Über Nidau weiss ich alles, oder zumindest fast. Glaubte ich. – Immerhin habe ich ein Buch über die bald 700jährige Geschichte der kleinen Stadt am Bielersee geschrieben und bin auch heute noch eine treue Kundin auf dem Markt und in den Cafés, wenn immer ich in der Gegend bin.
Letzte Woche dann die Überraschung: Es gibt noch ein anderes Nidau. Wir entdecken es beim frühmorgendlichen Kartenstudium. Worauf die Route feststeht: Unser Weg aus den Jurahöhen zurück in die Tiefen des Alltags führt über dieses andere Nidau, wo wir einen Fotostopp einlegen wollen.
Fast wären wir dann allerdings – vom Vallée de Joux herkommend – an der unscheinbaren Haltestelle im Niemandsland vorbeigerast. Im letzten Moment erspähe ich den wohlbekannten Namen auf dem Schild und reisse mit einem triumphierenden «Nidau» das Lenkrad herum. Mit einer eleganten Kurve bringt auch Angelo sein Rad zum Stehen
Erst jetzt merken wir, dass uns jemand beobachtet. Ein freundliches Bonjour, gefolgt von der Frage, ob wir hier Pause machen… Wir erklären, welch besondere Bedeutung Nidau in meinem Leben hat, und dass wir quasi von Nidau nach Nidau unterwegs seien. Schnell kommen wir ins Gespräch.
Er warte hier auf seinen Sohn, sagt der schlanke Mann im blauen T‑Shirt. Ob wir einen Kaffee trinken wollen, in «seinem» Nidau? Er wohne gleich da vorne und zeigt auf ein stattliches altes Bauernhaus mit Schindelfassade, etwas oberhalb der Strasse. – Eine unerwartete Geste, nicht gerade alltäglich hierzulande. Vom Tal her kommt jetzt ein gelber Bus, ein kleiner Junge steigt aus. Die letzten paar Meter des Kindergartenwegs legt der 5jährige Elliott huckepack auf dem Rücken seines Vaters zurück. Der schwärmt auf dem Weg hinauf zum Hof vom Leben hier, in und mit der Natur. Und der einmaligen Nachbarschaft unter den BewohnerInnen der drei Häuser von Nidau.
Angelo wissen, was er denn arbeite. Unser Gastgeber ist kein Bauer, das sieht man auf den ersten Blick. Von was, ausser der Landwirtschaft, kann man hier aber leben? – Sein letzter Beruf sei Bademeister gewesen, sagt Philippe. Er habe aber schon vieles gemacht – ein Museum geleitet, sei Chefredaktor einer regionalen Zeitschrift gewesen, gegenwärtig widme er sich vor allem der Malerei.
Im wilden Garten vor dem Haus unterbrechen Elliotts ältere Schwester und ihre Freundin ihr Trampolinspiel, um uns freudig zu begrüssen. Bald sitzen wir mit Philippe und seiner Frau Carrie am gemütlichen Holztisch vor dem Haus und trinken Kaffee. Die Kinder servieren uns Pizza und Dessertkreationen aus bunter Knetmasse. Irgendwann müssen sie wieder auf den Bus, in den Kindergarten und in die Schule.
Während wir Erwachsenen weiter sitzen und reden. Über Gott und die Welt, Anarchie und unsere Leben… Carrie erzählt, wie es sie, die Pfahlbauten-Taucherin, von Glasgow in den Jura verschlagen hat. Philippe holt einen Stoss Zeitschriften – sein Herzblut-Projekt, das mangels Finanzen auf Eis gelegt werden musste. Wir sprechen von Projekten und Erfolgen, Hoffnung und Enttäuschung.
Nähe und Vertrautheit, als hätte man sich schon immer gekannt. Um uns macht sich träge Nachmittagshitze breit. Wir schieben den Aufbruch hinaus, wollen gar nicht mehr weg, aus diesem anderen Nidau, von dessen Existenz wir am Morgen noch nichts gewusst hatten. Es ist ein magischer Ort, eine Oase, wie man sie nur abseits der Hauptstrasse findet
Schliesslich heisst es trotz allem, Abschied nehmen. Wir schwingen uns aufs Rad und fahren los. Zufrieden – und gewiss, dass es noch viele Nidaus zu entdecken gibt. Man muss sie nur zu finden wissen.