Nachbarschaft

Das dif­fi­zi­le Parkmanöver absor­biert unse­re vol­le Aufmerksamkeit: Ein weis­ser Budget-Mietkombi mitt­le­rer Grösse soll rück­wärts im schma­len Gartenweg plat­ziert wer­den. So, dass er den Verkehr auf der Strasse nicht behin­dert und gleich­zei­tig von hin­ten gut zugäng­lich ist. Ein alter Herr in Manchesterhose diri­giert mit weit aus­la­den­den Bewegungen und unter stän­di­gem hin- und herei­len den Wagen, an des­sen Steuer ein jün­ge­rer Mann sitzt. Sein Sohn?

Nach eini­gen erfolg­lo­sen Versuchen steht das Fahrzeug schliess­lich wie gewünscht. Die bei­den Männer ver­schwin­den im Hauseingang. Schon bald taucht der Jüngere wie­der auf, bela­den mit weiss­ge­stri­che­nen Latten und Brettern. Gefolgt vom Alten, der leicht hin­kend unter dem Arm eben­falls zwei Tablare trans­por­tiert. Wir tip­pen auf ein zer­leg­tes Büchergestell, das nun im Innern des Wagens ver­schwin­det. Es folgt noch dies und das, wäh­rend wir unse­ren Frühstückskaffee trinken.

Ein paar Tage spä­ter beob­ach­ten wir von unse­rem Logenplatz im drit­ten Stock eine Variation des glei­chen Schauspiels: Diesmal ein Hertz-Mietwagen, mit mehr Stauraum als der ers­te Kombi. Der alte Mann in der Manchesterhose hinkt wesent­lich stär­ker, als beim ers­ten Mal. Herzzerbrechend, wie er sich immer wie­der die Treppe hoch­quält, im Treppenhaus ver­schwin­det, kurz dar­auf auf dem Durchgang im zwei­ten Stock wie­der zum Vorschein kommt und ziel­si­cher in die zwei­te Wohnung ein­biegt, aus der er, jetzt sicht­lich unter Schmerzen, Gegenstand um Gegenstand hinausträgt.

Zieht er frei­wil­lig aus? Wohin? – Wie lan­ge hat die Ständerlampe, die er nun die Treppe hin­un­ter schleppt, in sei­nem Wohnzimmer gestan­den? Der jun­ge Mann nimmt das Vorkriegsmodell ent­ge­gen und ver­staut es im Wagen. Das war das letz­te Objekt, die Wohnung scheint nun leer zu sein. Beide Männer stei­gen ins Mietauto, der Alte auf den Beifahrersitz. Wir sind fast erleich­tert, dass er nicht noch ein­mal hin­auf muss, mit sei­nem schlim­men Bein. – Fahren sie jetzt direkt in die Kehrichtverbrennungsanlage zwecks Entsorgung der über­flüs­sig gewor­de­nen Möbel – oder zieht die Ständerlampe mit, an den neu­en Wohnort? Ins Altersheim?

Am fol­gen­den Morgen der nächs­te Akt: Während wir unse­ren Kaffee genies­sen, nähert sich ein jun­ges Paar der Haustür und beäugt neu­gie­rig das Klingelbrett. Weitere Personen kom­men hin­zu – auf dem Gartenweg, wo am Vortag noch der Umzugswagen gela­den wor­den ist, bil­det sich innert kür­zes­ter Zeit eine Schlange von Wartenden. Ein Mann sucht in sei­nem Rucksack nach einem Zettel, zeigt ihn den ande­ren. Sie dis­ku­tie­ren, schau­en auf die Uhr, schau­en suchend in die Runde, wir­ken ratlos.

Bis ein Mann in schwar­zer Lederjacke siche­ren Schrittes auf die Haustür zugeht, sei­nen Schlüssel zückt. Die Frau, die neben dem Eingang steht, fasst sich ein Herz und spricht ihn an. Worauf er die Tür öff­net und alle rein lässt. Kaum ver­schwun­den, tau­chen sie – die gan­ze Gruppe – auf dem Durchgang im zwei­ten Stock wie­der auf. Rütteln an der nun ver­schlos­se­nen Tür, aus der am Vortag als Letztes die Ständerlampe hin­aus­ge­tra­gen wor­den ist. Offensichtlich hat der Hauswart die Wohnung für acht Uhr mor­gens zur Besichtigung aus­ge­schrie­ben — von ihm aber kei­ne Spur.

Die Wartenden haben Glück: Der Mann mit der Lederjacke scheint ein ehe­ma­li­ger Nachbar des alten Mannes zu sein. Ein freund­li­cher Nachbar, denn er lässt die Wohnungssuchenden nun einen Augenschein in sei­nen eige­nen vier Wänden neh­men. Das Angebot wird eif­rig genutzt, einer nach dem andern ver­schwin­det hin­ter der Tür im zwei­ten Stock und kommt nach ein paar Minuten wie­der zum Vorschein. Was sie gese­hen haben, ob es ihnen gefal­len hat und wer sich schliess­lich für die Wohnung bewor­ben hat, ent­zieht sich unse­rer Kenntnis.

Jetzt sind die Handwerker am Zug, aus­ser Arbeitern haben wir wäh­rend unse­rer letz­ten Frühstückskaffees nie­man­den in die Wohnung hin­ein­ge­hen sehen. Vorläufig scheint sie leer zu ste­hen, neue MieterInnen sind noch nicht eingezogen.

Und der Mann mit der Manchesterhose? Als ich letz­te Woche bei strö­men­dem Regen im Bus nach­hau­se fuhr, ist ein alter Mann mit Krücke zuge­stie­gen. Einen Moment lang glaub­te ich, ihn wie­der­zu­er­ken­nen. Doch er ist wei­ter gefahren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Wir benutzen Cookies um die Nutzerfreundlichkeit der Webseite zu verbessen. Durch Deinen Besuch stimmst Du dem zu.