Beim Einchecken am Flughafen in Zürich schaut mich der junge Mann am Desk fragend an: «Juba, wo ist denn das?» Auf meine Antwort, im Südsudan, hakt er erstaunt nach: «Warum will man dorthin?» – Gute Frage, angesichts der erschreckenden News, die uns von dort regelmässig erreichen.
Im Norden des Südsudans jedoch ist es ruhig. Seit dem Friedensabkommen 2005 sind viele Flüchtlinge aus dem Sudan hierher zurückgekehrt und versuchen, sich in ihrer alten Heimat ein neues Leben aufzubauen. Eine riesige Herausforderung: Die Lebensbedingungen sind schwierig. Auch für jene, die nie weg waren. Das Klima eine Herausforderung, wenig Infrastruktur, keine Jobs, grosse Armut.
Anlässlich meiner Reisevorbereitungen für eine Auswertungs-Mission hatte man mir verschiedentlich erklärt, die Armut im Südsudan komme nicht von ungefähr. Die Leute seien durch die immer wiederkehrenden Kriege nicht nur traumatisiert, sondern auch verdorben. Sie wollten nicht arbeiten, hätten zu lange als Flüchtlinge gelebt und sich angewöhnt, für alles und jedes die hohle Hand hinzuhalten. Und wüssten nicht mehr, wie man Landwirtschaft betreibt.
Jetzt bin ich seit einer Woche in Aweil – ganz im Norden des Landes. Eine afrikanische Kleinstadt mit wenig Verkehr. Benzin und Diesel sind teuer – sehr teuer. Der Preis habe sich übers Wochenende verdreifacht, erzählt mein Guide. Wer es sich leisten kann, kauft deziliterweise etwas Treibstoff für’s Motorrad, für den Generator oder die elektrische Wasserpumpe.
Auf dem Markt findet man praktisch alles, was es fürs tägliche Leben braucht. Die Waren werden aus dem Sudan importiert. Sie gelangen illegal über die grüne Grenze via Darfur nach Aweil. Die grossen, schwer beladenen Lastwagen sind tage‑, manchmal wochenlang unterwegs und bringen sogar Eier. Davon gehe unterwegs auf den schlechten Strassen die Hälfte kaputt, erzählt der Händler. Er hat auch sudanesische Kartoffeln, Äpfel, Zwiebeln und Knoblauch im Angebot.
Für die meisten Menschen hier ist das Luxus. Das wenige Geld, das sie haben, brauchen sie, um Grundnahrungsmittel wie Hirse oder Mais zuzukaufen. Deren Preise haben sich in den letzten Monaten vervielfacht, die Inflation ist enorm.
Lokal produziert wird wenig: Etwas Hirse und Mais, allerdings nicht ausreichend für die Selbstversorgung. Am Strassenrand im Zentrum von Aweil verkaufen Frauen zudem Gemüse und Tomaten von Kleinbauern aus der Region. Sie stammen von dne Äckern am Stadtrand, deren frisches Grün sich von der braun-trockenen Umgebung abhebt.
Die Bauern bewässern ihre Felder mit Grundwasser, das hier nur drei Meter unter der Erdoberfläche liegt. Mit kleinen ratternden Pumpen wird das kostbare Nass aus der Tiefe geholt. Dank der Bewässerung gedeihen hier auch während der Trockenzeit Tomaten, Okra und andere Gemüse. Soweit das Auge reicht: Menschen am Hacken, Graben, Ernten.
Als wir auf einem schmalen Weg einem Tomatenfeld entlanggehen, spricht uns ein Teenager an. Wir kommen ins Gespräch – der Vater stösst dazu. Der junge Mann übersetzt und erklärt. Er spricht gut Englisch und wir freuen uns, eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben.
Die frisch geernteten Tomaten liegen zu unseren Füssen – ein paar wunderschöne Früchte, viele sind aber angefressen. Kaninchen, erklärt der junge Mann. Andere haben braune Flecken. Die Tomaten würden auch nicht mehr so gross, wie am Anfang, klagt der Vater. Zudem greife ein kleines Insekt die Pflanzen an. Nicht nur die Tomaten, auch die Okra-Ernte sei gefährdet.
Hier gebe es keine Insektizide, das sei das Problem, sagen die Männer. Der Vater simuliert das Besprühen mit Insektiziden und Mundschutz. Das habe er im Sudan gelernt, wo er lange Jahre als Flüchtling gelebt hat.
Während wir uns unterhalten sortiert ein kleiner Bub die Ernte. Mit sicherer Hand trennt er die guten von den schlechten Tomaten. Jemand bringt einen Sack. Unser Gesprächspartner sucht die schönsten Tomaten und legt sie hinein. Die seien für mich, sagt er. Ich will nach dem Geld greifen – er lacht und sagt: «No money!» und mein Guide ergänzt: «Die Tomaten sind ein Geschenk – das ist unsere Kultur!»
Prostitution
Das ehemalige Elektrizitätswerk Selnau in Zürich – ein toller Raum, um Kunst zu geniessen! Und genau die richtige Kulisse für die überwältigenden Porträtbilder, mit denen die US-Fotografin Annie Leibovitz berühmt geworden ist. Entsprechend gross war die Vorfreude auf die jüngste Ausstellung.
Angekündigt war die Fortsetzung der eindrücklichen Porträt-Serie, die Annie Leibovitz zusammen mit der Essayistin Susan Sontag vor bald 20 Jahren lanciert hatte: Unter dem Arbeitstitel «Women» porträtierten sie um die Jahrtausendwende ein breites Spektrum unterschiedlichster Frauen: Bäuerinnen, Tennisstars, Filmschauspielerinnen, eine Astronautin, Bergarbeiterinnen, eine First Lady…
Die Frauenporträts von Annie Leibovitz haben einen unverkennbaren Stil. Es sind Bilder, die eine eigene Aura ausstrahlen, den Porträtierten Würde und einen Hauch von Glamour verleihen. Bilder, in die man sich vertiefen kann, auf denen man immer wieder Neues entdeckt. Fotografien, die man sich gerne im Grossformat ansieht und die sich bestens eignen für die Präsentation in einem Raum wie dem ewz Unterwerk Selnau.
Ein Bild, mit dem für die Ausstellung geworben wird: Die Williams-Schwestern – eng umschlungen, in eindrücklicher Pose. Dieses und andere Bilder dieses Kalibers in Grossformat – darauf freuten wir uns!
«Women: New Portraits» – verspricht das Transparent über dem Eingang zum ewz Selnau. Dazu das Logo einer Grossbank… Ein freundlicher Securitas-Mann öffnet uns die Tür, wir treten vom gleissenden Sonnnenlicht in die Halle. Eintritt und Ausstellungskatalog sind gratis. Ein schönes Kulturgeschenk, ungewohnt für die Stadt Zürich!
Doch das böse Erwachen folgt sogleich: Wo sind die überwältigenden, eindrücklichen Porträtbilder, auf die wir uns gefreut haben? – Unsere Augen gewöhnen sich schnell an die Dämmerstimmung – und erblicken eine Gruppe von rund dreissig Menschen, auf Klappstühlen sitzend und gebannt auf eine grosse Wand starrend, die mitten im Raum steht.
Bei genauem Hinsehen entpuppt sich die Wand als einer von drei grossformatigen Screens, die aus je sechs kleineren Bildschirmen zusammengesetzt sind. Darin spiegeln sich vor allem die Oberlichter der Halle durch, die das helle Tageslicht in den Raum fliesst.
Erst nach einigem Zirkeln findet man den richtigen Winkel um die Projektionen zu erkennen: Da werden einem in vorgegebenem Rhythmus Porträtfotos von Frauen präsentiert. Die Bilder zerschnitten, durch die dicken schwarzen Ränder der Bildschirme. Unerträglich! Mein Begleiter verlässt die Ausstellung fluchtartig, sofort.
Ich mag nicht so schnell aufgeben: Immerhin gibt es noch eine Stellwand, wo aufgereiht Porträt neben Porträt hinter Plexiglas der Entdeckung warten. Das Problem: Will man diese kleinformatigen Bilder betrachtet, muss man über die Beine der anderen AusstellungsbesucherInnen steigen. Die Kopien sind so klein und im Halbdunkel, dass die Fotos nicht zur Geltung kommen.
Nach einem weiteren verzweifelten Versuch, das eine oder andere Bild in Ruhe zu betrachten, gebe auch ich bald auf. Und verlasse die Halle ebenfalls im Eiltempo. Enttäuscht, verstört.
Die anschliessende Internetrecherche bringt Aufschluss: Die neue Women-Serie, inklusive der Wanderausstellung in zehn Städten weltweit, wurde voll und ganz von der UBS finanziert. Sie ist Teil einer Kampagne, welche die Grossbank 2015 lanciert hatte, um ihr Image aufzupolieren. Die Bilder der Kampagne stammen – wen wundert’s – von Annie Leibovitz. Dies offenbar der Deal zwischen der Fotografin und der Grossbank.
Und plötzlich erscheinen die «Women: New Portraits» in einem ganz anderen Licht: Egal, wie die Bilder aussehen, egal wie sie ausgestellt sind und wie sehr Frauenpower im Ausstellungskatalog und in den Medien herbeigeredet und –geschrieben wird: Hier geht es weder um Kunst, noch um Fotografie oder das Selbstbewusstsein der Frauen. Sondern einzig und allein darum, dass sich ein Finanzinstitut einen grossen Namen kauft, um sich in seinem Glanz zu sonnen.
Von Kunst und Fotografie haben die Banker keine Ahnung und begnügen sich mit einer Drittklass-Ausstellung. Das promi-hungrige Publikum wird gewiss durch das prominente Namedropping geblendet sein, werden sie gedacht haben.
Und Frau Leibovitz, hat sie auch etwas gedacht? Oder einfach ihre schmale Geldbörse gefüttert? Fest steht: Mit ihrer Prostitution hat sich die Fotografin nicht nur selber diskreditiert. Was viel schlimmer ist: Sie hat die Frauen, die sie porträtiert, letztlich missbraucht. Und so das ursprüngliche Projekt «Women» ad absurdum geführt.
Vollmond über Juba
Wir sitzen an einem langen Holztisch unter lauschigen Ästen. Vor uns träge der Fluss, ein altes Schiffswrack ragt aus dem braunen Wasser. Jugendliche bespritzen sich gegenseitig und geniessen das Bad in vollen Zügen, ein Fischerboot tuckert vorbei.
Die Sonne steht bereits tief – romantische Feierabendstimmung am weissen Nil. Rundum füllen sich die Bänke, vorwiegend mit Weissen. Die Habitués grüssen nach links und nach rechts. Man kennt sich und kommt bei Bier und Zigaretten schnell ins Gespräch.
Einzig die Schilder an den Bäumen, die darauf hinweisen, dass Fotografieren streng verboten ist, erinnern daran, dass wir uns hier in einer Hochsicherheitszone befinden: Bevor wir Zugang zum Parkplatz des Restaurants erhielten, mussten wir zwei Sicherheitsschleusen passieren. Unser Geländewagen wurde rundum gecheckt.
Meine Tischnachbarin arbeitet seit bald zwei Jahren in Juba. Sie ist Botschaftsangestellte und zuständig für die Hilfsprojekte ihrer Regierung im Südsudan. Als sie hört, dass wir am Vorabend aus dem Norden zurückgekommen sind, löchert sie uns mit Fragen. Alles will sie wissen und noch mehr:
Wie leben die Menschen in Aweil? Was kann man auf dem Markt kaufen? Wie steht es um die Gesundheitsversorgung? Das Wasser, die Ernährungssituation – was haben die Leute erzählt, über ihre Religion, die Traditionen – ihre Hoffnungen und Ängste?
Entschuldigend fügt sie hinzu: «Ich bin seit einem halben Jahr nicht mehr «im Feld» gewesen und weiss eigentlich kaum etwas über die Menschen, denen wir mit unseren Projekten helfen wollen.» Deshalb sauge sie auf, soviel sie könne, wenn sie jemandem begegne, der ausserhalb der Hauptstadt war.
Fakt ist: Nicht einmal in Juba kommen die internationalen Helferinnen und Helfer wirklich in Kontakt mit den Einheimischen. Aus Sicherheitsgründen bewegen sie sich ausserhalb ihrer mit Stacheldraht gesicherten und bewachten Compounds nur im Geländewagen. Sie kaufen in ausgewählten Supermärkten ein und verkehren in einigen wenigen, als «sicher» klassifizierten Restaurants.
Aber auch sonst beschränkt sich ihr Kontakt zu Südsudanesinnen und Südsudanesen auf ein Minimum: Die internationale Gemeinschaft hat beschlossen, dass man mit dem Unrechtsregime von Präsident Salva Kiir Mayardit nichts zu tun haben will. Die meisten Hilfseinsätze werden deshalb ohne Einbezug der südsudanesischen Politik oder Verwaltung geplant und durchgeführt.
Wie man unter diesen Voraussetzungen in einem Land arbeiten könne, frage ich meine Tischnachbarin. Sie schüttelt resigniert den Kopf und sagt: «Es ist schon eine eigenartige Stimmung – wir bleiben unter uns, und reden mit uns selber…»
Gerne hätte ich mehr erfahren. Doch plötzlich heisst es Aufbrechen – es ist kurz vor Sieben. Noch ein paar Minuten, dann ist Ausgangssperre für die meisten Expats: Um sieben Uhr müssen alle hinter den Mauern des eigenen Compounds «in Sicherheit» sein.
Also eilen wir zum Auto. Sanft breitet sich die Dämmerung über die Stadt. Während wir durch holprige und staubige Strassen fahren, geht über den Dächern der Vollmond auf. Gross, verheissungsvoll – und unwirklich schön.