Für alle, die nicht wegschauten, war die Situation schon 1955 klar, schreibt Hagai El-Ad in seinem Leitartikel in der regierungskritischen israelischen Zeitung Haaretz vom 13. Mai: Mit der Gründung des Staates Israel wurden die Palästinenser:innen zu entrechteten Menschen.
Als Beleg zitiert er Hannah Arendt, die schon in den 1940er Jahren die kolonialistische Besitzname Palästinas durch jüdische Zionist:innen scharf kritisierte. 1955 schrieb sie zur Situation in Israel: «Sie behandeln die Araber, die noch hier sind, auf eine Art und Weise, dass das allein genügen würde, die ganze Welt gegen Israel aufzubringen.» 10 Jahre nach dem Holocaust drückte damals der westliche Teil der Welt diesbezüglich jedoch beide Augen zu.
70 Jahre später ist die Situation keinen Deut besser — im Gegenteil: Israels Vertreibungs- und Okkupationspolitik hat mit dem Krieg in Gaza einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Lebensgrundlagen der Menschen in Gaza wurden zerstört, Zehntausende von ihnen getötet. Mit der Genozidklage am Internationalen Gerichtshof, so Hagai El-Ad, werde nun wenigstens laut über das von Hanna Arendt benannte Problem nachgedacht.
Währenddessen missbrauchen israelische Politiker:innen, allen voran Premierminister Netanyahu, das Holocaust-Trauma nach wie vor, um ihre kriminellen, mörderischen Machenschaften gegenüber den Menschen in Gaza und in ganz Palästina zu rechtfertigen. Wer Israels Politik kritisiert, wird kurzerhand als Antisemit abgestempelt.
Dieses so simple wie falsche Narrativ geniesst leider auch hierzulande nach wie vor erstaunliche Unterstützung — namentlich in den Medien, unter Politiker:innen und – wie wir dieser Tage erleben — in den Rektoraten unserer Hochschulen, insbesondere in der Deutschschweiz.
Einmal mehr sind es junge Menschen, die sich in den westlichen Ländern — zuerst in den USA, jetzt auch in Europa — gegen die etablierte, die israelische Regierung unterstützende Politik, wenden. Die Besetzung von Universitäten durch Studierende und deren Forderungen nach einer Sistierung der Zusammenarbeit mit israelischen Hochschulen und Firmen, sind eigentlich ein Hoffnungsschimmer.
Wenn nicht an Hochschulen, wo dann können Debatten stattfinden, über grundlegende gesellschaftliche Fragen? Die letztendlich weit über den Gazakrieg hinausweisen, indem sie weltweite Entkolonialisierung und eine global gerechtere Gesellschaft fordern?
Studierende, die nicht bloss auf ihre Karriere fokussieren, sondern sich für die Welt, Frieden und Gerechtigkeit engagieren, sind ein Glücksfall – und gerade im heutigen, kompetitiven und auf individuelles Wohlergehen und Konsum getrimmten Bildungssystem keine Selbstverständlichkeit.
Wie schon 1968, ist man aber offenbar in der Leitung der (meisten) Hochschulen immer noch blind für gesellschaftlich heikle Debatten. Und schickt lieber die Polizei, um Friedens- und Protestcamps zu räumen, auf dass der Hochschulbetrieb ungestört seinen Lauf nehme.
Die Verantwortlichen bedienen sich dabei der gleichen Antisemitismuskeule wie Netanyahu und seine Unterstützer. Dabei müsste die von den Studierenden geforderte Sistierung der Zusammenarbeit mit israelischen Hochschulen und Wissenschaftler:innen zumindest zur Debatte stehen.
Es ist nämlich nicht nachvollziehbar, weshalb man in der Schweiz, angesichts des Kriegs in der Ukraine, Kontakte mit russischen Universitäten und Wissenschaftler:innen ohne Wenn und Aber gekappt hat — und dies in Bezug auf Israel kein Thema sein darf.
Mehr noch: Während die Dachorganisation der Schweizer Hochschulen Swissuniversities den Hochschulen die Sistierung der Kooperationen mit russischen Hochschulen nahelegte und ihre Mitglieder dazu aufforderte, ukrainische Lehrende, Forschende und Studierende aufzunehmen, herrscht diesbezüglich in Bezug auf Israel und Palästina Funkstille.
Angesichts der aktuellen Situation in der Schweiz ist davon auszugehen, dass auch die berühmte jüdische Philosophieprofessorin und Friedensforscherin Hannah Arendt, würde sie noch leben, nicht nur in Deutschland, sondern auch an den Universitäten von Zürich oder Bern ein Redeverbot erhielte. Weil ihre messerscharfe Analyse der israelischen Politik gegenüber dem Palästinenser:innen als «antisemitisch» gälte.*
Es sei höchste Zeit, so der Haaretz-Leitartikel Hagai El-Ad, «dass der Holocaust Israel nicht länger davor verschont, das Land und dessen Politik so zu sehen, wie sie ist.»
Das Schwingen der Antisemitismuskeule zur Verteidigung der israelischen Ausrottungspolitik gegenüber dem Palästinenser:innen ist nicht nur absurd. Letztendlich ist es auch eine Verhöhnung der Millionen von Opfern des Holocaust. Unfassbar: Nachkommen von Ermordeten eines Genozids betreiben ihrerseits eine Politik des Völkermords und der Ausrottung anderer.
* Wie dies in den letzten Monaten in Europa einer Reihe zeitgenössischer jüdischer Denker:innen, welche die israelische Politik kritisieren, widerfahren ist. Darunter die Publizistin Masha Gessen sowie die Philosophinnen Judith Butler und Nancy Fraser.
Richtig. Mutig. Klar.