Landestheater Tübingen (LTT) im Dezember 2023. Eine grosse PVC-Plane hängt auf der Aussenwand des Theaters.
Wir reiben uns die Augen. Plakative Solidarität als Visitenkarte einer kulturellen Institution, warum nicht? Hier steht aber ausdrücklich und ausschliesslich «Solidarität mit allen Menschen in Israel und allen Juden und Jüdinnen auf der Welt». Kein Wort der Empathie oder Solidarität mit nichtjüdischen Opfern in all den aktuellen Kriegen rund um den Erdball – ist das Absicht?
Was auffällt: Der untere Teil des Transparents fehlt. Offensichtlich wurde er abgeschnitten. Weshalb? – Vielleicht, weil dort auch der Opfer auf der palästinensischen Seite gedacht oder gar ein Waffenstillstand gefordert wurde? Oder andere Vermutung: Neonazis haben ihre Parolen unten hingesprayt. Wir wissen es nicht.
Was bleibt ist der Slogan auf dem Restplakat. Dieser verkündet einmal mehr die hundertfach reproduzierte Botschaft, die seit Wochen landauf landab in Medien und Politik hirnlos nachgebetet wird. Ein einfältiges, aber probates Mittel gegen differenzierende Stimmen und die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand: Die Antisemitismuskeule verbunden mit dem Denkverbot, Hintergründe und Ursachen des gegenwärtigen Menschenabschlachtens zu benennen.
Kritik an der menschenverachtenden Politik der israelischen Regierung ist daher unerwünscht, Kriegsverbrechen auf israelischer Seite beim Namen zu nennen ein No-Go. In Deutschland haben die Regierenden die bedingungslose Unterstützung Israels gar zur Staatsräson erhoben. Blind dafür, dass gerade damit die Saat für stets neue Gräueltaten gelegt wird.
Es gibt sie trotzdem, die anderen Stimmen. Nachdem wir das Plakat fotografiert haben, bleibt vor der Theatervorstellung noch Zeit für einen Spaziergang durch die Stadt. Auf dem Holzmarkt vor der Stiftskirche ist eine Kundgebung im Gang. Seite an Seite stehen Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, mit Kerzen in der Hand und Transparenten, die einen sofortigen Waffenstillstand in Israel und Palästina fordern.
Etwa 300 Menschen haben sich versammelt, um friedlich gegen die offizielle Politik zu protestieren. Die Redner: innen erinnern mit eindrücklichen Worten an das Leiden und Sterben der Menschen im Krieg. Und zeigen auf, wie sich die deutsche Politik immer stärker in der Sackgasse ihrer einseitig auf Israel fokussierten «Staatsräson» verrennt. Eindringlich fordern die Demonstrierenden auf dem Holzmarkt das Ende der Gewalt im Nahen Osten und die Befreiung von Palästina.
Zurück im Landestheater erleben wir eine spannende Aufführung von Elfriede Jelineks «Licht im Kasten». Ein Stück, das inspiriert, provoziert und zum Nachdenken anregt. Theater im LTT, das voll und ganz erfüllt, was wir uns von Kulturschaffenden wünschen.
Dies im Gegensatz zum toxischen Plakat, das uns nicht aus dem Kopf geht. Dessen Inhalt müsste, sind wir überzeugt, gerade in einer Institution wie dem LTT zwingend hinterfragt, diskutiert und neu überdacht werden.
Als Anregung kreieren wir einen kurzen Text mit Vorschlägen, was aus unserer Sicht auch noch auf das Plakat gehört hätte. Diesen schicken wir per Mail ans Landestheater Tübingen und geben der Hoffnung Ausdruck, dass unser Einspruch «als Rückmeldung aus dem Zuschauerraum über ein Anschlagbrett den Weg ins Innere des Theaters finden und als Diskussionsstandpunkt Berücksichtigung in der laufenden Debatte finden möge.»
Die Reaktion kommt prompt und heftig, von ganz oben: Unsere Mail wird von der Theaterpädagogin, an die wir sie adressiert haben, umgehend an den Intendanten Thorsten Weckherlin weitergeleitet. Seine Antwort, die knapp drei Stunden später bei uns eintrifft, macht klar: Debatte nicht erwünscht! Einführend lässt er uns wissen:
«Nach dem 7. Oktober stehe ich ganz klar ohne Wenn und Aber hinter Israel. Und wer das nicht akzeptieren möchte (sein gutes Recht), dem sage ich: ’Das ist mir egal!’»
Darauf folgt ein Schwall von Belehrungen in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet. Er beschwört den «Antisemitismus in den muslimischen, linken und rechten Communities (und selbstredend in der Mitte der deutschen Gesellschaft), die er «schlimm und zum Kotzen» finde.
Zwar räumt Weckherlin ein, dass nicht alle so denken wie er – «nicht in Deutschland, nicht in Tübingen, nicht im LTT.» Das hindert ihn aber nicht daran, das einseitige, einäugige Plakat am Landestheater aufhängen zu lassen. Mit der Begründung: «Wir haben alle das Recht auf freie Rede sowie freie Äusserung und (öffentliche) Verbreitung einer Meinung. (…) Auch unsere Aushänge an der Werkstattwand gehören dazu.»
Als Illustration schickt uns der Intendant ein Foto des vollständigen Transparents. Auf dem unteren, weggeschnittenen Teil stand kein Wort von Solidarität mit Opfern der israelischen Kriegsmaschinerie, sondern: «Der Antisemitismus und der Israel-Hass müssen aufhören in den muslimischen, linken und rechten Communitys!»
Da wird sie also wieder geschwungen, die Antisemitismuskeule. Gottseidank nicht auf der Bühne – und gut, ist diese untere Hälfte schon mal weg… Trotzdem: Das Plakat an der Fassade des LTT, das Nicht-Juden und Nicht-Jüdinnen ausgrenzt, die unter Krieg und Gewalt leiden und sterben, ist und bleibt ein kulturelles Armutszeugnis.
Wie es auch anders gehen könnte, zeigt in diesen Tagen die Mailänder Scala. Dort rollten am Samstag vor Weihnachten Aktivist:innen zum Abschluss einer öffentlichen Probe Banner aus und gedachten der Menschen, die unter Bombardierungen und Massakern leiden. Dafür ernteten sie vom Publikum und den Künstler:innen auf der Bühne Beifall.