Offener Brief an Blick-Chefredaktor A.D.:

Lie­ber Andreas

Jahre ist es her, seit wir beide als freie Mit­ar­bei­tende beim «Bund» die ersten Jour­na­lis­mus-Spo­ren abver­dient und uns gemein­sam in der Gewerk­schaft enga­giert haben.

Heute bist du Blick-Chef­re­dak­tor – und somit quasi der Bou­le­vard-Diri­gent in die­sem Land.

Der Bou­le­vard-Jour­na­lis­mus hat seine eige­nen Regeln. Du beherrschst und bedienst sie genauso sou­ve­rän, wie du das mit allen ande­ren jour­na­li­sti­schen For­ma­ten zu tun pflegtest.

In Kri­sen­zei­ten, wie wir sie aktu­ell erle­ben, spie­len die Medien eine zen­trale Rolle. Natür­lich ver­stehe ich, dass man da beim Blick die Gunst der Stunde nutzt – und dem Klicks gene­rie­ren­den Kam­pa­gnen­jour­na­lis­mus frönt.

Da wird Panik geschürt, wo Fak­ten und Mäs­si­gung Not täten. Was macht der Kam­pa­gnen­jour­na­lis­mus?: Er pro­du­ziert innert Tagen aus eini­gen lee­ren WC-Papier­re­ga­len einen natio­na­len WC-Papier­not­stand. Bravo! Infor­ma­ti­ons­wert: kei­ner. Mas­sen­hy­ste­rie: wie beabsichtigt.

Da wer­den Bevöl­ke­rungs­grup­pen gegen­ein­an­der auf­ge­hetzt, wo drin­gend Soli­da­ri­tät ange­sagt ist: Eure aktu­elle Kam­pa­gne gegen die Gene­ra­tion 65+ ist schlicht unverantwortlich!

Wenn das Bou­le­vard­me­dium Blick meint, als Tät­sch­mei­ster der Nation auf­tre­ten zu müs­sen, ist das eine kom­plette Fehl­ein­schät­zung sei­ner Funktion.

Statt poli­ti­sche Schnell­schüsse, wie das Aus­geh­ver­bot für über 65jährige im Kan­ton Uri, kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, wird vom BLICK Stim­mung gemacht, auf dass man die Mit­sech­zi­ger und auf­wärts lan­des­weit weg­sper­ren solle.

Was soll das?

Weil ich dich als hel­len, wachen Kopf in Erin­ne­rung habe, hier mein ein­dring­li­cher Appell: Hal­tet euch an die Fak­ten. Hin­ter­fragt das Geschrei nach Aus­gangs­sperre, anstatt es wei­ter zu schü­ren – und zeigt zum Bei­spiel auch und vor allem, wie sich die grosse Mehr­heit in die­sem Land abso­lut ver­nünf­tig verhält.

Ich weiss, das ist in «nor­ma­len Zei­ten» kein Stoff für ein Boulevardblatt.

Aber auch ihr tragt Verantwortung.

Danke für Euer Ein­se­hen – deine Ex-Kollegin

Gabriela Neu­haus


Nach­trag vom 22.10.2020

BLICK: Diet­rich gibt nicht auf. Klo­pa­pier sells (29. März 2021):

Wie­der unter sei­ner Ver­ant­wor­tung (7.12.2021):

und schon wieder:

Ceterum cen­seo. 

Humanitäre Schweiz – ein Auslaufmodell?

Aus der tür­kisch-grie­chi­schen Grenz­re­gion errei­chen uns erschüt­ternde Mel­dun­gen über den Ein­satz von schar­fer Muni­tion und aggres­si­vem Trä­nen­gas gegen ver­zwei­felte Men­schen. Bil­der zei­gen, wie Flüch­tende in ihren klei­nen Boo­ten aufs offene Meer zurück­ge­stos­sen werden.

Das Timing hätte per­fek­ter nicht sein kön­nen: Just in der Woche, als die «Festung Europa» ein­mal mehr auf bru­tal­ste Art und Weise gegen Men­schen auf der Flucht mobil macht, erscheint das neue DEZA-Maga­zin «Eine Welt».

Auf dem Cover zwei Grenz­wäch­ter in gel­ber Weste, die einen Güter­zug nach ver­steck­ten Flücht­lin­gen absu­chen. Dazu in gros­sen Let­tern der Titel «Sicher­heit in Ost­eu­ropa. Wich­tig für Europa, wich­tig für die Schweiz».

Wohl­ge­merkt, bei «Eine Welt» han­delt es sich um eine Publi­ka­tion der Direk­tion für Ent­wick­lung und Zusam­men­ar­beit, auf deren Web­site steht: «Eine Welt ohne Armut und in Frie­den, für eine nach­hal­tige Ent­wick­lung: Das ist das Ziel der IZA der Schweiz, wel­che ein fester Bestand­teil der Aus­sen­po­li­tik des Bun­des­rats ist.»

Schwei­zer Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit als Enga­ge­ment im Kampf gegen Armut, die Men­schen in pre­kä­ren Situa­tio­nen hilft und für die Schwa­chen Par­tei ergreift. Aus­ga­ben für Not­lei­dende, ohne dass die rei­che Schweiz direkt pro­fi­tiert – das war ein­mal. Seit Igna­zio Cas­sis Aus­sen­mi­ni­ster ist, gilt auch bei der Deza die unmiss­ver­ständ­li­che Devise: «Switz­er­land first».

Getreu die­sem Leit­spruch pro­pa­giert das aktu­elle Deza-Maga­zin auf nicht weni­ger als 14 Sei­ten den Ein­satz von Ent­wick­lungs­gel­dern für Sicher­heits- und Grenz­schutz­mass­nah­men in Ost­eu­ropa. Die Pro­jekt­bei­spiele rei­chen von der Aus­stat­tung pol­ni­scher Grenz­po­sten über Hoch­was­ser­schutz­mass­nah­men in Ungarn bis zur Unter­stüt­zung von Poli­zei­re­for­men in Rumä­nien und Bul­ga­rien. Alles finan­ziert mit Gel­dern aus dem Erwei­te­rungs­bei­trag der Schweiz an die neuen Mit­glied­staa­ten der EU.

Bezeich­nend für die zyni­sche Hal­tung der Deza-Obe­ren und ihrer Sprach­rohre ist, dass bei der Bewer­tung der oben genann­ten Pro­jekte nicht die Ver­bes­se­run­gen für die Men­schen vor Ort im Zen­trum steht, son­dern der Nut­zen für die Schweiz und deren «Sicher­heit».

Ein wei­te­rer Arti­kel im glei­chen Heft bläst noch­mals ins glei­che Horn: Bei der Frage nach den Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Migra­tion und Ent­wick­lung beschreibt die Autorin, wel­che Art von «Ent­wick­lungs­hilfe» dazu bei­tra­gen kann, Migra­ti­ons­be­we­gun­gen «ein­zu­däm­men».

Will da ein Bun­des­rat sein gros­ses Vor­bild, den US-Prä­si­den­ten Trump kopie­ren? Die­ser kürzte die Unter­stüt­zung an die Zen­tral­ame­ri­ka­ni­schen Staa­ten, um mehr Mit­tel in den Mau­er­bau und Grenz­schutz zu pum­pen. Zyni­scher geht’s nimmer.

Mutige Frauen

Die Ober­bür­ger­mei­ste­rin von Eisen­ach, Katja Wolf, sorgte diese Woche in der deut­schen Presse für Schlag­zei­len. Weil sie an der ersten Sit­zung des neu gewähl­ten Eisen­acher Stadt­par­la­ments den vier Stadt­rä­ten der rechts­extre­men NPD den Hand­schlag ver­wei­gerte. Ein Akt von zivi­lem Unge­hor­sam sei­tens eines Stadtregierungsmitglieds.

Sie hatte dies bereits 2014 getan und wurde vom Thü­rin­ger Ober­ver­wal­tungs­ge­richt des­we­gen in zwei­ter Instanz ver­ur­teilt. Die Begrün­dung: Bür­ger­mei­ste­rIn­nen seien ver­pflich­tet, neue Stadt­rats­mit­glie­der durch einen Hand­schlag zu bestätigen.

Der Vor­sit­zende der NPD-Frak­tion im Eisen­acher Stadt­rat ist ein mehr­fach vor­be­straf­ter Gewalt­tä­ter. Er wurde unter ande­rem als Rädels­füh­rer eines Spreng­stoff­an­schlags auf einen tür­ki­schen Imbiss, Kör­per­ver­let­zung und Volks­ver­het­zung ver­ur­teilt. «Mit so einem Men­schen und einer Frak­tion, die ihn zum Vor­sit­zen­den wählt, kann man keine Nor­ma­li­tät her­stel­len», stellt Katja Wolf klar.

Des­halb hat sie den vier Rechts­extre­men die Hand erneut nicht gereicht. «Es geht um eine Frak­tion, die dem schwer rechts­ra­di­ka­len Milieu zuzu­ord­nen ist – sich in all ihren Ver­laut­ba­run­gen, in allen Äus­se­run­gen in Eisen­ach und dar­über hin­aus weit aus­ser­halb der Gren­zen der Ver­fas­sungs­mäs­sig­keit bewegt», begrün­det die Ober­bür­ger­mei­ste­rin ihr Ver­hal­ten im Inter­view mit der taz.

Mit ihrer ent­schie­de­nen Hal­tung ris­kiert sie ihr Leben. Der Mord am hes­si­schen Regie­rungs­prä­si­den­ten Lübcke hat uns in den letz­ten Wochen ein­mal mehr klar und deut­lich vor Augen geführt, dass Rechts­extreme vor nichts zurück­schrecken. Lübckes Mör­der ist eben­falls ein bekann­ter Neo­nazi mit Ver­bin­dun­gen zur NPD. Auch er war schon in der Ver­gan­gen­heit straf­fäl­lig geworden.

Im Fall des Eisen­acher NPD-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den stellt sich zusätz­lich die Frage, wes­halb ein Straf­tä­ter, der Recht und Ver­fas­sung gezielt und wie­der­holt mit Füs­sen tritt, über­haupt zu Wah­len zuge­las­sen wird.

Immer deut­li­cher zeigt sich, dass das viel­ge­prie­sene System «Demo­kra­tie» an Gren­zen stösst. Volks­ab­stim­mun­gen und Wah­len dür­fen nicht zu einem Jekami ver­kom­men, das auch schwe­ren Rechts­bre­chern, ver­ur­teil­ten Ras­si­sten und Volks­ver­het­zern offen steht.

Ähn­li­che Pro­bleme haben wir mit der Mei­nungs­frei­heit, die von Rechts­extre­men für ihre Zwecke aus­ge­nutzt wird. Sie gilt bei uns als unan­tast­bar und soll nur dann ein­ge­schränkt wer­den, wenn sie z. B. in straf­recht­lich rele­van­ter Auf­het­zung ausartet.

Es gibt aber auch Situa­tio­nen, wo es zivi­len Unge­hor­sam von unten braucht. Wenn z. B. demo­kra­tisch gewählte Regie­rungs­mit­glie­der wie der ita­lie­ni­schen Innen­mi­ni­ster Matteo Sal­vini sich über Ver­ein­ba­run­gen der inter­na­tio­na­len See­fahrt hin­weg­set­zen, kann «Demo­kra­tie» nicht hel­fen. Es braucht eine mutige Kapi­tä­nin, die unnach­gie­big auf Ein­hal­tung der Regeln pocht. 

Um die erschöpf­ten Men­schen an Bord der Sea­Watch 3 in Sicher­heit zu brin­gen, wider­setzt sich die Kapi­tä­nin Carola Rackete den Anord­nun­gen der ita­lie­ni­schen Behör­den, nach­dem sie tage­lang ver­han­delt und ver­geb­lich auf eine Ein­fahrts­er­laub­nis gewar­tet hatte. Sal­vini ver­wei­gert hart­näckig die Ein­fahrt, sogar als Brüs­sel Hand bie­tet, Lösun­gen für die Ver­tei­lung der Flücht­linge auf dem Schiff zu organisieren.

Bei der Ankunft im Hafen von Lam­pe­dusa wird Carola Rackete fest­ge­nom­men. «Mein Ziel war nur, die erschöpf­ten und ver­zwei­fel­ten Men­schen an Land zu brin­gen», erklärt sie gegen­über den Medien. Die Men­schen an Bord, wel­che die Sea­Watch aus pre­kä­rer Lage im Mit­tel­meer geret­tet hat­ten, seien erschöpft und ver­zwei­felt gewesen.

Ihre Moti­va­tion, sich für See­not­ret­tun­gen zu enga­gie­ren, hatte die aus Nord­deutsch­land stam­mende Kapi­tä­nin der ita­lie­ni­schen Zei­tung La Repu­blicca wie folgt umris­sen: «Ich habe eine weisse Haut­farbe, ich bin in ein rei­ches Land gebo­ren wor­den, ich habe den rich­ti­gen Rei­se­pass, ich durfte drei Uni­ver­si­tä­ten besu­chen und hatte mit 23 Jah­ren mei­nen Abschluss. Ich spüre eine mora­li­sche Ver­pflich­tung, den­je­ni­gen Men­schen zu hel­fen, die nicht meine Vor­aus­set­zun­gen haben.» Auch wenn sie mit straf­recht­li­chen Kon­se­quen­zen rech­nen muss.

Zwei mutige Frauen, die nicht gezö­gert, son­dern gehan­delt haben. Unge­ach­tet juri­sti­scher Dro­hun­gen und mas­si­ver Anfein­dun­gen. Jetzt wären zwei Män­ner an der Reihe…

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