Das verschlossene Tor

Wir fol­gen dem Wegweiser, unter der dröh­nen­den Autobahn hin­durch. Nach links, 900 Meter bis zum rus­si­schen Soldatenfriedhof. Das Strässchen führt steil berg­an, es ist schwül warm. Diesmal sind wir zu Fuss unter­wegs. Im November waren wir mit dem ehe­ma­li­gen Bürgermeister von Herleshausen schon ein­mal hier. Mit dem Auto. Damals war es kalt und unfreundlich.

Jetzt scheint die Sonne. Am Wegrand ein Rapsfeld, schon fast ver­blüht. Vom Waldrand sind es nur noch weni­ge Schritte, schon ste­hen wir vor dem Schild mit der rus­si­schen Schrift. Jemand hat dar­un­ter einen Topf mit Stiefmütterchen plat­ziert. Auch auf dem weit­läu­fi­gen Gräberfeld gibt es ver­ein­zel­te Blumentöpfe. Zwischen den Tafeln mit den Namen der Begrabenen saf­ti­ges Grün und weis­se Margeriten.

Hier lie­gen über 2000 rus­si­sche Soldaten. Gestorben wäh­rend des zwei­ten Weltkriegs im Feldlazarett von Herleshausen. Die meis­ten an Mangelernährung und Tuberkulose. Wir gehen dar­an vor­bei – denn unser Ziel lieg hin­ter der Mauer die­ses ein­drück­li­chen Friedhofs.

Ein schma­ler Fussweg führt wei­ter in den Eichenwald, unter uns rauscht unauf­hör­lich die Autobahn. Ein Bauwerk aus der Nazizeit. Zwangsarbeiter hat man dafür ein­ge­setzt. Fertiggestellt wur­de sie erst in den 1980er Jahren, weil Herleshausen im west­deut­schen Bundesland Hessen nach dem 2. Weltkrieg plötz­lich hart an der Grenze zur DDR zu lie­gen kam. Heute ist die A4 eine wich­ti­ge Transitachse zwi­schen dem Osten und dem Westen Deutschlands.

Ich samm­le am Wegrand ein paar Steine. Ich will sie, nach alter jüdi­scher Sitte, mei­nen Vorfahren aufs Grab legen. Zwischen den Bäumen ein manns­ho­her grü­ner Metallzaun mit schar­fen Spitzen, dahin­ter eine Ansammlung alter Grabsteine. Der jüdi­sche Friedhof von Herleshausen. Einen Wegweiser vom Dorf hier­her gibt es nicht. Wir gehen auf das Tor zu. «Shabbat» steht in gros­sen Lettern. Darunter erklä­rend: Am Samstag und an den jüdi­schen Feiertagen sei der Besuch des Friedhofs nicht gestat­tet. Wir haben Glück: Es ist erst Freitagnachmittag.

Trotzdem ist das Tor ver­schlos­sen. Es gibt kein Weiterkommen. Über den Zaun klet­tern? Wer weiss, viel­leicht hat es irgend­wo eine Videokamera? Auf einem wei­te­ren Schild ist zu lesen, dass der Schlüssel bei der Gemeindeverwaltung von Herleshausen geholt wer­den könne.

Noch ein­mal zurück und wie­der hoch­kom­men? – Die Chance ist gross, dass die Büros der Gemeinde am spä­ten Freitagnachmittag bereits zu sind. Ich wer­fe einen letz­ten Blick in Richtung Gräber. Ganz hin­ten, in der letz­ten Reihe lie­gen mein Ururgrossvater Callmann Neuhaus und sei­ne bei­den Kinder Peritz und Rosalie. Das weiss ich, anläss­lich unse­res Besuchs im November haben wir die Grabsteine gefun­den. Der ehe­ma­li­ge Bürgermeister hat­te natür­lich einen Schlüssel dabei. Er setzt sich seit lan­gem für die Aufarbeitung der Geschichte der Juden in sei­nem Dorf ein, die ver­trie­ben und in Konzentrationslagern ermor­det wor­den sind.

Im November war uns gar nicht auf­ge­fal­len, dass die­ser Friedhof nicht wie ein «nor­ma­ler» Friedhof tags­über betre­ten wer­den darf. Warum nur? Ist die Ausrottung des brau­nen Virus nicht gelun­gen, trotz aller Impfkampagnen in deut­schen Schulhäusern und Medien? Sind die Toten an die­sem abge­schie­de­nen Ort mehr als 70 Jahre nach Kriegsende immer noch ein Angriffsziel? In Hessen, im 21. Jahrhundert?

Ich lege mei­ne Steine an den Wegrand zurück, wir keh­ren um. Auf dem Rückweg noch ein­mal einen Blick über den rus­si­schen Friedhof. Auch hier gibt es ein Tor – die­ses hin­ge­gen lässt sich ohne Schlüssel öff­nen. Es dient ein­zig und allein dazu, das Wild von der Anlage fern­zu­hal­ten, wie auf einem Schild zu lesen ist.

 

Eine Antwort auf „Das verschlossene Tor“

  1. Es stimmt, dass in Hessen (sicher auch in ande­ren Bundesländern) die jüdi­schen Friedhöfe ver­schlos­sen sind. Eine Anordnung der Aufsichtsbehörden. Der jüdi­sche Landesverband Hessen kon­trol­liert in unre­gel­mä­ßi­gen Abständen die Friedhöfe und mel­det Beanstandungen, die dann von den zustän­di­gen Kommunen besei­tigt wer­den müs­sen. Beanstandet wür­de sicher auch, wenn der Friedhof nicht abge­schlos­sen ist. Man liest hin und wie­der, dass jüdi­sche Friedhöfe geschän­det wor­den sind, in unse­rer Gegend bis­her (noch) nicht, und so soll es auch bleiben.

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