Im Vorfeld des 1. Mai lehnt sich der Tamedia-Co-Redaktionsleiter Andreas Kunz einmal mehr weit zum Fenster hinaus. Dreist behauptet er in der Sonntagszeitung, der Kapitalismus habe dazu geführt, dass das Bruttoinlandprodukt «geradezu explodiert» sei. Ihm allein verdanke man den medizinischen Fortschritt. Er fördere «Innovation und Kreativität – so dass ständig neue Erfindungen für noch mehr Wohlstand, Glück und Lebensqualität sorgen. Armut, Kindersterblichkeit und Arbeitslosigkeit sinken ebenso rasant, wie Bildung und Forschung blühen.»
Kein anderes System, so das Fazit von Kunz, bringe soviel Wohlstand für alle. Was er damit unter den Tisch kehrt: Die zentralen Errungenschaften unseres Sozialstaates – dazu gehören AHV, IV, Krankenversicherung und Arbeitsgesetz – verdanken wir dem unermüdlichen Kampf von PolitikerInnen und GewerkschafterInnen, die es mit ihrem Engagement geschafft haben, dem grenzenlosen Kapitalismus Paroli zu bieten.
Genosse Jakob war einer dieser Kämpfer. Der Mitbegründer und langjährige Präsident des Arbeitervereins Port im Berner Seeland hätte für das Geschwurbel von Kunz wohl nur ein müdes Kopfschütteln übrig gehabt. Vor über hundert Jahren schrieb er im Jahresbericht von 1913 deutsch und deutlich: «Ein Arbeiter, der eine bürgerliche Zeitung abonniert, liefert dem Gegner einen Beitrag an die Fesseln, die dieser dem Arbeiter anlegt. Der Arbeiter gibt einem Feind das Geld um die Waffen, die gegen ihn geschmiedet werden, schmieden zu lassen.»
Sein damaliger Aufruf an die GenossInnen, mit einem Abonnement der «Berner Tagwacht» eine Zeitung zu unterstützen, die «ohne Rücksichtnahme die Interessen des arbeitenden Volkes verficht, die dem ausbeuterischen und heuchlerischen Kapitalismus die Maske vom Gesicht reist», tönt angesichts der aktuellen Medienkonzentration schon fast futuristisch.
Das Gebaren der gewinnorientierten kapitalistischen Medienunternehmen zeitigt hierzulande in letzter Zeit fast täglich frische Blüten. Der jüngste Coup: Die Aktionäre der SDA – notabene die Medienunternehmen, die Ernst Jakob gemeint hat – zahlen sich eine Dividende von 12 Millionen aus, während gleichzeitig die Redaktionen kaputt gespart werden sollen.
Heute sind zahlreiche der Errungenschaften, die wir der Generation von Ernst Jakob und seinen MitstreiterInnen zu verdanken haben, plötzlich infrage gestellt. Die Demontage des Sozialstaates durch die Neoliberalen ist in vollem Gang. An der Bildung wird gespart, die Sozialversicherungen werden gekappt, die Arbeitszeiten verlängert und prekäre Beschäftigungsverhältnisse als kapitalistisches Naturgesetz proklamiert. Solidarität ist ein Fremd- und Schimpfwort geworden. Jeder soll seines eigenen Glückes Schmied sein, und wem das nicht gelingt: selber schuld.
Geben wir deshalb Genosse Ernst Jakob noch einmal das Wort. Genau vor 70 Jahren, am 30. April 1948 trafen sich die Genossinnen und Genossen des Arbeitervereins Port zur allmonatlichen Mitgliederversammlung im Schulhaus. Im Protokoll von damals steht unter Traktandum 6:
«Genosse Jakob weist auf die grosse Bedeutung der Maifeier hin. Sie hat als Demonstration ihre Kraft nicht verloren. Grosse Erfolge seien errungen worden, so im Jahre 1920 das Arbeitszeitgesetz (Achtstundentag), dann der Nationalratsproporz und schliesslich die AHV, um nur einiges zu erwähnen. Die diesjährige Maifeier falle in das hundertjährige Jubiläum der schweizerischen Bundesverfassung. Genosse Jakob ermahnt alle Genossen, wenn es irgendwie möglich sei, an der Maifeier teilzunehmen. Er selber mache dieses Jahr das 53. Mal mit.»
Auf die immergleichen Kommentare von Hinz und Kunz, der Kapitalismusanbeter von Tamedia, NZZ und Co. zum 1. Mai hätte Ernst Jakob auch dieses Jahr dankend verzichtet.
«Da wir nun einmal das Eisen im Feuer haben…»
Ein Porträt über Ernst Jakob (1879–1950)
in der WOZ vom 15. April 2018