Kürzlich in Berlin waren wir wieder einmal bei Frau O. Jahre hatten wir sie nicht mehr besucht, während einiger Zeit war der Kontakt ganz abgebrochen. Umso mehr freuten wir uns. Gleichzeitig sahen wir dem geplanten Besuch mit etwas Bange entgegen.
Seit über einem Jahr habe Frau O. ihre Wohnung im zweiten Stock nicht mehr verlassen, hatte uns eine ehemalige Nachbarin erzählt, die ab und zu vorbeischaut. Beim letzten Mal habe sie ihr den Müll von sechs Monaten in die Abfallcontainer im Hof getragen, weil sich Frau O. nicht mehr hinaus getraue. Sie sei sehr einsam und bräuchte eigentlich regelmässige Betreuung…
Frau O. ist 91 Jahre alt und nicht mehr gut zu Fuss. Sie öffnet auch nicht mehr jedem die Tür. Am Telefon hat sie mir erzählt, wie zwei Trickbetrügerinnen bei ihr geklingelt und um Notizpapier gebeten hätten. Während Frau O. das Gewünschte holte, steckten die Diebinnen blitzschnell ein, was sie packen konnten.
Ohne Voranmeldung lässt Frau O. deshalb niemanden mehr ins Haus und schon gar nicht in ihre Wohnung. Auch nimmt sie nicht alle Anrufe entgegen. Als ich sie dieses Frühjahr zum ersten Mal nach langer Zeit wieder einmal anrief, musste ich lange klingeln lassen. Schliesslich meldete sich am anderen Ende aber die altgewohnte fröhliche Stimme: «Als ich sah, dass die Nummer mit zwei Nullen anfängt, sagte ich mir: Ein Anruf aus dem Ausland! Den musst du nehmen…»
Ihre Stimme tönt munter und lebendig, wie eh und je. Allein sie zu hören ist wohltuend, ihre Heiterkeit ansteckend. Schon erzählt sie die erste Geschichte, die einen reinzieht, fesselt. Man spürt: Der Anruf ist eine willkommene Abwechslung. Ihr Mann ist vor Jahren gestorben. Als wir sie kennen lernten, wohnte sie lange Jahre in einer Siedlung mitten in Berlin, wo sie in einer lebendigen Nachbarschaft bestens integriert war.
Dann der grosse Schock: Die Siedlung war an einen Investor verkauft worden, der die erst 20 Jahre vorher neu gebauten Mietwohnungen plattmachen und am gleichen Ort ein grosses Renditeobjekt hochziehen wollte. Eine Handvoll MieterInnen – unter ihnen Frau O. – kämpfte um den Erhalt der Liegenschaften. Vergeblich. Schliesslich musste Frau O. schweren Herzens eine neue Bleibe suchen. Fast ein Ding der Unmöglichkeit für eine alleinstehende über 80jährige Frau, die nicht mit Reichtum gesegnet ist.
Schliesslich hatte sie Glück im Unglück und fand eine schöne Wohnung ganz in der Nähe. Dort wollte sie zusammen mit einer alten Freundin einziehen, um gemeinsam zu zweit den Lebensabend zu verbringen. Kurz vor dem Umzug aber starb die Freundin, und Frau O. blieb alleine mit der grosszügigen, aber für ihre Verhältnisse zu teuren Mietwohnung.
Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag, von denen Frau O. in ihrem langen Leben unglaublich viele erlebt hat. Wenn sie davon erzählt, ahnt man den Schmerz. Ein kurzes, leises Innehalten – und schon haben Frau O.’s Optimismus und Lebenslust wieder Oberhand. «Gleich nachdem ich eingezogen bin, haben sie mir die Miete noch einmal erhöht», erzählt sie und fährt fort: «Ich habe mir dann gesagt: Du lebst nicht mehr so lange – also legst du jeden Monat etwas aus der Abfindung, die du für den Auszug aus der alten Wohnung erhalten hast hinzu.» Das gehe allerdings nun schon sechs Jahre so – das Guthaben schmilzt dahin. Nie hätte sie gedacht, dass sie noch so lange leben würde, sagt Frau O. und lacht.
Ihre Wohnung ist, wie die frühere, aus dem Ei gepellt. Jedes Ding an seinem Platz, alles auf Hochglanz poliert und liebevoll eingerichtet. Schnell sind unsere anfänglichen Bedenken zerstreut. Doch Frau O. ist allein und einsam – keine Frage. Auch wenn von ihr kein Wort der Klage kommt.
Im Wohnzimmer werden wir aufs Sofa dirigiert – die Fauteuils seien so durchgesessen, da dulde sie keine Besucher, meint Frau O. – und setzt sich selber hinein. Um eine weitere Geschichte zu erzählen. Kaum fällt unsererseits ein Stichwort, sind wir schon bei der nächsten. So plaudern wir uns einen Nachmittag lang durch Gegenwart und Vergangenheit.
Sie ist eine Kämpferin und weiss sich zu helfen. Ein Beispiel sind die Einkäufe, da sie ja nicht mehr selber in die Läden kann: Alle sechs bis sieben Wochen gibt Frau O. beim EDEKA-Hauslieferdienst eine Bestellung auf. Da sie kein Internet hat, war das gar nicht so einfach. Erst nach langem Herumtelefonieren und Verhandeln mit unzähligen Läden fand sie bei EDEKA einen Filialleiter, der sich flexibel zeigte und nun für Frau O. eine Ausnahme macht: Sie darf ihre Ware telefonisch bestellen und kriegt sie am nächsten Tag geliefert.
Nicht immer sei alles Bestellte dabei, und oft erhalte sie Dinge, die sie gar nicht auf der Liste gehabt hätte, erzählt Frau O. Aber das sei nicht so schlimm: Schliesslich müssten die Verkäuferinnen am Telefon mitschreiben, was sie diktiere – und da könne es schon ab und an zu Missverständnissen kommen. «Ich sage dann nichts und will die jungen Frauen, die sich so Mühe geben, nicht noch anschwärzen», sagt sie mit ihrem warmen Lachen.
Bei Prosecco und selbstgebackenem Kuchen vergeht die Zeit viel zu schnell. Beim Abschied verspreche ich, bald einmal anzurufen. Und frage, wann es ihr am liebsten wäre. Darauf erwidert Frau O. nur mit ihrem bewährten Lächeln: «Jede Zeit ist mir recht – auch morgens um Vier. Da sitze ich nämlich auf dem Sofa, warte auf den Schlaf – und schaue mir die spannendsten Dokumentarfilme an.»