Bitterer Abschied

Offe­ner Brief 
an die Lei­tung der Domicil Bern AG und 
die Heim­lei­tung der Villa Sut­ter in Nidau

Heute ist es genau ein Monat her, dass unser Vater gestor­ben ist. In Ihrer Obhut und unter Ihrer Ver­ant­wor­tung. Plötz­lich, uner­war­tet, unter bit­te­ren Umstän­den – und wahr­schein­lich nicht direkt am Pan­de­mie-Virus. Das Pfle­ge­per­so­nal an der Front hat bis zum Schluss sein Bestes gege­ben und ist mit den fol­gen­den Aus­füh­run­gen in kein­ster Weise gemeint. Im Gegen­teil: Den Pfle­ge­rin­nen und Pfle­gern sowie dem Ser­vice­per­so­nal gebührt ein war­mer Dank für alles, was sie gelei­stet und für unse­ren Vater getan haben.

Die bit­te­ren Umstände sind unse­res Erach­tens nicht allein dem Coro­na­vi­rus anzu­la­sten, son­dern dem Régime, das vom Manage­ment der Domic­il­gruppe in unver­hält­nis­mäs­si­ger Weise ange­ord­net und von der Lei­tung der Villa Sut­ter gehor­samst durch­ge­setzt wurde. Die Ope­ra­tion «Ein­schlep­pung Coro­na­vi­rus ver­hin­dern» scheint in der Villa Sut­ter bis­her gelun­gen. Aber zu wel­chem Preis für die Ihnen anver­trau­ten Bewoh­ne­rin­nen und Bewohner?

Wir erach­ten es als zwin­gend, dass die Stim­men der Bewoh­ne­rIn­nen und ihrer Ange­hö­ri­gen zu Pro­to­koll gege­ben und gehört wer­den – in der Hoff­nung, dass die ver­ant­wort­li­chen Lei­tungs­per­so­nen ihre Lek­tio­nen aus der drin­gend not­wen­di­gen Manö­ver­kri­tik lernen.

Des­halb wol­len wir die Situa­tion, unter der unser Vater in sei­nen letz­ten Wochen und Mona­ten zuneh­mend gelit­ten hat und die er mit aller Kraft zu ver­bes­sern suchte, noch ein­mal zusam­men­fas­sen und beim Namen nennen.

Wir haben in die­ser Zeit fast täg­lich mit ihm über die Mass­nah­men und Vor­komm­nisse in der Villa gespro­chen, zudem haben wir auf sei­nem Com­pu­ter auch einen Text gefun­den, den er in den letz­ten Tagen und Stun­den vor sei­nem Tod ver­fasst hat und des­sen Inhalt er an der näch­sten Bewoh­ner­rats­ver­samm­lung vor­brin­gen wollte.

Die Domicil-Heime wur­den bereits Anfang März dicht gemacht. Eine Art Not­fall­mass­nahme, die anfäng­lich auch von unse­rem Vater akzep­tiert, ja gar will­kom­men geheis­sen wurde. Nicht zuletzt, weil sie (damals) zeit­lich begrenzt war.

Wir nah­men zur Kennt­nis, wie die Domicil-Mana­ge­rin Andrea Hor­nung Ende März im Regio­nal­jour­nal Bern selbst­be­wusst über ihre erfolg­rei­che Corona-Bekämp­fung berich­tete. Was dabei nicht zur Spra­che kam: Es hätte schon damals drin­gend Krea­ti­vi­tät, Fle­xi­bi­li­tät und Enga­ge­ment sei­tens der Heim­lei­tung gebraucht, um den alten Men­schen und ihren Angehörigen/​FreundInnen bald­mög­lichst wie­der zu ermög­li­chen, ihre Bezie­hun­gen zu pfle­gen. Mit ange­mes­se­nen Sicher­heits­mass­nah­men. So, wie man es für die Coif­feur­sa­lons, Tatoo-Stu­dios und Super­märkte schon bald in die Wege gelei­tet hat.

Nicht so in der Villa Sut­ter und in vie­len ande­ren Hei­men. Dort wurde der Lock­down vor­erst auf unbe­stimmte Zeit aus­ge­dehnt, strikt und ohne das not­wen­dige prag­ma­ti­sche Gespür für beson­dere Bedürf­nisse und Ein­zel­fälle. Alle Bewoh­ne­rIn­nen soll­ten über den glei­chen Kamm gescho­ren werden.

Nicht unbe­rech­tigt die Klage einer Heim­mit­be­woh­ne­rin unse­res Vaters, ihre Situa­tion küm­mere nie­man­den, es sei wohl ein­fa­cher, die Alten ein­fach ein­ge­sperrt zu las­sen. Es ist uns nicht bekannt, dass die Domicil-Gruppe mit ihrem nicht uner­heb­li­chen Gewicht beim Kan­ton für eine Locke­rung inter­ve­niert hätte, wie es Ver­tre­ter ver­schie­de­ner Wirt­schafts­ver­bände sofort, mit gros­ser Ein­dring­lich­keit und ent­spre­chen­dem Erfolg getan haben.

Eine unhalt­bare Situa­tion, zumal andere Insti­tu­tio­nen vor­mach­ten, dass es auch anders gegan­gen wäre. In der Villa Sut­ter hin­ge­gen fehlte es von Anbe­ginn an der not­wen­di­gen Empa­thie und Fle­xi­bi­li­tät. Statt sich mutig für die Bedürf­nisse der ihnen anver­trau­ten Men­schen ein­zu­set­zen, ver­steckte sich die Heim­lei­tung hin­ter «Wei­sun­gen von oben», die so gar nicht exi­stier­ten oder abso­lut unsin­nig waren. Unser Vater, der über die aktu­elle Corona-Situa­tion im In- und Aus­land immer bestens infor­miert war, klagte zuneh­mend dar­über, dass er von der Heim­lei­tung nicht ernst genom­men werde, und dass er auf seine Fra­gen und Argu­mente keine Ant­wor­ten, son­dern bloss Ver­trö­stun­gen erhalte.

Er berich­tete auch von absur­den Vor­komm­nis­sen: So durf­ten sich die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner zwar im Gar­ten der Villa auf­hal­ten, es wurde ihnen aber unter­sagt, über den Gar­ten­zaun mit Bekann­ten ein Gespräch auf Distanz zu füh­ren. Wäh­rend die Heim­lei­tung dar­auf pochte, dass alle Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner sich den Mass­nah­men zu beu­gen hät­ten, wurde bald bekannt, dass diese Wei­sung halt doch nicht für alle galt. Ob sich der pri­vi­le­gierte Ehe­mann, der seine in der Villa Sut­ter unter­ge­brachte Frau trotz «Ver­bot» immer wie­der besuchte, den Zugang zur Villa mit sei­ner Unver­schämt­heit oder auch noch auf ande­ren Wegen ver­schaffte, bleibt sein Geheim­nis – und jenes der Heim­lei­tung, die über diese Besu­che Bescheid wusste und sie tolerierte.

Alle ande­ren Heim­be­woh­ne­rin­nen und ‑bewoh­ner muss­ten bis Mitte Mai war­ten, bis Besu­che wie­der mög­lich wur­den – aller­dings auch dann nur unter restrik­tiv­sten Bedin­gun­gen: Ein Besuch von einer hal­ben Stunde pro Woche, maxi­mal zwei Per­so­nen, mit Mund­schutz und Hand­schu­hen, hin­ter einer Ple­xi­glas­wand… Auf die Frage nach dem Sinn und Zweck die­ser schi­ka­nö­sen Mass­nah­men erhiel­ten sowohl unser Vater wie wir immer die glei­che ste­reo­type Ant­wort: Befehl aus Bern.

Womit die Domicil-Lei­tung gemeint sein dürfte, denn das BAG hat stets expli­zit vom Hand­schuh­tra­gen, aus­ser bei bestimm­ten beruf­li­chen Hand­lun­gen, abge­ra­ten! Auf unsere dies­be­züg­li­che Mail vom 25. Mai an Frau Hor­nung erhiel­ten wir drei Tage spä­ter eine nichts­sa­gende Stan­dard-Ant­wort von der Mar­ke­ting-Direk­to­rin der Domicil-Kette, die uns auf wei­tere Öff­nun­gen per 6. Juni vertröstete.

Gegen­über Heim­lei­ter Mül­ler hat­ten wir bereits zu einem frü­he­ren Zeit­punkt dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass die alten Men­schen in den Hei­men nicht mehr viel Lebens­zeit hät­ten und es drin­gend not­wen­dig sei, ihnen bald­mög­lichst wie­der Begeg­nun­gen mit ihren Lieb­sten zu ermög­li­chen. Die­ser Appell ver­hallte unge­hört. – Noch am Frei­tag, 29. Mai, einen Tag vor sei­nem Tod, musste unser Vater von Heim­lei­ter Mül­ler hören, er solle sich gedul­den – «wir wol­len einen ruhi­gen Kopf bewah­ren und nichts überstürzen.»

Das ein­zige Ziel der Heim­lei­tung war, «coro­nafrei» über die Run­den zu kom­men. Wie sehr die Men­schen unter die­sem Régime lit­ten, war von unter­ge­ord­ne­tem Inter­esse. Die Tat­sa­che, dass in die­ser Zeit im Heim Men­schen gestor­ben sind, die ihre Ange­hö­ri­gen wäh­rend Wochen weder sehen noch spü­ren oder mit ihnen einen Kaf­fee trin­ken konn­ten, wird in kei­ner Corona-Sta­ti­stik auf­ge­führt und scheint des­halb für die Ver­wal­te­rIn­nen der Alten­pflege nicht von Belang. Weil sie nicht direkt «an oder mit Corona» gestor­ben sind…

Statt den Bewoh­ne­rIn­nen und ihren Ange­hö­ri­gen die ange­kün­digte wei­tere Locke­rung für Ende Mai in einem posi­ti­ven, opti­mi­sti­schen Ton zu kom­mu­ni­zie­ren, ver­teilte Heim­lei­ter Mül­ler am Don­ners­tag, 28. Mai den Bewoh­ne­rIn­nen der Villa Sut­ter ein Schrei­ben, das mit Fug und Recht als Droh­brief bezeich­net wer­den kann.

Unser anson­sten so ruhi­ger und beson­ne­ner Vater war ganz aus­ser sich, als er uns kurz nach des­sen Erhalt anrief. Für den Inhalt die­ses Schrei­bens, sagte er, gebe es nur ein Wort: «Frei­heits­be­rau­bung.»

Trotz­dem freute er sich auf den Spa­zier­gang mit sei­ner Toch­ter, die sich für Frei­tag ange­mel­det hatte. Er infor­mierte die Heim­lei­tung dar­über, dass er gerne mit ihr auch einen Kaf­fee trin­ken möchte – nicht in einem Restau­rant, aber im Gar­ten der Villa. Was ja aus BAG-Sicht völ­lig unpro­ble­ma­tisch gewe­sen wäre.

Heim­lei­ter Mül­ler nahm in sei­ner Ant­wort das Stich­wort Restau­rant auf und teilte mei­nem Vater und allen Anwe­sen­den mit, dass es in der Tat nicht rat­sam sei, zum aktu­el­len Zeit­punkt ein Restau­rant zu besu­chen. Er hätte dies in den ver­gan­ge­nen Tagen getan – und rate allen ande­ren drin­gend davon ab, weil der Ser­vice im betref­fen­den Restau­rant ohne Maske gear­bei­tet habe.

Ein Affront, nicht nur gegen­über den Heim­be­woh­nen­den, son­dern ins­be­son­dere auch gegen­über dem übri­gen Heim­per­so­nal, das seit Wochen dazu ange­hal­ten wurde, keine öffent­li­chen Orte und Restau­rants zu besu­chen, um das Risiko einer Ansteckung zu mini­mie­ren. Aber es kam noch schlimmer.

Als unser Vater glei­chen­tags vom Spa­zier­gang mit sei­ner Toch­ter zurück­kehrte, wurde ihnen der lang ersehnte erste gemein­same Kaf­fee nach über zwei Mona­ten im Gar­ten (mit Sicher­heits­ab­stand) ver­wei­gert. Ver­bo­ten. Von oben. Punkt. Keine Dis­kus­sion. Es wäre der letzte Kaf­fee mit einem sei­ner Kin­der gewesen…

Dies sind Vor­fälle, die unser Vater in einem Schrei­ben an die Heim­lei­tung, das er über Pfing­sten ver­fas­sen wollte, beschrie­ben hätte. Sein Ziel war stets, einen mass­vol­len, ver­nünf­ti­gen und gerech­ten Umgang mit der für alle schwie­ri­gen Situa­tion zu fin­den. Er hatte lau­fend Vor­schläge gemacht, auf Unge­rech­tig­kei­ten hin­ge­wie­sen, für Ver­bes­se­run­gen gekämpft…

Dass er von der Heim­lei­tung immer wie­der abge­wim­melt und ver­trö­stet wurde, hat ihn sehr gekränkt. Zu Recht fühlte er sich nicht ernst genom­men, ent­mün­digt und ent­rech­tet. Dar­un­ter hat er sehr gelit­ten. Er, der als 13jähriger Bub in Deutsch­land hat erle­ben müs­sen, wie sein Vater nach der Kri­stall­nacht von den Nazis in «Schutz­haft» genom­men wurde und nach zehn Tagen im KZ als gebro­che­ner Mann heim­ge­kehrt ist.

Unser Vater hin­ge­gen war alles andere als ein gebro­che­ner Mann. Mit sei­nen fast 95 Jah­ren konnte er auf seine grosse Lebens­er­fah­rung zurück­grei­fen und blieb bis zuletzt äus­serst wach und krea­tiv, wenn es darum ging, nach Lösun­gen und Ver­bes­se­run­gen zu suchen. Damit passte er wohl nicht ins Bild, das sich die Domicil Bern AG von ihrer betag­ten, «schutz­be­dürf­ti­gen» Kli­en­tel macht…

Nie hät­ten wir uns vor­stel­len kön­nen, dass unser Vater am Ende sei­nes enga­gier­ten, umsich­ti­gen Lebens der­mas­sen ent­rech­tet würde, dass er – «zu sei­nem Schutz» – von sei­nen Lieb­sten weg- und in der Villa Sut­ter ein­ge­sperrt wer­den könnte…

Wir wis­sen, dass wir mit unse­rem Leid nicht alleine sind. Vie­len ande­ren Heim­be­woh­ne­rIn­nen und Ange­hö­ri­gen ist es ähn­lich ergan­gen – ergeht es viel­leicht immer noch so. Des­halb kla­gen wir diese Miss­stände, diese feh­lende Empa­thie der Lei­tungs­per­so­nen an. Seit dem Tod unse­res Vaters haben wir von der Domicil Bern AG nichts mehr ver­nom­men. Wir war­ten noch auf eine letzte Rech­nung. Damit dürfte für sie der Fall erle­digt sein. Das Busi­ness as usual muss wei­ter gehen…

Gabriela, Peter und Mari­anne Neuhaus

19. Juli 2020 – Nachtrag:

Mitt­ler­weile ist die erwar­tete Rech­nung von der Domicil Bern AG ein­ge­trof­fen. Im stol­zen Betrag von ins­ge­samt CHF 8’435.40 ent­hal­ten sind – nebst den Miet­ko­sten für das Zim­mer bis und mit dem letz­ten laut Ver­trag ver­re­chen­ba­ren Ter­min – tat­säch­lich auch die Getränke, die man uns am Abend, als unser Vater gestor­ben ist sowie anläss­lich der Einsar­gung, in der Villa «offe­riert» hatte…

Diese Rech­nung war die ein­zige «Ant­wort» von Heim­lei­ter Heinz W. Mül­ler auf unse­ren offe­nen Brief. Anson­sten kein Lebens­zei­chen aus der Villa Sut­ter in Nidau. Eine Ant­wort-Mail erhiel­ten wir hin­ge­gen wenige Tage nach unse­rem Schrei­ben von Andrea Hor­nung, CEO der Domicil Bern AG. Sie recht­fer­tigt darin in gewohnt selbst­si­che­rer und beleh­ren­der Art und Weise die Corona-Mass­nah­men in ihren Betrieben.

Dem­ge­gen­über haben wir unzäh­lige Reak­tio­nen weit über den Freun­des- und Fami­li­en­kreis hin­aus erhal­ten, die zei­gen, wie bren­nend aktu­ell das Thema ist, weil vie­ler­orts ähn­li­che Miss­stände herrsch(t)en. Aber auch, dass es durch­aus andere Wege und Mög­lich­kei­ten gege­ben hätte, mit der Situa­tion umzugehen.

So über­nah­men etwa die Pal­lia­tive-Care-News unse­ren offe­nen Brief und publi­zier­ten den Link auf ihrer Landing­page – mit dem Kom­men­tar: «Ein herz­zer­reis­sen­der Blog­ein­trag belegt, wie krass ein­zelne Pfle­ge­heime auf die Corona-Krise reagier­ten und wie ent­wür­di­gend ein­zelne, nicht alle Heim­lei­tun­gen die Bewoh­nen­den und deren Ange­hö­rige behandelten.»

Eine Aus­wahl wei­te­rer Kom­men­tare, die uns erreicht haben:

«Mein Vater, noch sehr rüstig, jedoch etwas dement, ver­starb 98 jäh­rig Ende Mai im Alters­heim, weil er ver­suchte, aus­zu­bre­chen. In der Nacht dar­auf wurde er sediert, stürzte, hatte eine gra­vie­rende Kopf­ver­let­zung und starb 5 Tage spä­ter. (…) Da ich keine Blog­ge­rin bin, schreibe ich Ihnen per Mail, sie spre­chen mir aus dem Her­zen. Toll, haben Sie einen offe­nen Brief geschrie­ben. Ich hätte mei­nen Brief an Daniel Koch auch öffent­lich machen müs­sen.»


«Das kalte Geschäft, die Poli­tik der “Schuld­lo­sig­keit”, ist so grau­sam und in so gros­sem Kon­trast zur Ver­ant­wor­tung, Mensch­lich­keit und Liebe, mit der eure Eltern mir und auch mei­nen Kin­dern ein gros­ses Vor­bild waren.»


«Ich frage mich, wann end­lich ange­setzt wird zu Lösun­gen, die uns als Gesell­schaft tra­gen und uns struk­tu­rell vor­an­brin­gen. Welt­weit. Ein Armutszeugnis.»


«Danke, dass Ihr das öffent­lich macht.»


«Gibt mir lei­der nur zyni­sches Den­ken, die­ser CEO-lastige Indu­strie­zweig. Das braucht eine tat­kräf­tige Auf­sichts­be­hörde und Cou­rage wie Sie sie haben…»


« (…) Unsere Mut­ter war 10 Jahre in einem Pfle­ge­heim. Habe mich oft gefragt, wes­halb es nor­mal ist, dass wir an jeder Schule einen Eltern­rat haben, wo die Eltern der Kin­der etwas zu sagen haben, und dass wir unsere Eltern in Insti­tu­tio­nen geben müs­sen, die hier­ar­chisch geführt wer­den, in denen die Bewoh­ne­rIn­nen und Fami­li­en­an­ge­hö­rige nichts zu sagen haben.»


«Ich bin Pfle­ge­fach­per­son und arbeite in einem Alters- und Pfle­ge­heim. Ich habe seit März einige sehr beun­ru­hi­gende und bedenk­li­che Beob­ach­tun­gen gemacht, einer­seits in mei­nem Betrieb, aber auch gene­rell in der Gesell­schaft (v.a. im Bezug auf ältere Men­schen). Bei uns ist eben­falls im März mehr oder weni­ger Schlag auf Fall das Heim geschlos­sen wor­den. Die Bewoh­ner und Bewoh­ne­rin­nen durf­ten nicht mal mehr das Gebäude ver­las­sen, kei­nen Besuch emp­fan­gen und nicht bei­ein­an­der sit­zen. Zudem wurde die Cafe­te­ria geschlossen. 

Ver­stösse“ gegen diese Rege­lun­gen wur­den mit Sank­tio­nen bestraft, z.B. 10-tägige Zim­mer­iso­la­tion. Wir Mit­ar­bei­tende müs­sen rund um die Uhr Mas­ken tra­gen und Abstand hal­ten, was eine enorme (emo­tio­nale) Distanz zu unse­ren Bewoh­nern und Bewoh­ne­rin­nen schafft. Natür­lich ver­stehe ich den Sinn und Zweck die­ser Mass­nah­men. Ich ver­su­che mir vor­zu­stel­len, wie es den Bewoh­nern und Bewoh­ne­rin­nen dabei geht. Ich arbeite auf der geschütz­ten Wohn­gruppe mit Men­schen mit Demenz, die prak­tisch nur noch emo­tio­nal kom­mu­ni­zie­ren. Eine sol­che Distanz kön­nen Sie oft nicht ein­ord­nen, neh­men Sie zum Teil auch per­sön­lich und zie­hen sich zurück. Oder wer­den aggres­siv und gewalt­tä­tig, weil Sie über­for­dert sind und in Ihren emo­tio­na­len Bedürf­nis­sen zu kurz kommen. 

Dann kom­men Men­schen mit Hör­pro­ble­men dazu, die dar­auf ange­wie­sen sind Mimik/​Gestik und die Lip­pen zu lesen. Es erschwert die Kom­mu­ni­ka­tion unge­mein. Vor eini­gen Wochen hat die Heim­lei­tung Locke­run­gen ange­wie­sen, ziem­lich spät und lang­sam nach mei­ner Ein­schät­zung. Es gab ein Besu­cher­zelt, wo man sich mit 2m Abstand und Mas­ken für 30 Minu­ten tref­fen durfte. Und eine Weile eine Ple­xi­glas­scheibe. Seit Kur­zem sind wie­der etwas län­gere Besu­che erlaubt und die Cafe­te­ria ist wie­der offen, unter Ein­hal­tung der Hygienemassnahmen. 

Regeln, Mass­nah­men, Sank­tio­nen etc. wur­den uns per Mail zuge­schickt, es fand nie ein per­sön­li­cher Aus­tausch zwi­schen Per­so­nal und Kader statt (es gab regel­mäs­sige Corona-Sit­zun­gen, die nur unter dem Kader statt­fan­den). Ich haben einige Male dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass ein Aus­tausch erwünscht wäre, die Psy­che unse­rer Bewoh­ner und Bewoh­ne­rin­nen lei­det und gewisse Mass­nah­men zwei­fel­haft sind. Ich habe nie eine Ant­wort erhal­ten. Ich mache mei­nen Job sehr gerne, aber ich ver­misse in letz­ter Zeit etwas die Menschlichkeit…»


usw. usf.

Weggesperrt und vergessen

War­te­schlan­gen vor Bau­märk­ten und Gar­ten­cen­tern am Mon­tag­mor­gen. Sel­fies und Repor­ta­gen aus Coif­feur­sa­lons und Nagel­stu­dios, wohin man schaut – in den Bezahl­me­dien wie auf den Social-Media-Kanä­len oder in pri­va­ten Whatsappgruppen.

Kurz nach den ersten Locke­rungs­mass­nah­men nach dem Corona-Lock­down staunt man, für wie viele Men­schen hier­zu­lande es offen­bar nichts Dring­li­che­res gibt als Haare schnei­den und Gera­nien pflanzen.

Oder will man uns ein­fach weis­ma­chen, dass es jen­seits des Kon­su­mie­rens kein Glück, keine Zufrie­den­heit geben darf? Plötz­lich wird eine neue Nor­ma­li­tät ver­kün­det: die amt­lich ver­ord­ne­ten Zei­ten von Ent­schleu­ni­gung sind schon wie­der vor­bei. Alle wie­der zurück ins Ham­ster­rad – genug der Zeit für­ein­an­der, mit den Kin­dern, fer­tig mit aus­ge­dehn­ten Quar­tier- und Wald­spa­zier­gän­gen. Nach Wochen der Geduld, Vor­sicht und Zurück­hal­tung ist der Bann gebro­chen. Die viel­be­schwo­rene Soli­da­ri­tät löst sich in Luft auf. Nach­dem SVP-Rechts­aus­sen-Mil­li­ar­dä­rin Mar­tullo-Blo­cher in der Sonn­tags­presse bereits Mitte April unwi­der­spro­chen vor­ge­prescht ist: Tote seien in Kauf zu neh­men, zugun­sten der Wirtschaft.

Ins glei­che Horn stösst jetzt auch Mil­li­ar­där Samih Sawiris. «Es gehen Mil­li­ar­den ver­lo­ren für ein paar weni­ger Tote», kri­ti­siert der Ägyp­ter die Corona-Mass­nah­men in der Schweiz – eben­falls in der Sonntagspresse…

Der Ruf nach einer schnel­len Wie­der-Öff­nung von Restau­rants und Bars, der Ankur­be­lung des Tou­ris­mus sowie der Unter­stüt­zung von Air­lines wird immer lau­ter. Und scheint im Bun­des­rat auf Wohl­wol­len zu stossen.

Dies wird sich kaum ändern, wenn ab dem 4. Mai das eid­ge­nös­si­sche Par­la­ment wie­der tagt. Wer dort das Sagen hat, ist alt­be­kannt. Bereits in den letz­ten Tagen hat sich gezeigt: Die nim­mer­mü­den Wirt­schafts-Lob­by­isten haben wie­der Ober­hand – und lei­sten volle Arbeit.

Wei­tere viel dis­ku­tierte The­men der letz­ten Tage sind die Umar­mung von Enke­lIn­nen durch Gross­el­tern, die Wie­der­eröff­nung der Schu­len, das Hoch­fah­ren des öffent­li­chen Ver­kehrs sowie die Frage Schutz­mas­ken ja oder nein.

Völ­lig ver­ges­sen hin­ge­gen sind all jene Men­schen, die seit Wochen iso­liert von ihren Lieb­sten leben müs­sen. Ein­ge­sperrt in Hei­men, zu ihrem Schutz, wie es heisst. Weil sie als alte Men­schen, Men­schen mit Beein­träch­ti­gun­gen und Vor­er­kran­kun­gen zur «Risi­ko­gruppe» gehörten.

Auch wenn die Pfle­gen­den in die­sen Hei­men ihr Bestes geben und sich in die­ser schwie­ri­gen Zeit beson­ders enga­gie­ren: Die Iso­la­tion, die man­cher­orts bereits über zwei Monate andau­ert, ist nicht län­ger zu recht­fer­ti­gen. Ein­sam­keit macht krank.

In Pfle­ge­hei­men gibt es durch­aus Mit­tel und Wege, sorg­fäl­tig mit der Situa­tion umzu­ge­hen und Ansteckun­gen zu ver­hin­dern. Sicher­heits­kon­zepte, die für Coif­feur­sa­lons, Schu­len und Bei­zen gel­ten, kön­nen auch in sol­chen Insti­tu­tio­nen orga­ni­siert werden.

Warum nur ist dies in die­sen Tagen kaum ein Thema? Wenn irgendwo die Zeit drängt, für die Wie­der­auf­nahme einer «Nor­ma­li­tät», ist es in den Alten­hei­men: Hier leben Men­schen, die nicht mehr viel Lebens­zeit haben. Ihre Lebens­qua­li­tät beschränkt sich oft auf die Nähe, die Besu­che ihrer Part­ne­rIn­nen, Freun­dIn­nen, Kin­der und Enkelkinder.

Auf eine ent­spre­chende Jour­na­li­sten­frage an der Medi­en­kon­fe­renz vom 29. April wies Bun­des­rat Ber­set ein­mal mehr dar­auf hin, dass dies Sache der Kan­tone sei. Der Bund hatte Mitte März zwar eine Emp­feh­lung betref­fend Besuchs­ver­bot in Spi­tä­lern und Hei­men aus­ge­spro­chen – seit­her ist aus dem Bun­des­haus in die­ser Hin­sicht nichts mehr zu hören.

Immer­hin: Der Kan­ton Zürich hat seine Ver­ant­wor­tung wahr­ge­nom­men und letzte Woche Besu­che in den Pflege- und Alters­hei­men wie­der zuge­las­sen. Andere Kan­tone wie etwa Appen­zell Inner­rho­den oder Thur­gau ermög­li­chen seit Anfang Mai eben­falls wie­der Heimbesuche.

Im Kan­ton Bern hin­ge­gen, herrscht dies­be­züg­lich Schwei­gen. Kein Wort, wann mit einer Öff­nung gerech­net wer­den darf, kein Hin­weis dar­auf, wie der Aus­stieg aus dem tota­len Besuchs­ver­bot geplant ist.

Es ist eine Schande: Im all­ge­mei­nen Ankur­be­lungs- und Wie­der­eröff­nungs­fie­ber wird für jeg­li­ches Busi­ness offene Türen gefor­dert und ermög­licht. Nur jene in den Alters- und Pfle­ge­hei­men blei­ben wei­ter­hin ver­schlos­sen. Die Men­schen, die uns am mei­sten brau­chen, blei­ben weg­ge­sperrt, vergessen.

Jetzt oder nie

Dra­sti­sche Mass­nah­men sind mög­lich. Dies haben uns die letz­ten Wochen gezeigt. Wenn es um die eigene Gesund­heit geht, sind wir Men­schen bereit, auf eini­ges, das uns lieb ist, zu ver­zich­ten, unse­ren Lebens­stil zu verändern.

Das ist eine gute Nach­richt. Denn Ver­än­de­run­gen tun Not – mehr denn je. Zuoberst auf der Agenda ste­hen (immer noch) Mass­nah­men gegen den Kli­ma­wan­del. Hier müs­sen wir jetzt end­lich durch­grei­fen – und zwar mit der glei­chen Kon­se­quenz und Ent­schlos­sen­heit, mit der wir uns vor einer Ansteckung mit dem Corona Virus zu schüt­zen versuchen.

Dabei kön­nen wir auf den Corona-Mass­nah­men auf­bauen. So ergrei­fen zum Bei­spiel zahl­rei­che Städte in Europa die Chance und gestal­ten ihre Innen­städte weit­räu­mig und sofort fuss­gän­ger- und velo­freund­li­cher: In Mai­land oder Ber­lin etwa, erhält der «Lang­sam­ver­kehr» mehr Raum und deut­lich brei­tere Spu­ren. Dies, damit die Men­schen zu Fuss und auf dem Fahr­rad die Distanz­re­geln ein­hal­ten können.

Gleich­zei­tig beschrän­ken diese Städte den Platz für den moto­ri­sier­ten Ver­kehr, auch mit Blick in die Zukunft. Damit der Auto­ver­kehr nicht wie­der zu- son­dern abnimmt, heben sie Fahr­spu­ren und Park­plätze auf. Das ver­bes­sert die Lebens­qua­li­tät in den Städ­ten und bela­stet das Klima weniger.

Auch beim Flug­ver­kehr könnte die Corona-Erfah­rung hel­fen, das auf uner­sätt­li­chem Wachs­tum basie­rende Flug­ge­schäft zu redi­men­sio­nie­ren. Dies zumin­dest die Hoff­nung, nach­dem das Avia­tik Busi­ness welt­weit fast zum Still­stand gekom­men ist. Eine Bran­che nota­bene, die das Klima extrem schä­digt, und die sich bis heute erfolg­reich gegen grif­fige Umwelt­mass­nah­men gewehrt hat.

Dafür for­derte Swiss-Chef Tho­mas Klühr bereits Mitte März, als einer der ersten Fir­men­bosse, Staats­hilfe für seine Air­line, deren fette Gewinne der letz­ten Jahre offen­bar der Luft­hansa-Kon­zern­rech­nung zuge­führt wor­den sind. Zeit­gleich mit dem drei­sten Vor­stoss von Klühr lan­cierte der Ver­ein umver­kehR eine Peti­tion «gegen Staats­hilfe für den Flug­ver­kehr ohne Kli­ma­ziele», die am 28. April mit 11’440 Unter­schrif­ten ein­ge­reicht wor­den ist.

Ohne Erfolg: Nur einen Tag spä­ter, am 29. April, gibt der Bun­des­rat bekannt, dass er die Bürg­schaft für Kre­dite in der Höhe von knapp zwei Mil­li­ar­den CHF für die Luft­hansa-Töch­ter Swiss und Edel­weiss über­nehme. Dies, obschon die Swiss Anfang April schon für ihre gesamte Beleg­schaft von 9500 Ange­stell­ten Kurz­ar­beit ange­mel­det hat. Somit pro­fi­tiert sie nun von dop­pel­ter Unter­stüt­zung durch den Bund.

Die Begrün­dung von Bun­des­prä­si­den­tin Simo­netta Som­ma­ruga: «Die Luft­fahrt gehört zu den kri­ti­schen Indu­strien der Schweiz, sie trägt dazu bei, die inter­na­tio­nale Anbin­dung sicher­zu­stel­len, die Schweiz ist dar­auf ange­wie­sen: Mehr als ein Drit­tel unse­rer Exporte ver­las­sen per Flug­zeug das Land, und rund ein Sech­stel der Importe gelangt via Luft­fracht zu uns. Das heisst, daran hän­gen dann auch viele Fir­men, Lie­fer­ket­ten und Arbeitsplätze.»

Ist das nach­hal­tig und zukunfts­fä­hig? Corona hat uns gezeigt, dass es sinn­voll und mit­un­ter sogar über­le­bens­wich­tig ist, wenn gewisse Waren weder ein- noch aus­ge­flo­gen, son­dern an Ort und Stelle pro­du­ziert wer­den. Die hie­si­gen Spar­geln sind fri­scher und bes­ser als jene aus Peru. Wir brau­chen auch weder Rosen aus Kenia noch fri­sche Fei­gen aus Süd­afrika oder Trau­ben aus Indien.

Für Hin­ter­grund­info: click the pic

Der Ver­zicht auf sol­che Flug­fracht und die Rück­be­sin­nung auf sai­so­nale, regio­nale Pro­dukte ver­schlech­tert unsere Lebens­qua­li­tät um kein Biss­chen. Im Gegen­teil. Viel­mehr wer­den dadurch regio­nale Wirt­schaf­ten auf eine nach­hal­tige Basis gestellt, im Süden wie im Norden.

Das erfor­dert aller­dings mutige, klare Ent­schei­dun­gen. Die Mil­li­ar­den für die Air­lines sind hin­ge­gen ein voll­kom­men fal­sches Signal: zurück in die Ver­gan­gen­heit, statt vor­wärts in die Zukunft.

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