des­sen wer­den Friedensaktivist:innen ver­folgt, ein­ge­sperrt und miss­han­delt – beson­ders schlimm ist es in krieg­füh­ren­den Län­dern wie Israel, Russ­land oder der Ukraine, wo Män­ner zum Kriegs­dienst gezwun­gen wer­den. Dies nota­bene, obschon die UNO seit 1987 Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung aus Gewis­sens­grün­den als Men­schen­recht anerkennt.

Ein Men­schen­recht, das in Zei­ten von Auf­rü­stung und neu ange­heiz­tem Mili­ta­ris­mus quer in der Polit­land­schaft steht und bei uns für Kon­tro­ver­sen sorgt. Umso wich­ti­ger ist die Unter­stüt­zung jener muti­gen Men­schen, die sich der Kriegs­ma­schi­ne­rie offen entgegenstellen.

So wie Sofia Orr und Tal Mit­nick, die sich wei­ger­ten, ihren obli­ga­to­ri­schen Mili­tär­dienst in Israel anzu­tre­ten. Die 19jährige Sofia ver­brachte fast drei Monate im Mili­tär­ge­fäng­nis, bevor sie das Mili­tär­ge­richt zur «Dienst­ver­wei­ge­re­rin aus Gewis­sens­grün­den» erklärte – ein Sta­tus, den man ihrem Kol­le­gen Tal* bis­lang ver­wei­gerte. Er begrün­dete seine Ver­wei­ge­rung im Dezem­ber 2023 mit den Wor­ten: «Ich wei­gere mich zu glau­ben, dass mehr Gewalt Sicher­heit brin­gen wird. Ich wei­gere mich, an einem Krieg der Rache teilzunehmen.»

Noch sind es nur wenige, die den Mut haben, sich gegen die Ein­be­ru­fung zu stel­len – weil für viele wohl die Pflicht am Vater­land vor­geht. Andere sehen schlicht und ein­fach keine Mög­lich­keit, sich dem Befehl zu ent­zie­hen – der Druck von Fami­lie und Gesell­schaft mag eben­falls eine ent­schei­dende Rolle spielen.

Etan Nechin, ein ehe­ma­li­ger israe­li­scher Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, der heute in New York lebt, schreibt aus eige­ner Erfah­rung: «Ver­wei­ge­rung ist nicht hero­isch, aber sie drückt eine andere Art von Ent­schlos­sen­heit aus: Die Ent­schlos­sen­heit, allein zu ste­hen, die Kom­ple­xi­tät des Dis­sen­ses zu bewäl­ti­gen und ange­sichts gesell­schaft­li­cher Span­nun­gen sei­nen Über­zeu­gun­gen treu zu blei­ben; zu erken­nen, dass Rebel­lion not­wen­dig ist, wenn Men­schen einem gewalt­tä­ti­gen und unhalt­ba­ren Sta­tus quo gegenüberstehen.»

Rebel­lion statt Fah­nen­eid auf mili­tä­ri­schen Gehor­sam: Damit wird dem Mili­ta­ris­mus und letzt­lich den Kriegs­trei­bern das Was­ser abge­gra­ben. Genauso wie mit einer Frie­dens­po­li­tik, die statt dem süs­sen Gift von Waf­fen­lie­fe­run­gen und end­lo­ser Ankur­be­lung der Kriegs­in­du­strie zu erlie­gen, Men­schen unter­stützt, die sich dem Krieg ver­wei­gern und ihnen Asyl bietet. 

Ernst Bar­lach, Dom Mag­de­burg: Denk­mal des Krieges

* Nach­trag: Nach 185 Tagen im Knast wurde der 18jährige Tal Mit­nick am 11. Juli 2024 aus dem Mili­tär­dienst ent­las­sen. Er war im Dezem­ber 2023 der erste Wehr­dienst­ver­wei­ge­rer seit Beginn des Gaza-Kriegs und hat die läng­ste Haft­zeit aller Dienst­ver­wei­ge­rer des letz­ten Jahr­zehnts ver­büsst. Sein Kom­men­tar: «Ich bin erleich­tert, dass ich nach so lan­ger Zeit frei­ge­las­sen wurde. Glück­li­cher­weise hatte ich die Mög­lich­keit, mich amKampf gegen den Krieg und die Besat­zung zu betei­li­gen. In unse­rer Gesell­schaft meh­ren sich die Stim­men, die erken­nen, dass nur Frie­den Sicher­heit garan­tie­ren kann… »

I need protection

Sonn­tag­abend, Ende Novem­ber. Glück­lich und zufrie­den sit­zen wir auf unse­ren gebuch­ten Plät­zen im Euro­city von Milano nach Zürich. Unser Zug von Kala­brien her­kom­mend war auf die Minute pünkt­lich, genauso geht es nun wei­ter nord­wärts. Eine rei­bungs­lose Heim­fahrt nach erfüll­ten Ferien. Jetzt die Vor­freude auf unsere warme Stube, das eigene Bett…

Draus­sen ist Nacht, Voll­mond. Zwi­schen­halt in Como, dann Chi­asso. Einige Pas­sa­giere stei­gen zu, der Zug füllt sich. Ein Mann mitt­le­ren Alters fragt scheu, ob er sich zu uns set­zen dürfe. Er ist fast zu warm ange­zo­gen: Stirn­band über den Ohren, dar­über ein Hut, ein­ge­hüllt in einen Man­tel mit Fisch­grat­mu­ster, die Hände in dicken Hand­schu­hen. Als Gepäck eine ver­schlis­sene Schul­ter­ta­sche und ein pink­far­be­ner Kinderrucksack.

Der Mann, ein Schwarz­afri­ka­ner, zuge­stie­gen mit einer Gruppe ande­rer Schwar­zer. Ist er einer von den vie­len die übers Mit­tel­meer gekom­men sind? Er wirkt ängst­lich, ver­un­si­chert. Und beginnt zu erzäh­len: Man habe ihm sein Handy gestoh­len und sein gan­zes Geld – 75 Euro, sagt er. Nun wisse er nicht, wie er nach Ger­many komme. Ob das der rich­tige Weg sei, will er wis­sen und streckt uns einige Doku­mente ent­ge­gen. Zuoberst ein gel­ber Zet­tel. Es ist ein von den SBB aus­ge­stell­tes Doku­ment für eine «Reise ohne gül­ti­gen Fahr­aus­weis» – von Chi­asso nach Basel – kurz vor der Zug­ab­fahrt aus­ge­stellt. Gül­tig bis Mit­ter­nacht. Es ist jetzt kurz vor 20 Uhr.

Wir kön­nen ihn erst­mal beru­hi­gen. «Alles ok», sage ich. Für die Fahrt bis nach Basel brau­che er weder Geld noch Handy… Warum er denn nach Ger­many wolle? Hat er dort Bekannte, Fami­li­en­an­ge­hö­rige? Er schüt­telt den Kopf. Nein, sagt er. Er sei allein, kenne nie­man­den in Europa. Er sei übers Meer geflüch­tet, weil er in sei­nem Hei­mat­land um sein Leben fürch­ten musste.

Mit lei­ser Stimme erzählt er wei­ter: Seine Eltern seien tot, seine Schwe­ster und ihre Fami­lie umge­bracht, auch seine Kin­der… Er komme aus Sierra Leone, wo er als Chauf­feur gear­bei­tet habe. Er sei ein guter Chauf­feur. Wie zum Beweis klaubt er sei­nen Füh­rer­schein aus der Tasche und zeigt ihn mir. Nun ken­nen wir auch sei­nen Namen und sein Geburts­da­tum – er ist 46 Jahre alt.

Dann fasst er in ein paar kur­zen, stocken­den Sät­zen die Geschichte sei­ner Flucht zusam­men. Zuerst nach Bamako in Mali, wo es für ihn auch gefähr­lich gewe­sen sei. Von da durch Wüsten­ge­biete wei­ter nach Tune­sien, wo er wie­derum nicht blei­ben konnte. Des­halb habe er mit 36 ande­ren ein Boot bestie­gen, man habe ihm auch eine Schwimm­we­ste gege­ben. Das Boot sei geken­tert und gesun­ken. Neben ihm seien zwei Män­ner und eine Frau mit ihrer Toch­ter ertrunken.

Unbe­kannte Ret­ter hät­ten ihn aus dem Meer gezo­gen und nach Lam­pe­dusa gebracht. Trotz­dem wäre er fast gestor­ben: Man habe ihm eine Infu­sion gesteckt, ihn in ein ita­lie­ni­sches Spi­tal gebracht, wo er vier Tage im Koma lag. Schliess­lich kam er wie­der auf die Beine und konnte sei­nen Weg fort­set­zen. Warum denn aus­ge­rech­net Ger­many, fra­gen wir noch ein­mal. «I need pro­tec­tion», lau­tet seine Antwort.

Nun sitzt er hier, im Zug neben uns – müde und trau­rig. Was kön­nen wir tun? Wie ihm wenig­stens ein klein wenig hel­fen? Wir zücken unsere Han­dys und suchen im Inter­net nach einer Anlauf­stelle, einer Not­ruf­num­mer, die am Sonn­tag­abend erreich­bar ist. Ohne Erfolg. Die Hil­fe­stelle für Men­schen «Sans Papiers» steht erst am Diens­tag­nach­mit­tag und auf Vor­anmel­dung zur Ver­fü­gung. Auch Men­schen auf der Flucht müs­sen sich hier­zu­lande an Büro­zei­ten hal­ten. Für einen Platz in einer Not­schlaf­stelle in Zürich muss man 3 Monate Auf­ent­halt in der Stadt nachweisen.

Bil­let­kon­trolle. Der Fahr­aus­weis von Samuel – so heisst der Flüch­tende – ist nicht der ein­zige gelbe Zet­tel, den die Kon­duk­teu­rin an die­sem Abend vor­ge­legt erhält. Freund­lich fragt sie, ob er Eng­lisch oder Fran­zö­sisch spre­che und ver­sucht, ihm zu erklä­ren, dass er in Arth-Goldau umstei­gen müsse. Eigent­lich hätte er schon in Bel­lin­zona auf den direk­ten Zug nach Basel wech­seln sol­len, jetzt müsse er an der näch­sten Sta­tion halt eine halbe Stunde auf den Anschluss warten.

Die Kom­mu­ni­ka­tion ist schwie­rig. Samuel aus Sierra Leone kann den schnel­len Sät­zen der jun­gen Frau nicht ganz fol­gen. Sie muss aber wei­ter und bedankt sich, als wir sagen, wir wür­den ihm beim Umstei­gen in Arth-Goldau behilf­lich sein.

Der Zug fährt über die Gott­hard-Berg­strecke, da der Basis­tun­nel für den Per­so­nen­ver­kehr wei­ter­hin geschlos­sen bleibt. Uns bleibt noch eine gute Stunde Zeit mit unse­rem Mit­rei­sen­den. Auf einem Stück Papier notie­ren wir die Adresse der Anlauf­stelle für Sans Papiers in Basel. Dort könnte er am fol­gen­den Tag hin­ge­hen, wenn er es im ersten Anlauf nicht nach Ger­many schaf­fen sollte. Auf die Frage, ob er das Geschrie­bene lesen könne, ver­neint er: «Als meine Eltern star­ben, hatte ich den Kopf nicht frei, um zur Schule zu gehen. Ich habe immer nur gearbeitet…»

Ich schlucke leer: Ein 46jähriger Mann aus dem bit­ter­ar­men, kriegs­ge­beu­tel­ten Sierra Leone, wo Rebel­len­grup­pen jah­re­lang mit dro­gen­ver­la­de­nen, miss­brauch­ten Kin­der­sol­da­ten die Men­schen ter­ro­ri­sier­ten, sucht Schutz in Europa. Er kann weder lesen noch schrei­ben, immer­hin spricht er Eng­lisch. Des­halb unsere näch­ste Frage: Ob er seine Geschichte am Zoll in Chi­asso erzählt habe? Er nickt und zieht erneut seine Foto­ko­pien, die er an der Grenz­stelle gekriegt hat, her­vor. Man habe ihm diese Papiere gege­ben, mit dem Kom­men­tar «ever­ything ok». Denn Samuel hat offen­sicht­lich das Zau­ber­wort «Asyl» nicht aus­ge­spro­chen. Und der Grenz­be­amte hat ihn wohl­weis­lich nicht dar­auf ange­spro­chen. Alle die dies nicht tun und nach Ger­many, France oder ins UK wei­ter wol­len, soll man nicht an der Wei­ter­reise hin­dern, son­dern juri­stisch «sau­ber» schnellst­mög­lich durch die Schweiz hin­aus­spe­die­ren. Dies ist offen­bar die aktu­elle Pra­xis an den Schwei­zer Grenzstationen.

Es sind neun A4-Sei­ten, aus­ge­füllt und über­reicht von einem Zoll­be­am­ten der Abtei­lung «Dogana Mend­ri­sio». Das drei­sei­tige For­mu­lar der in ita­lie­ni­scher Spra­che ver­fass­ten Weg­wei­sungs­ver­fü­gung ver­langt, dass unser Mit­rei­sen­der die Schweiz und den gesam­ten Schen­gen­raum inner­halb von sie­ben Tagen (bis zum 3. Dezem­ber 2023) ver­las­sen müsse. Ergän­zend dazu ein wei­te­res For­mu­lar auf Eng­lisch, das in schwer ver­ständ­li­cher Juri­sten­spra­che über die Rechte auf Anhö­rung und Ein­spra­che gegen die Weg­wei­sung infor­miert und vor­der­grün­dig dem Geflüch­te­ten die Mög­lich­keit bie­tet, sich ent­spre­chend zu erklären.

Samuel erhielt auch ein Infor­ma­ti­ons­blatt in die Hand gedrückt, auf dem sämt­li­che Rechts­grund­la­gen und Ein­spra­che­mög­lich­kei­ten auf­ge­führt sind. Was aber hilft ihm das, wenn er es nicht lesen und schon gar nicht ver­ste­hen kann? – Und vor allem, wenn man ihn, der nicht lesen kann, gleich­zei­tig seine Weg­wei­sung und den fak­ti­schen Ver­zicht auf sein «Right to be heard» mit einem Krin­gel unter­schrei­ben lässt?

Ein Vor­gang, der sich Tag für Tag hun­dert­fach an den Schwei­zer Grenz­sta­tio­nen und im gan­zen Schen­gen­raum wie­der­holt. Eine Ali­bi­übung ohne­glei­chen: Wie nur soll ein Mann wie unser Sitz­nach­bar inner­halb von 7 Tagen auf eigene Faust den Schen­gen­raum wie­der ver­las­sen? Warum sollte er das tun? Nach­dem er wäh­rend Wochen und Mona­ten sein Leben ris­kiert hat, auf der Suche nach einem siche­ren, bes­se­ren Leben?

Der Zug fährt durch die Nacht, aus dem Dun­kel taucht die hell beleuch­tete Kir­che von Was­sen auf. Samuel ist ein­ge­nickt, er ist sicht­lich erschöpft. Wäh­rend er schläft, besor­gen wir ihm im Restau­rant­wa­gen etwas zu essen und zu trin­ken. Kurz vor Arth-Goldau wecken wir ihn und über­rei­chen ihm Pro­vi­ant und etwas Geld. «God bless you» mur­melt er leise und ver­schlingt einen klei­nen Panet­tone. Dann errei­chen wir Arth-Goldau.

Zusam­men gehen wir zum Aus­gang, wo ich ihm den Weg durch die Unter­füh­rung aufs andere Per­ron zeige. Dort fährt in einer hal­ben Stunde der direkte Zug nach Basel, wo er dann mit­ten in der Nacht ankom­men wird. Ob das gut kommt? Eben noch haben wir ihm gut zuge­re­det, er sei stark und werde es nach Deutsch­land schaf­fen. Immer­hin hat er sich bereits von Sierra Leone bis hier­her durchgeschlagen…

Und doch habe ich ein schlech­tes Gewis­sen. In Zürich war­tet eine grosse, warme Woh­nung auf uns, wo es auch Platz hätte für einen Gast. Warum haben wir ihn nicht zu uns ein­ge­la­den? Oder ihm unser Feri­en­häus­chen am Bie­ler­see zur Ver­fü­gung gestellt? – Gedan­ken, die uns bei­den durch den Kopf gegan­gen sind. Wir haben sie schnell ver­drängt und uns mit den klei­nen Hil­fe­lei­stun­gen begnügt.

Mit einem ungu­ten Gefühl ver­ab­schiede ich mich von Samuel und schaue ihm nach, wie er in die kalte Nacht ver­schwin­det. Ein Mensch auf der Flucht, auf der Suche nach Schutz…

Koks und etwas Wärme

Sams­tag­abend im Advent: Mit dem Zug durch die Däm­me­rung nach Bern. Als wir ankom­men, ist es bereits Nacht. In den Stras­sen viel Volk. Auf dem Wai­sen­hausplatz Weih­nachts­markt — Gedränge, müpf und stüpf und keine Spur von Strom­spa­ren im Strah­len­meer. Jahr für Jahr die glei­chen Stände. Und immer noch einige dazu.

Die Palette reicht vom Weih­nachts­tand über Lecke­reien, Schnit­ze­reien, kul­ti­gen Schmuck bis hin zu edlen Musik­in­stru­men­ten. Ein üppi­ges Ange­bot – das mei­ste davon Dinge, die der Mensch für ein men­schen­wür­di­ges Leben eigent­lich nicht braucht. Ein Per­pe­tuum Mobile des Über­flus­ses. Kein Luxus, aber wie es auf Neu­deutsch heisst: Nice to have, nicht mehr. Weih­nach­ten, das Fest zwi­schen Black Fri­day und Ostern, funk­tio­niert nach wie vor als zuver­läs­si­ger Motor für den Kon­sum­rausch in der rei­chen Schweiz.

Vor dem Kon­zert ist noch Zeit für ein Apéro im Korn­haus, so der Plan. Natür­lich auch das Nice to have, nicht mehr. Seit unse­rem letz­ten Besuch hat sich dort eini­ges ver­än­dert. Das Inte­ri­eur ist zum Edel-Piz­za­lo­kal mutiert. Wir wagen uns nicht an die gedeck­ten Restau­rant-Tische, aber in der ange­glie­der­ten Vino­thek scheint es noch Platz zu haben.

Am Fen­ster steht in gros­sen Let­tern Più – ein wei­te­res Lokal in der Ber­ner Innen­stadt, das sich der Zür­cher Bin­della Kon­zern ein­ver­leibt hat. Ein Glas Rot­wein ist hier mit 15 Fran­ken oder mehr auf der Schie­fer­ta­fel bepreist. Im Glau­ben an ein Leben in beschei­de­ne­rem For­mat ver­las­sen wir das Lokal und fin­den vis-à-vis im guten alten Café des Pyre­nées, was wir suchen: Ein Glas Rioja zu einem ver­nünf­ti­gen Preis, und erst noch in leben­di­ger Gesellschaft…

Vor dem Ein­gang zur Fran­zö­si­schen Kir­che eine Frau, in einen Schal ein­ge­wickelt, mit einem Pla­stik­be­cher in der Hand. Die mei­sten Konzertbesucher:innen gehen unge­rührt an ihr vor­bei. Schliess­lich haben wir für unsere Tickets bezahlt, da bleibt kein Klein­geld für eine Bett­le­rin. Zumal hier­zu­lande – so die vor­herr­schende Mei­nung – man mit 10 Fran­ken pro Tag für Nah­rung, Klei­dung und Hygiene aus­rei­chend ver­sorgt ist und daher nie­mand bet­teln muss.

Was folgt ist eine Stunde Wohl­klang, ein vor­weih­nächt­li­ches Chor­kon­zert mit Wer­ken aus Europa und Latein­ame­rika. Als Höhe­punkt die Misa Criolla von Ariel Ramí­rez. Das Publi­kum reagiert mit Begei­ste­rung und applau­diert kräf­tig. Zwei Zuga­ben, dann wer­den wir in die kalte Nacht entlassen.

Die Frau im Schal steht immer noch da, bei Bis­wind und Null­g­rad­tem­pe­ra­tur. Weih­nachts­be­leuch­tung auf dem Weg zum Mün­ster. In der unte­ren Alt­stadt sit­zen einige Unver­dros­sene draus­sen vor dem Bild­schirm. Argen­ti­nien hat soeben das zweite Tor geschossen.

Wir spa­zie­ren zurück Rich­tung Bahn­hof. Die Buden des Weih­nachts­markts sind nun geschlos­sen, in den erleuch­te­ten Restau­rants und Bars teils gäh­nende Leere, andern­orts reger Betrieb.

Der Inter­city nach Zürich ist schon gut besetzt. Unten hat es noch freie Plätze.

Kurz nach­dem sich der Zug in Bewe­gung gesetzt hat, stol­pern zwei junge Män­ner in unse­ren Wagen und set­zen sich in die Reihe schräg hin­ter uns. Sie sind laut und sicht­bar ver­la­den. Zwei Pas­sa­giere, die schon vor uns da waren, ver­las­sen das Abteil, suchen sich ver­mut­lich einen ande­ren Platz, wei­ter vorne im Zug.

Die bei­den Jungs hin­ter uns reden unab­läs­sig auf­ein­an­der ein. Der Spra­che nach zu schlies­sen, kom­men sie aus dem ara­bi­schen Raum. Vor ihnen liegt ein Handy, Dis­play nach oben. Dar­auf streut der eine weis­ses Pul­ver, formt es zu einer Linie… Dann lau­tes Räus­pern – zuerst der eine, dann der andere.

Kurz vor Olten kommt der Kon­duk­teur. Die bei­den haben kein Bil­lett. Er ver­zieht das Gesicht und ver­langt: «Pass­port!» Auch mehr­ma­li­ges Wie­der­hol­den der For­de­rung nützt nichts. Natür­lich haben die bei­den kei­nen Aus­weis dabei. Also zieht der SBB-Mann zwei Zet­tel aus der Tasche und lässt sie Name und Adresse auf­schrei­ben. Der eine folgt dem Befehl, der andere schaut zu.

Der Kon­duk­teur kann die Schrift nicht lesen. «M – E– H – M – E – D, Meh­med», buch­sta­biert der junge Mann. Die Adresse lau­tet Centre Asyl in Lyss. «Wie lau­tet die Stras­sen­num­mer», will der SBB-Beamte wis­sen. Schulterzucken.

Wei­tere Fra­gen, nun wird klar: Die Zwei sind aus Tune­sien. Nach eini­gem Hin und Her gibt sich der Kon­duk­teur zufrie­den und zieht wei­ter. Die Zet­tel mit Namen und Adresse steckt er ein. Kaum ist er weg, gibt es eine wei­tere Linie Koks…

Die Jungs haben nichts zu ver­lie­ren. Wann und wie sie in die Schweiz gekom­men sind, mit wel­chen Hoff­nun­gen wis­sen wir nicht. Die bei­den sind schät­zungs­weise um die Zwan­zig. Ich stelle mir vor, wie sie als kleine Buben in der Sonne am Strand gespielt haben. In die­sem schö­nen Land, das unser­eins mit Tou­ris­mus lockt, wäh­rend seine Bevöl­ke­rung unter Repres­sion, Per­spek­ti­ven­lo­sig­keit und Armut lei­det. Tau­sende suchen des­halb ihr Glück im Aus­land – und fin­den oft nur Elend.

Fest steht: Wer aus Tune­sien kommt, hat in der Schweiz kaum Chance auf Asyl. Und wer im Bun­des­asyl­zen­trum in Lyss gestran­det ist, bekommt die Kälte in unse­rem Land von ihrer schlimm­sten Seite zu spü­ren. Sie blei­ben aus­ge­schlos­sen, im Wart­saal zur Aus­schaf­fung. Auch wir hal­ten Distanz. Ein­zig, als dem einen ein Feu­er­zeug run­ter­fällt, hel­fen wir beim Wie­der­fin­den. Die bei­den bedan­ken und ent­schul­di­gen sich über­schwäng­lich. Sie haben gelernt, dass sie hier nicht will­kom­men sind und die ein­hei­mi­schen Pas­sa­giere bes­ser nicht stören.

Egal. Irgend­wann ist alles egal, für jene, die nichts mehr zu ver­lie­ren haben. Mit Zwan­zig gestran­det in der rei­chen Schweiz, wo die Kälte durch Mark und Bein geht. Die Zug­fahrt von Bern nach Zürich bedeu­tet immer­hin eine Stunde ohne Frie­ren. Und der Koks wärmt die Seele. Ein wenig.

In Zürich stei­gen wir alle aus. Der Kon­duk­teur hat keine Poli­zei auf­ge­bo­ten. Gut so. Was wohl mit den auf­ge­nom­me­nen Per­so­na­lien geschieht? Viel­leicht trifft er sie ja wie­der, auf ihrem Rück­weg ins Asyl­zen­trum. In einem näch­sten Inter­city, der ohne Halt von Zürich nach Bern fährt, wes­halb er keine Mög­lich­keit hat, zwei Sans Papiers ohne Bil­lett unter­wegs der Poli­zei zu übergeben…

Am näch­sten Tag beim Sonn­tags­brunch in der war­men Stube die Frage: Wo sind die Tune­sier gestern noch hin? Wie haben sie die Nacht ver­bracht, wie geht es ihnen heute Morgen?

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