Für immer verstummt

Mitte November. In den Läden türmt sich Advents- und Weihnachtskrimskrams ohne Ende, als ob die Welt in Ordnung wäre und es weder Krieg noch Klimawandel gäbe. Gleich neben dem Eingang Lindt-Pralinenpackungen in allen Grössen und Formen. Der Anblick der roten Adventskalender, wo hin­ter jedem Türchen eine ver­füh­re­ri­sche Schoggi-Überraschung steckt, weckt Erinnerungen…

Genau ein Jahr ist es her, dass wir einen sol­chen Kalender gekauft und mit einer Weihnachtskarte ver­se­hen auf die Reise nach Berlin geschickt haben. Damit er recht­zei­tig ankommt und die Empfängerin nicht noch Gebühren bezah­len muss, bevor sie das Geschenk in Empfang neh­men darf, haben wir das Paket über die Landesgrenze gebracht und in Jestetten der Deutschen Post übergeben.

Weil wir sicher waren, dass unse­re über 90jährige Freundin, Frau Oellrich, die Tür nur noch öff­ne­te, wenn sie genau wuss­te, wer klin­gelt, rief ich sie am fol­gen­den Tag an, um ihr unse­re Postsendung anzu­kün­di­gen. Oder bes­ser gesagt: Ich ver­such­te, sie anzu­ru­fen. Das Telefon klin­gel­te, aber nie­mand ging ran.

Das Gleiche wie­der­hol­te sich am nächs­ten und über­nächs­ten Tag. Langsam wur­de ich unru­hig, was war los? Das Telefon klin­gel­te ganz nor­mal – also muss­te der Anschluss noch in Betrieb sein, fol­ger­te ich. Vielleicht war unse­re Berliner Bekanntschaft im Krankenhaus? Oder muss­te kürz­lich in ein Heim ein­ge­wie­sen wer­den? Schliesslich war sie in einem Alter, wo das Alleinleben immer beschwer­li­cher wur­de. Davon hat­te sie mir auch bei mei­nem letz­ten Anruf erzählt. Ohne jedoch zu kla­gen, wie es eben ihre Art war.

Unser letz­tes Gespräch lag nun aller­dings auch schon ein paar Monate zurück. Ich glau­be, es war im Frühjahr 2021, als wir uns das letz­te Mal am Telefon aus­ge­tauscht hat­ten. Damals klin­gel­te es bei ihr nur drei- oder vier­mal, und schon mel­de­te sich ihre war­me, auf­ge­stell­te Stimme. Wie immer hat­te sie auf dem Display gese­hen, dass der Anruf aus der Schweiz kam. So muss­te ich nicht ein­mal mei­nen Namen nen­nen, schon frag­te sie mich nach unse­rem Wohlergehen und woll­te alles wis­sen, über unse­re Gesundheit und was wir so trieben.

Dabei blieb es jedoch nie. Frau Oellrich ver­liess zwar kaum mehr ihre Wohnung, hat­te wenig Besuch und leb­te ein ein­sa­mes, zurück­ge­zo­ge­nes Leben. Gleichzeitig nahm sie inner­lich teil am aktu­el­len Weltgeschehen. Wir spra­chen damals über Corona, den Klimawandel, die poli­ti­schen Verwerfungen. Sie war bes­tens infor­miert, schau­te in ihren oft schlaf­lo­sen Nächten Dokumentarfilme und brann­te dar­auf, mei­ne Einschätzungen zu den Dingen zu hören. In der Regel dau­er­ten unse­re Telefongespräche eine Stunde und mehr.

Und nun? Etwas stimm­te nicht, auch wenn ich es mir nicht ein­ge­ste­hen woll­te. Nach unzäh­li­gen wei­te­ren erfolg­lo­sen Anrufversuchen such­te ich in mei­nem Archiv nach der Mailadresse ihrer ehe­ma­li­gen Nachbarin. Wir hat­ten die bei­den vor 14 Jahren anläss­lich der Dreharbeiten zu unse­rem Dokumentarfilm «Denk mal Berlin» ken­nen­ge­lernt. Sie kämpf­ten damals gemein­sam mit ande­ren Mieter:innen für den Erhalt ihrer Wohnsiedlung am Lützowplatz. Vergeblich.

Alle Mieter:innen wur­den damals aus ihren schö­nen, preis­güns­ti­gen Wohnungen ver­trie­ben, die Nachbarschaft aus­ein­an­der­ge­ris­sen, die Häuser ent­mie­tet, wie man auf Immobiliendeutsch sagt. Trotzdem blie­ben die ehe­ma­li­gen Nachbarinnen wei­ter­hin in Kontakt. Die jün­ge­re der bei­den, Frau Ackermann, schau­te regel­mäs­sig bei Frau Oellrich vor­bei – meist nach einem Termin bei ihrem Friseur, der sein Geschäft ganz in der Nähe hatte.

Meine besorg­te Mailanfrage erreicht die ehe­ma­li­ge Nachbarin jedoch kurz nach deren Rückkehr von einer aus­ge­dehn­ten Italienreise, wes­halb auch sie län­ge­re Zeit nichts von Frau Oellrich gehört hat­te. Sie weiss ein­zig, dass das Telefon defekt gewe­sen sei und stellt in Aussicht, bald­mög­lichst bei der alten Dame vorbeizuschauen.

Schon am nächs­ten Tag folgt eine wei­te­re Mail: «Nun war ich da, und nach Aussage der Nachbarn im   1. Stock, soll sie ver­stor­ben sein.» Die Nachbarin vom 5. Stock jedoch, deren Mann kürz­lich gestor­ben sei, und die mit Frau Oellrich ab und zu ein paar Worte wech­sel­te, habe von nichts gewusst. Der Briefkasten sei noch ange­schrie­ben, und bei mei­nen erneu­ten Telefonversuchen klin­gel­te es in der Leitung wie eh und je. Es könn­te dem­nach genau­so gut sein, dass sich der eine Nachbar getäuscht hat, und Frau Oellrich in einem Krankenhaus liegt, mach­ten wir uns gegen­sei­tig Hoffnung.

Drei Tage spä­ter dann die trau­ri­ge Gewissheit: «Frau Oellrich ist tot! Sie wur­de auf­ge­fun­den Ende Oktober von ihrer Haushalthilfe Jana», so die Nachricht aus Berlin. Wie lan­ge sie im Wohnzimmer lag, und wie sie gestor­ben ist, wis­se man nicht.

Man habe die Angelegenheit an das Nachlassgericht wei­ter­ge­lei­tet, hiess es bei der Hausverwaltung. Mehr war nicht zu erfah­ren. Schluss, fer­tig. Frau Oellrich wird sich nie mehr mit ihrer mun­te­ren Stimme am Telefon mel­den, wir wer­den uns nie mehr über den Lauf der Welt unter­hal­ten – ihre Gedanken und Geschichten, die mich immer so berührt haben – für immer vor­bei. Ich bedau­re, dass ich sie den gan­zen Sommer über nie ange­ru­fen hat­te. Jetzt ist sie gestor­ben, ein­sam und allein, wie sie in den letz­ten Jahren gelebt hat…

Anfang Januar 2022 dann noch ein­mal eine Nachricht aus Berlin: «Am Mittwoch war ich beim Friseur – das hat­te ich immer mit einem Besuch bei Frau Oellrich ver­bun­den – ist dies­mal natür­lich aus­ge­fal­len. Konnte es jedoch nicht las­sen, an ihrem Haus vor­bei zu schau­en. Wie es aus­schaut sind neue Mieter ein­ge­zo­gen, die Gardinen kamen mir fremd vor.

Habe dann mit ihrer Freundin in Essen, die wir auch vom Lützowplatz kann­ten, gespro­chen. Sie hat lei­der auch nichts gehört. Man muss es wohl so hin­neh­men, obwohl ich es sehr trau­rig fin­de, dass von der Verwandtschaft sich nie­mand mal mel­det… Auch vom Nachlassgericht und der Hausverwaltung nichts.…»

Was bleibt? Die Erinnerung an eine leb­haf­te, her­zens­gu­te Frau. Und Freundschaften, die andau­ern, wie ihre ehe­ma­li­ge Nachbarin vom Lützowplatz zum Schluss noch fest­hält: «Es ist der Verdienst von Frau Oellrich, dass die Nachbarn immer noch Kontakt haben, denn sie war eine Institution, behaup­te ich mal!»

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