Die Kundin ist Königin – das war einmal

Frü­her Nach­mit­tag, Bahn­hof Oer­li­kon im Unter­ge­schoss. Men­schen ste­hen und sit­zen im hell erleuch­te­ten Raum. Ihr Blick wan­dert von der digi­ta­len Anzei­ge­ta­fel zum Zet­tel in der Hand und wei­ter zur Uhr, wo der Zei­ger uner­bitt­lich vorrückt.

Schlange ste­hen am Schal­ter ist längst passé. Wer heute bedient wer­den will, muss ein Nüm­mer­chen zie­hen und kann ent­spannt war­ten, bis er an der Reihe ist. Kein Ell­bö­geln, keine Sorge, ob die gewählte Schlange die rich­tige, sprich schnell­ste ist, weil man davon aus­ge­hen kann, dass alles seine Ord­nung hat und eine unsicht­bare, höhere Instanz für Gerech­tig­keit sorgt.

Mit der Ent­span­nung im SBB-Ser­vice-Cen­ter ist es aller­dings schnell vor­bei. Denn je nach Dienst­lei­stung, die man bean­spru­chen will, wird man in eine Kate­go­rie ein­ge­teilt. Ich bin gekom­men, weil ich mein Gepäck abho­len will, andere wol­len Aus­land­rei­sen buchen, Abon­ne­mente bestel­len, sich bera­ten las­sen… Wann wer aus wel­cher Kate­go­rie auf­ge­ru­fen wird, bleibt schleierhaft.

Fest steht: Für alle dau­ert es eine Ewig­keit. Kein Wun­der: Die Hälfte der Schal­ter ist nicht besetzt. Eine Beam­tin ist damit beschäf­tigt, die war­ten­den Leute zu fra­gen, was sie für ein Anlie­gen hät­ten, um sicher zu gehen, dass sie die rich­tige Kate­go­rien­num­mer gezo­gen haben.

Die Frau neben mir blickt immer ner­vö­ser auf die Uhr, wir kom­men ins Gespräch: Sie ist in ihrer Mit­tags­pause extra her­ge­reist, weil es am Bahn­hof ihres Wohn- und Arbeits­orts nur noch einen Auto­ma­ten gibt. Die­ser hat ein fal­sches Ticket aus­ge­spuckt, das nur noch am Aus­ga­be­tag gül­tig ist – statt wie frü­her über län­gere Zeit. Des­halb musste sie nun nach Oer­li­kon kom­men, wo sie hofft, dass der Schal­ter­be­amte ihr Pro­blem lösen und die Fahr­karte umschrei­ben kann.

Über eine halbe Stunde war­tet sie schon – wenn sie die näch­ste S‑Bahn ver­passt, kommt sie zu spät zur Arbeit… Als die Num­mern­an­zeige wei­ter­hin keine Anstal­ten macht sich zu bewe­gen, ver­ab­schie­det sich meine Lei­dens­ge­nos­sin und eilt unver­rich­te­ter Dinge davon. Ich gebe nicht auf und nach wei­te­rem zer­mür­ben­dem War­ten kann ich mein Gepäck in Emp­fang nehmen.

Welch ein Glück ich habe, weiss ich aller­dings erst seit die­ser Woche: Ab dem 5. Juni haben die SBB den Gepäck­trans­port von Bahn­hof zu Bahn­hof mas­siv redu­ziert. Wurde die­ser Ser­vice bis anhin an rund 400 Bahn­hö­fen ange­bo­ten, sind es neu­er­dings nur noch deren 260. Wäh­rend man sein Gepäck etwa nicht mehr nach Schwyz, Glatt­brugg oder Cham schicken kann, bie­tet mein Bahn­hof diese frü­her selbst­ver­ständ­li­che Dienst­lei­stung (vor­läu­fig?) noch an.

Aber nicht genug des Abbaus. Auch das lange Zeit ange­prie­sene Check-in von Flug­ge­päck am Bahn­hof wurde dra­stisch zurück­ge­fah­ren. Das direkte Ein­checken am Bahn­hof wird vie­ler­orts nicht mehr ange­bo­ten und dort, wo es noch mög­lich ist, müs­sen die Bahn­kun­den deut­lich mehr bezah­len als vor­her. Gleich­zei­tig wird es immer schwie­ri­ger, in den moder­nen engen SBB-Zügen Gepäck zu transportieren…

Zuge­ge­ben. Hier­zu­lande kla­gen wir auf hohem Niveau. Gerade, wenn es um den öffent­li­chen Ver­kehr geht. Trotz­dem ist es an der Zeit, sich laut zu fra­gen, wohin die Ent­wick­lung gehen soll. Wie­viel Abbau wir in Kauf neh­men müs­sen, wie die Prio­ri­tä­ten zu set­zen sind.

Immer­hin sind die SBB nach wie vor ein Ser­vice public, dem die Kun­dIn­nen­zu­frie­den­heit wich­tig sein müsste. Dies zumin­dest war im vor-dere­gu­lier­ten Zeit­al­ter unbe­strit­ten der Fall. Nicht zuletzt, um die Men­schen zum Umstei­gen vom Auto auf den öffent­li­chen Ver­kehr zu bewe­gen. Und heute? – Der Kunde, die Kun­din als Bett­le­rIn von SBB-Mey­ers Gnaden?

Frau O.

Kürz­lich in Ber­lin waren wir wie­der ein­mal bei Frau O. Jahre hat­ten wir sie nicht mehr besucht, wäh­rend eini­ger Zeit war der Kon­takt ganz abge­bro­chen. Umso mehr freu­ten wir uns. Gleich­zei­tig sahen wir dem geplan­ten Besuch mit etwas Bange entgegen.

Seit über einem Jahr habe Frau O. ihre Woh­nung im zwei­ten Stock nicht mehr ver­las­sen, hatte uns eine ehe­ma­lige Nach­ba­rin erzählt, die ab und zu vor­bei­schaut. Beim letz­ten Mal habe sie ihr den Müll von sechs Mona­ten in die Abfall­con­tai­ner im Hof getra­gen, weil sich Frau O. nicht mehr hin­aus getraue. Sie sei sehr ein­sam und bräuchte eigent­lich regel­mäs­sige Betreuung…

Frau O. ist 91 Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuss. Sie öff­net auch nicht mehr jedem die Tür. Am Tele­fon hat sie mir erzählt, wie zwei Trick­be­trü­ge­rin­nen bei ihr geklin­gelt und um Notiz­pa­pier gebe­ten hät­ten. Wäh­rend Frau O. das Gewünschte holte, steck­ten die Die­bin­nen blitz­schnell ein, was sie packen konnten.

Ohne Vor­anmel­dung lässt Frau O. des­halb nie­man­den mehr ins Haus und schon gar nicht in ihre Woh­nung. Auch nimmt sie nicht alle Anrufe ent­ge­gen. Als ich sie die­ses Früh­jahr zum ersten Mal nach lan­ger Zeit wie­der ein­mal anrief, musste ich lange klin­geln las­sen. Schliess­lich mel­dete sich am ande­ren Ende aber die alt­ge­wohnte fröh­li­che Stimme: «Als ich sah, dass die Num­mer mit zwei Nul­len anfängt, sagte ich mir: Ein Anruf aus dem Aus­land! Den musst du nehmen…»

Ihre Stimme tönt mun­ter und leben­dig, wie eh und je. Allein sie zu hören ist wohl­tu­end, ihre Hei­ter­keit ansteckend. Schon erzählt sie die erste Geschichte, die einen rein­zieht, fes­selt. Man spürt: Der Anruf ist eine will­kom­mene Abwechs­lung. Ihr Mann ist vor Jah­ren gestor­ben. Als wir sie ken­nen lern­ten, wohnte sie lange Jahre in einer Sied­lung mit­ten in Ber­lin, wo sie in einer leben­di­gen Nach­bar­schaft bestens inte­griert war.

Dann der grosse Schock: Die Sied­lung war an einen Inve­stor ver­kauft wor­den, der die erst 20 Jahre vor­her neu gebau­ten Miet­woh­nun­gen platt­ma­chen und am glei­chen Ort ein gros­ses Ren­di­te­ob­jekt hoch­zie­hen wollte. Eine Hand­voll Mie­te­rIn­nen – unter ihnen Frau O. – kämpfte um den Erhalt der Lie­gen­schaf­ten. Ver­geb­lich. Schliess­lich musste Frau O. schwe­ren Her­zens eine neue Bleibe suchen. Fast ein Ding der Unmög­lich­keit für eine allein­ste­hende über 80jährige Frau, die nicht mit Reich­tum geseg­net ist.

Schliess­lich hatte sie Glück im Unglück und fand eine schöne Woh­nung ganz in der Nähe. Dort wollte sie zusam­men mit einer alten Freun­din ein­zie­hen, um gemein­sam zu zweit den Lebens­abend zu ver­brin­gen. Kurz vor dem Umzug aber starb die Freun­din, und Frau O. blieb alleine mit der gross­zü­gi­gen, aber für ihre Ver­hält­nisse zu teu­ren Mietwohnung.

Ein wei­te­rer schwe­rer Schick­sals­schlag, von denen Frau O. in ihrem lan­gen Leben unglaub­lich viele erlebt hat. Wenn sie davon erzählt, ahnt man den Schmerz. Ein kur­zes, lei­ses Inne­hal­ten – und schon haben Frau O.’s Opti­mis­mus und Lebens­lust wie­der Ober­hand. «Gleich nach­dem ich ein­ge­zo­gen bin, haben sie mir die Miete noch ein­mal erhöht», erzählt sie und fährt fort: «Ich habe mir dann gesagt: Du lebst nicht mehr so lange – also legst du jeden Monat etwas aus der Abfin­dung, die du für den Aus­zug aus der alten Woh­nung erhal­ten hast hinzu.» Das gehe aller­dings nun schon sechs Jahre so – das Gut­ha­ben schmilzt dahin. Nie hätte sie gedacht, dass sie noch so lange leben würde, sagt Frau O. und lacht.

Ihre Woh­nung ist, wie die frü­here, aus dem Ei gepellt. Jedes Ding an sei­nem Platz, alles auf Hoch­glanz poliert und lie­be­voll ein­ge­rich­tet. Schnell sind unsere anfäng­li­chen Beden­ken zer­streut. Doch Frau O. ist allein und ein­sam – keine Frage. Auch wenn von ihr kein Wort der Klage kommt.

Im Wohn­zim­mer wer­den wir aufs Sofa diri­giert – die Fau­teuils seien so durch­ge­ses­sen, da dulde sie keine Besu­cher, meint Frau O. – und setzt sich sel­ber hin­ein. Um eine wei­tere Geschichte zu erzäh­len. Kaum fällt unse­rer­seits ein Stich­wort, sind wir schon bei der näch­sten. So plau­dern wir uns einen Nach­mit­tag lang durch Gegen­wart und Vergangenheit.

Sie ist eine Kämp­fe­rin und weiss sich zu hel­fen. Ein Bei­spiel sind die Ein­käufe, da sie ja nicht mehr sel­ber in die Läden kann: Alle sechs bis sie­ben Wochen gibt Frau O. beim EDEKA-Haus­lie­fer­dienst eine Bestel­lung auf. Da sie kein Inter­net hat, war das gar nicht so ein­fach. Erst nach lan­gem Her­um­te­le­fo­nie­ren und Ver­han­deln mit unzäh­li­gen Läden fand sie bei EDEKA einen Fili­al­lei­ter, der sich fle­xi­bel zeigte und nun für Frau O. eine Aus­nahme macht: Sie darf ihre Ware tele­fo­nisch bestel­len und kriegt sie am näch­sten Tag geliefert.

Nicht immer sei alles Bestellte dabei, und oft erhalte sie Dinge, die sie gar nicht auf der Liste gehabt hätte, erzählt Frau O. Aber das sei nicht so schlimm: Schliess­lich müss­ten die Ver­käu­fe­rin­nen am Tele­fon mit­schrei­ben, was sie dik­tiere – und da könne es schon ab und an zu Miss­ver­ständ­nis­sen kom­men. «Ich sage dann nichts und will die jun­gen Frauen, die sich so Mühe geben, nicht noch anschwär­zen», sagt sie mit ihrem war­men Lachen.

Bei Pro­secco und selbst­ge­backe­nem Kuchen ver­geht die Zeit viel zu schnell. Beim Abschied ver­spre­che ich, bald ein­mal anzu­ru­fen. Und frage, wann es ihr am lieb­sten wäre. Dar­auf erwi­dert Frau O. nur mit ihrem bewähr­ten Lächeln: «Jede Zeit ist mir recht – auch mor­gens um Vier. Da sitze ich näm­lich auf dem Sofa, warte auf den Schlaf – und schaue mir die span­nend­sten Doku­men­tar­filme an.»

Zerstörerischer Bauboom

Die nega­ti­ven Schlag­zei­len aus der Bau­in­du­strie reis­sen nicht ab. Für Schlag­zei­len sorg­ten in den letz­ten Wochen nebst Fir­men­plei­ten vor allem die Kar­tell­ge­schichte aus Grau­bün­den sowie als jüng­ste und schlimm­ste Hiobs­bot­schaft, die ange­kün­digte Auf­he­bung der Früh­pen­sio­nie­rungs­op­tion für Bau­ar­bei­ter. Man könne es sich nicht mehr lei­sten, heisst es, Bau­ar­bei­tern mit 60 den gesi­cher­ten Ruhe­stand zu ermöglichen.

Wer auf dem Bau arbei­tet, hat einen Kno­chen­job, der an die Sub­stanz geht. Die Lebens­er­war­tung eines Bau­ar­bei­ters in der Schweiz liegt 4,4 Jahre unter dem Durch­schnitt. Laut Sta­ti­stik sind 43% bereits vor Errei­chen des Pen­si­ons­al­ters nicht mehr arbeits­fä­hig. Die Bela­stung der Arbei­ter auf dem Bau ist enorm, und der Druck nimmt lau­fend zu: Lie­gen­schaf­ten müs­sen immer schnel­ler hoch‑, Tief­bau­ar­bei­ten immer schnel­ler durch­ge­zo­gen werden.

Auf Zür­cher Bau­stel­len etwa gehört es heute wie­der zum Cou­rant nor­mal, dass auch sams­tags gear­bei­tet wird. Flut­licht sei Dank, beginnt der Arbeits­tag auf dem Bau auch im Win­ter spä­te­stens um Sie­ben in der Früh. Obschon heute viele Maschi­nen im Ein­satz sind, bleibt viel schwere kör­per­li­che Arbeit zu ver­rich­ten, die der Gesund­heit schadet.

Zwangs­pau­sen wie einst, als bei Schnee und Eis die Bau­tä­tig­keit ruhte, gibt es kaum mehr. Zumin­dest nicht im Mit­tel­land: Beton und Asphalt wur­den che­misch soweit auf­ge­mischt, dass ihre Ver­ar­bei­tung auch bei unwirt­lich­sten Rah­men­be­din­gun­gen noch mög­lich ist.

So brau­chen die Bau­un­ter­neh­mer die Arbeits­lo­sen­kasse zur Über­brückung der Win­ter­mo­nate nicht mehr regel­mäs­sig anzu­zap­fen, wie das lange Zeit gang und gäbe war. Ein Gewinn für die Unter­neh­mer wie für die Kasse. Ein­zig die Arbei­ter müs­sen nun auch bei Schnee und Kälte ihre ohne­hin schwere Arbeit verrichten.

Dass man nach 10 Jah­ren den Bau­ar­bei­tern die Mög­lich­keit zur Pen­sio­nie­rung mit 60 wie­der neh­men will, ist vor die­sem Hin­ter­grund blan­ker Hohn. Ein wei­te­rer Puz­zle­stein in der aktu­el­len Geschichte des Sozi­al­ab­baus. Umso stos­sen­der, als in der Bau­bran­che seit Jah­ren ein Preis­kampf ohne­glei­chen betrie­ben wird.

Immer mehr, immer schnel­ler, immer bil­li­ger heisst der Leit­satz. Was dabei auf der Strecke bleibt sind die Arbei­ter – und die Qua­li­tät. Letz­te­res ist (zumin­dest für die Bau­un­ter­neh­mer) nicht so schlimm, denn Nach­bes­sern, Repa­rie­ren und Erset­zen bringt neue Aufträge.

Was aber in der rei­chen Schweiz gar nicht tole­riert wer­den darf, ist das Spa­ren auf dem Buckel der­je­ni­gen, die Tag für Tag ihre Gesund­heit aufs Spiel set­zen, um den Bau­boom am Lau­fen zu halten.

Höhere Preise in der Bau­bran­che wür­den nie­man­dem scha­den – im Gegen­teil: Längst wird in der Schweiz zuviel und zu schnell gebaut. Über lange Jahre hat die Bau­wirt­schaft Über­ka­pa­zi­tä­ten geschaf­fen, mit denen sie sich und allen ande­ren scha­det. Was wir brau­chen sind weder Kar­telle, die sich sel­ber in die Tasche wirt­schaf­ten noch eine rui­nöse Konkurrenz.

Drin­gend nötig wäre die För­de­rung von Bau­mei­stern mit gesun­dem Men­schen­ver­stand. Die auf Qua­li­tät set­zen. Das kostet. Des­halb führt auch hier die Poli­tik der Ver­gabe von Auf­trä­gen an den Bil­lig­sten in die Sack­gasse. Geiz ist geil und blöd.

Wie wäre es, wenn Bau­herr­schaf­ten auf andere Kri­te­rien set­zen wür­den? Etwa höch­ste Qua­li­tät, Dau­er­haf­tig­keit von Bau­ten oder – und vor allem: Soziale Arbeits­be­din­gun­gen für jene, die unsere Häu­ser und Stras­sen bauen. Ohne Wenn und Aber.

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