Bald sind es dreissig Jahre, dass die opportunistische Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg international unter Beschuss kam und im Rahmen einer breiten Aufarbeitung untersucht wurde. Über 50 Jahre nach Kriegsende war es damals höchste Zeit, dass das geschönte Selbstbild der Schweiz als Hort der Menschlichkeit und Zuflucht für verfolgte Menschen zurechtgerückt wurde. Allerdings erfolgte diese kritische Aufarbeitung der Schweizer Politik im und nach dem zweiten Weltkrieg erst auf Druck aus dem Ausland, im Rahmen der Entdeckung der auf Schweizer Banken liegengebliebenen sogenannten nachrichtenlosen Vermögen.
Als junge Historikerin verfolgte ich die Arbeit der 1997 in aller Eile vom Bundesrat eingesetzten «Bergier-Kommission» mit grossem Interesse. Den Vorsitz hatte der erfahrene Schweizer Wirtschaftshistoriker François Bergier, deshalb der Name. Bald schon wurde das Mandat, über die nachrichtenlosen Vermögen hinaus, auf eine weiterführende Untersuchung über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ausgedehnt. Nach fünf Jahren intensiver Forschungsarbeit legte die Kommission schliesslich 2002 einen über 600seitigen aufschlussreichen Schlussbericht vor.
Basierend auf der Auswertung Tausender Dokumente stellte die Kommission damals anhand zahlreicher Beispiele fest, dass in der Schweiz während und nach dem zweiten Weltkrieg «wirtschaftliches und/oder politisches Eigeninteresse das Verhalten dominierte». Eine Tatsache, die nicht weiter erstaunt, betrachtet man die in der Schweiz bis heute hochgehaltene und nach wie vor gültige «Staatsräson», dass die Politik in erster Linie – wenn nicht gar ausschliesslich – der Schweizer Wirtschaft und unserem Wohlstand zu dienen habe.
Eine andere Parallele zur aktuellen Politik in der Schweiz findet sich auf Seite 541 des Bergier-Berichts, wo in Bezug auf die Zeit des 2. Weltkriegs steht: «Im besonderen fällt die mangelnde Präsenz des Bundesrats bei entscheidenden Fragen auf. Ein paradoxes Phänomen», weil man hätte erwarten können, so das Fazit der Autor:innen, dass sich, gerade in der damals besonders schwierigen Zeit, die Regierung «für die Erfüllung wichtiger Staatsaufgaben besonders verantwortlich fühlte, und zwar sowohl um die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten als auch um die Glaubwürdigkeit des Landes nach aussen zu dokumentieren.»
Schweigen und (zumindest vordergründige) Passivität sind auch 2025 Kennzeichen des bundesrätlichen Handelns oder Nichthandelns. Besonders stossend ist dies in Bezug auf das inakzeptable, kriegsverbrecherische Vorgehen des israelischen Regimes in den von Israel widerrechtlich besetzten Gebieten. Dessen Vertreibungs- und Genozidpolitik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung wird als Staatsräson Israels deklariert und unvermindert fortgesetzt.
Statt wie andere Länder dem Mörderstaat Sanktionen oder die symbolträchtige Anerkennung Palästinas als Staat entgegenzusetzen, unterstützt die Schweiz Ministerpräsident Netanyahu und seine Schergen weiterhin, indem sie unverdrossen an der wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit mit Israel festhält.

Dabei hatte Bundesrat Ignazio Cassis offenbar im Frühjahr in seiner Abteilung für Völkerrecht ein Gutachten in Auftrag gegeben zur Frage, ob die Schweiz Palästina als Staat anerkennen solle. Ein wichtiger diplomatischer Schritt, zu dem sich mittlerweile eine grosse Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten entschieden haben. Am letzten Wochenende gaben Grossbritannien, Kanada und Australien bekannt, dass auch sie Palästina ab sofort als Staat anerkennen würden.
Ganz anders die Schweiz: Wie der Sonntagsblick am Wochenende publik machte, hält das EDA die Ergebnisse seiner Abklärungen seit Mitte Juni unter Verschluss. Der Versuch der Rechercheure des Sonntagsblicks, unter Berufung auf das Öffentlichkeitsgesetz Einsicht in das Dokument zu erhalten, wurde blockiert. Das EDA verweigerte die Offenlegung mit der Begründung, dass diese «die aussenpolitischen Interessen und die internationalen Beziehungen der Schweiz «wesentlich beeinträchtigen» könnte» und verwies auf den Schutz der «freien Meinungs- und Willensbildung» des Bundesrats.

Dieser ist ganz offensichtlich weiterhin nicht gewillt, die seit über 80 Jahren missachteten Rechte der Palästinenser:innen auf ein selbstbestimmtes Leben in ihrem Land anzuerkennen und Unterstützung zu leisten, damit die Völkermordpolitik Israels endlich gestoppt werden kann. In der Medienmitteilung über die Teilnahme von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter und Aussenminister Ignazio Cassis an der diesjährigen UNO-Vollversammlung in New York, ist dieses zentrale Thema nicht einmal erwähnt – man tut so, als ob Palästina die Schweiz nichts angehen würde…
Damit schaut unsere Regierung dem durch die USA unterstützten Völkermord Israels einmal mehr tatenlos zu. Aussenminister Cassis brüstet sich gerne damit, dass er – in Kriegszeiten – sogenannt sanfter Diplomatie den Vorzug gebe. Dabei hätte die Schweiz dieses Jahr eine ganz andere, wichtige Rolle spielen können, nachdem die US-Regierung unter Donald Trump der palästinensischen Delegation keine Visa erteilt und somit die Teilnahme an der UNO-Versammlung in New York verunmöglicht hatte.

Wir erinnern uns an 1988: Als die USA unter Ronald Reagan dem damaligen PLO-Chef Jassir Arafat ebenfalls die Einreise in die USA verboten, trafen sich die UNO-Mitglieder kurzerhand in Genf, um ihm und seiner Delegation eine Teilnahme an der UN-Sitzung zu ermöglichen.
Warum ist dies 2025 nicht erneut möglich? Ein solcher Schritt hätte nicht nur verhindert, dass nun erneut – wie in den letzten Jahrzehnten immer wieder geschehen – Staatsmänner und ‑frauen über das Schicksal der Palästinenser:innen verhandeln, ohne dass diese mitreden, geschweige denn mitbestimmen können. Darüber hinaus hätte die Verlegung der Sitzung von New York nach Genf der Trump-Administration endlich einmal auch bitter notwendige Grenzen gesetzt.
Stattdessen gehört die Schweiz zur schrumpfenden Minderheit der Länder dieser Welt, die nach wie vor dem faschistischen Terrorstaat Israel die Stange halten. Eine krasse, beschämende Realität, der wir weiterhin mit aller Kraft Gegensteuer geben müssen. Oder, wie es eine Freundin kürzlich in einem Kommentar treffend auf den Punkt gebracht hat: «Der Bundesrat täuscht sich, wenn er meint, er handle im Interesse des Schweizer Volkes. Das Volk will nicht, dass es in 50 Jahren heisst, die Schweiz habe nur wirtschaftlich profitiert und sich nicht am Versuch beteiligt, einen Völkermord zu verhindern, obwohl die Mittel dazu vorhanden gewesen wären.»
Weitere Infos über die Haltung der Schweiz zu Palästina:
Mise au Point vom 21. September 2025
… und zur Anerkennung des Staates Palästina:

















