Der junge Coiffeur wohnt noch in der elterlichen Wohnung in der Agglomeration. Mit fünf erwachsenen Personen werde es langsam eng, erzählt er seinem Kunden. Gerne möchte er ausziehen, eine eigene Bleibe finden – und ja, vielleicht demnächst eine Familie gründen…
Am liebsten hätte er natürlich eine Wohnung nicht zu weit von seinem Arbeitsplatz. Dieser befindet sich in Zürich-Oerlikon, einem Stadtteil, wo einst Arbeiter:innen und Angestellte günstigen Wohnraum gefunden haben, wie in Vorstädten üblich. Aufgrund der grossen Nachfrage, ist hier in den letzten 20 Jahren denn auch sehr viel neuer Wohnraum geschaffen worden – und der Bauboom scheint nicht aufzuhören. Trotzdem dürfte es für einen einfachen jungen Berufsmann schwierig, ja schier unmöglich sein, hier eine für ihn und seine künftige Familie bezahlbare Unterkunft zu finden.
Als gelernter Coiffeur hat er laut dem GAV des schweizerischen Coiffeurgewerbes bei einem 100-Prozentjob ab dem 3. Berufsjahr Anspruch auf einen Basislohn von 51’360 Franken pro Jahr. Nach allgemeinen Grundsätzen sollte die Miete nicht mehr als ein Drittel der monatlichen Auslagen ausmachen. Damit liegen maximal 1’400 Franken pro Monat fürs Wohnen drin. Ein Blick auf das Angebot an Mietwohnungen in Zürich-Oerlikon zeigt: Die Anzahl der freien 3- bis 4‑Zimmerwohnungen ist bescheiden, die Preise dafür umso gesalzener.
Gerade mal eine einzige Wohnung – an der lärmigen Wehntalerstrasse, Baujahr 1954 – wird zu einem Preis unter 2000 Franken angeboten. Die meisten Mietzinse bewegen sich zwischen 2’500 und 3000 Franken im Monat – bei Neubauwohnungen sind sie sogar deutlich höher und bewegen sich zwischen 3’000 und über 4’000 Franken.
Für den Coiffeur und seine künftige Ehefrau heisst das: Der Lohn reicht nicht, um ein Dach über dem Kopf zu finden. Sie müssten beide je 100 Prozent arbeiten – und auch dann könnten sie sich höchstens eine besonders «günstige» Kleinwohnung leisten…
Ein Augenschein im Quartier macht deutlich, dass der anhaltende Bauboom im Norden von Zürich, angeheizt durch die politisch gewollte Verdichtung, zwar neuen Wohnraum schafft, aber gleichzeitig die Verdrängung der angestammten «einfachen» Bevölkerung zur Folge hat. Gentrifizierung gibt’s längst nicht mehr bloss im hippen Seefeldstadtkreis, sondern auch in Oerlikon und Schwamendingen.
Dies, weil gleich reihenweise ältere Wohnhäuser mit vergleichsweise günstigen Wohnungen zum Abbruch freigegeben werden, um darauf neue, «verdichtete» Renditeobjekte zu erstellen, die gleichzeitig die klimatisch wertvollen Grünareale in Zürichs Norden vernichten.
So werden zum Beispiel an der Berninastrasse 8 und 10 zwei gut erhaltene Mehrfamilienhäuser mit rund einem Dutzend Mietwohnungen und dem traditionellen Grün- und Gartenraum zerstört. An deren Stelle plant die Bauherrschaft «ein Mehrfamilienhaus mit 20 modernen, grosszügigen Eigentumswohnungen», wie der Projektwebseite zu entnehmen ist.
Gleich um die Ecke, an der Schuppisstrasse 8, ist das nächste Projekt ausgesteckt. Auch hier gehen die profitgeilen Investoren nach dem gleichen Schema vor: Ein gut erhaltenes Mehrfamilienhaus mit grosszügigen Gärten, die einst für den Gemüseanbau der Mieter:innen angelegt wurden, muss einem luxuriös ausgestatteten, mächtigen Bauklotz weichen. Die Visualisierungen lassen keinen Zweifel aufkommen: Auch hier wird kein Wohnraum für mittlere bis bescheidene Einkommen geschaffen!
Nur zwei Blocks weiter, an der Viktoriastrasse 13 und 15, stechen zwei weitere Mehrfamilienhäuser ins Auge. Beide sorgfältig renoviert, das eine mit hellblauer, das andere mit hellgrüner Fassade. Auch hier verkünden Bauprofile den baldigen Abriss: Die beiden Mietshäuser mit Baujahr 1940 «müssen» einem Neubau mit insgesamt 35 Wohnungen weichen: Der Eigentümer begründete seinen Entscheid in einem Schreiben an die Mieter:innen mit der wenig originellen Ausrede, damit der «Wohnungsknappheit in der Stadt Zürich entgegenzuwirken».
Die Online-Zeitung Tsüri hat detailliert über diesen Fall berichtet. Das Beispiel zeigt exemplarisch, wie intakter und erschwinglicher Wohn- und Lebensraum in der Stadt aus Profitgier vernichtet wird.
Dies, obschon die Liegenschaften stets gut unterhalten wurden und sich in entsprechend gutem Zustand präsentieren. Noch 2009 wurden die Häuser aufgestockt sowie die Autogarage zu Wohnraum umgebaut, so dass hier aktuell 18 Mietparteien ein Daheim finden. Allerdings nur noch auf Zeit: Allen Mieter:innen wurde auf Ende September 2025 gekündigt – auf der Schlichtungsstelle konnten sie wenigstens eine Erstreckung um 6 Monate erkämpfen. Das wars.
Nur ein paar Schritte weiter, an der Apfelbaumstrasse 2, ist man bereits einen Schritt weiter: Hier investiert die Immobilienmacher AG auf einem Grundstück, das wie alle anderen in diesem Quartier, über einen grossen Gartenraum verfügte, in einen Renditeneubau mit neun Eigentumswohnungen. Tiefgarage mit sieben Abstellplätzen inklusive. Auch hier werden zahlungskräftige Gutverdiende angesprochen: Die kleinste Wohnung – 2,5 Zimmer, 60 Quadratmeter im Erdgeschoss – kostet 1,2 Millionen Franken. Die Attika-Wohnung – mit bescheidenen 95,6 Quadratmetern die grösste und teuerste Wohneinheit – kostet gut doppelt soviel.
«Die Wohnungen an der Apfelbaumstrasse verfügen über einen hohen Ausbaustandard. Unser Ziel ist es, Räume zu schaffen, in welchen die Bewohner einen entspannten Lebensstil pflegen können», heisst es auf der Website des Projekts, das unter dem Motto «Novem – Ein Zuhause zum Wurzeln schlagen» angepriesen wird.
Einen solch «entspannten Lebensstil» kann sich der junge Coiffeur leider nicht leisten. Andere, mit dicken Portemonnaies, die vor kurzem noch die Nase über die Wohngegend Oerlikon/Schwamendingen gerümpft haben, übernehmen jetzt die traditionellen Arbeiter- und Mittelstandsquartiere. Anders kann man sich nicht erklären, dass profitgetriebene Investoren noch und noch günstigen, intakten Wohnraum vernichten, um an dessen Stelle Luxus-Renditeobjekte hinzuklotzen. Alles mit dem Segen einer rot-grünen Stadtregierung, die all diese Projekte locker durchwinkt. Trotz unverantwortlicher Vernichtung von grauer Energie in guter Bausubstanz und Zerstörung von Grünraum – was in Zeiten von Klimawandel und Ressourcenknappheit eigentlich verboten gehört.
Fest steht, dass dieser irre Bauboom die Wohnungsnot in Zürich und Umgebung nicht lindert, sondern vielmehr weiter befeuert. Dies entgegen aller Behauptungen von Investoren, Bauherrschaften und Politikern, die dem jungen Coiffeur wohl raten würden, halt in den Jura zu ziehen, wo es noch Wohnraum gibt, den er sich leisten kann. Zum Polieren ihrer angesagten Glatzen brauchen sie ja keine Friseure.