«Deserteure sind Feiglinge», lautet das Verdikt einer Männerrunde in der Dorfbeiz. Darauf antwortet der Lehrer, der am Nebentisch sitzt und bis dahin geschwiegen hat: «Wenn alle Feiglinge wären, gäbe es vielleicht keine Kriege mehr…»
Die Szene aus dem Film «Vermiglio» spielt in einem italienischen Bergdorf, kurz vor dem Ende des 2. Weltkriegs. Sie geht unter die Haut – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des aktuellen Aufrüstungsbooms, der sich in genau solchen Meinungsäusserungen und Dialogen niederschlägt.
In Deutschland wird der Bevölkerung aktuell die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht schmackhaft gemacht. Kritische Stimmen, wie etwa der junge Autor Ole Nymoen, der mit seinem Buch «Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde» in ein Wespennest gestochen hat, werden in Medien und Talkshows niedergemacht.
Dies, obschon Nymoen, der an der Universität Jena Wirtschaftswissenschaften und Soziologie studierte und Bekanntheit als Journalist und Podcaster erlangt hat, seine Argumente klug und schlüssig vorzutragen weiss. Diese wollen aber Politik und Medien weder hören noch gelten lassen. Pikantes Detail: Mit Jahrgang 1998 wäre Nymoen wohl von der Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht direkt betroffen – im Gegensatz zum Grossteil der Politiker:innen, «Expert:innen» und Besserwissern, die seine Positionen abwechslungsweise niederschreien oder ins Lächerliche ziehen.
Sie alle drehen von ihren gutbezahlten und bequemen Professoren- und Moderatorensesseln aus munter an der Kriegsspirale. Auf dass die Menschen wieder im Gleichschritt ins Kriegselend marschieren. Pazifismus und Völkerrecht, das war einmal, die «Friedensdividende» sei zum Kotzen, aufgebraucht. Die Kriegstrompeten schmettern, der alte neue Feind müsse nur noch quer durch Österreich und schon stehe er am Bodensee!
Auch in der Schweiz hat es die Friedensbewegung schwer, schon seit Beginn des Kriegs in der Ukraine wittern die Militarist:innen Morgenluft. Allen Skandalen beim VBS zum Trotz, wird das Militärbudget wuchtig aufgestockt, und auch bei uns versucht man mehr menschliches Kanonenfutter zu rekrutieren. So behauptete etwa der Beobachter in seiner Ausgabe von Ende Juni 2025 auf der Titelseite: «Die Schweiz muss ihre Armee stärken.» Und fragte dazu in grossen Lettern: «Wo sind die Soldaten hin?»

Das Ringier-Blatt bezog sich dabei auf eine Umfrage, wonach nur 41 Prozent der Schweizer Bevölkerung über 18 Jahren im Kriegsfall für ihr Land kämpfen würden. Eine Haltung, die meines Erachtens mehr als vernünftig ist. Auch ich gehöre zu jenen 59 Prozent der Bevölkerung, die sich nicht ins Bockshorn jagen lassen von einer lautstarken Minderheit von Kriegsaugur:innen.
Trotzdem will man aus unseren Steuern Milliarden in die Aufrüstung investieren – eigentlich ein No-go, in einer Demokratie… Allerdings muss man davon ausgehen, dass sich – Umfragen hin oder her – bei einer Abstimmung aktuell wohl eine deutliche Mehrheit für die Stärkung der Armee aussprechen würde.
Dies ist vor allem dem Kriegsgedöns und der Angstmacherei auf allen Kanälen geschuldet.
Jüngstes Beispiel dafür ist ein langes Interview mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel («Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik») in der Sonntagszeitung vom 27. Juli 2025, eins zu eins dupliziert aus der Süddeutschen Zeitung vom Vortag. Der Titel, reine Panikmache und Propaganda: «Die nächsten drei Jahre sind die gefährlichsten – die russischen Streitkräfte rüsten massiv auf…»
Der reisserische Titel ist ein Zitat aus dem Gespräch mit dem «renommierten Experten» aus Potsdam, der damit suggeriert, dass Putin demnächst Europa überrollt – und wir deshalb «kriegstüchtig» werden müssen.

Er weist dabei einäugig darauf hin, dass Russland «unermüdlich» aufrüste und trotz der Verluste im Ukraine-Krieg 1,2 Millionen bewaffnete Kämpfer habe. Kein Wort hingegen über die Tatsache, dass die Nato nicht erst seit gestern in weit grösserem Stil aufrüstet, und dass sie bereits heute mehr als das Dreifache an Soldat:innen unter Waffen hat als Russland. Ein Blick in die Forschungsergebnisse des Stockholmer Instituts für internationale Friedensforschung SIPRI reicht, um sich über die tatsächlichen Relationen in Bezug auf die aktuelle Aufrüstungsspirale kundig zu machen.
Solche Fakten passen jedoch schlecht ins Narrativ vom gefährlichen Erzfeind im Osten, der Europa dazu zwingt, in Militarismus zu investieren und die Mitglieder der Nato (inklusive der Schweiz) auf Kriegswirtschaft zu trimmen – auf dass wir bereit sind, für einen baldigen heissen Krieg…
Bereits im Frühjahr hat der vielbeschäftigte Talkshow-Gast Sönke Neitzel mit seiner Aufforderung für Furore gesorgt, wir sollten den kommenden Sommer geniessen, weil dieser womöglich der letzte Sommer sei, den wir in Frieden erleben…
Jetzt – nachdem dieser Sommer schon bald zu Ende geht – ist er diesbezüglich allerdings zurückgekrebst. Er sei hoffnungsvoller als im Frühjahr, weil das für September geplante Militärmanöver, das Russland und Belarus gemeinsam durchführen wollen, wohl bescheidener ausfallen werde als befürchtet, liess der Professor verlauten. Und weil die Nato-Staaten beschlossen hätten, künftig mindestens 3,5 Prozent ihrer Staatsausgaben für Militärzwecke abzuzweigen.
Entwarnung will Neitzel aber keine geben – wenn nicht schon im nächsten Herbst, dann doch in den kommenden drei Jahren sei die Gefahr sehr gross, dass Putin zuschlagen werde, so der Militärhistoriker, der sich offenbar lieber mit Prognosen als mit seinem eigentlichen Metier, der Geschichtswissenschaft befasst. Diese sind aber wacklig untermauert mit Konjunktiven, Annahmen und bunt zusammengetragenen Plausibilisierungen.
Alles Spekulationen, «militärwissenschaftlich» zusammengekleistert und auf dem altbekannten schwarz-weiss Schema beruhend: Hier der «gute Westen», den es zu verteidigen gelte gegen das dämonisierte Russland – und jetzt komme auch noch noch die gelbe Gefahr aus China hinzu, verbündet mit den Russen… Schlimmer geht’s nimmer.
Dagegen gebe es nur ein Mittel, will uns Neitzel allen Ernstes glauben machen: Die konsequente Aufrüstung und Militarisierung unserer westlichen Gesellschaften. Kritische Fragen dazu von Journalistenseite? Keine.
In die gleiche Kerbe haut der notorische Aufrüstungspropagandist Georg Häsler in seinem heutigen Kommentar auf NZZ online. Mit einem noch reisserischen Titel als die Sonntags Zeitung, der behauptet: «Putin hat uns längst den Krieg erklärt». – Fake News in der Zeitung, die einst als Flaggschiff des Schweizer Journalismus galt.
Wie Neitzel malt auch Häsler die Bedrohung eines baldigen russischen Angriffs an die Wand. Und rechnet uns Schweizer:innen vor, dass wir gut daran täten, unsere Neutralität aufzugeben und uns gleich nach der Sommerpause in Kriegsvorbereitungen zu stürzen.
Dies, weil die Schweiz bis 2028 in der Lage sein müsse, mindestens einen Teil ihrer Armee für Kriegshandlungen zu mobilisieren. Mit der Begründung: «Die Schweiz muss verhindern, dass mitten in Europa ein Sicherheitsvakuum entsteht, sobald Frankreich, Deutschland und vielleicht auch Italien ihre Truppen an die Ostflanke verschoben haben.»
Dafür bräuchten wir, so Häsler, noch einmal ein zusätzliches Rüstungprogramm sowie einen «Patriot-Deal» mit den USA, damit diese die Waffensysteme doch eher liefern als aktuell angekündigt. Dies alles, um der russischen Gefahr aus dem Osten die Stirn zu bieten. Denn, so Häsler:: «Russland hat uns allen, den liberalen Demokratien, längst den Krieg erklärt.»
Dabei erleben wir aktuell, wie unsere westlichen Demokratien nicht in erster Linie durch Putin, sondern von innen her bedroht sind. Durch politische Polarisierung, aufkeimenden Faschismus, wirtschaftliche Zerfallserscheinungen – beschleunigt und gefördert durch die forcierte Militarisierung und Aufrüstung.
Jeder Euro, jeder Franken, der in die Kriegswirtschaft fliesst, fehlt anderswo. Dringend benötigte Ausgaben für Bildung, Klimaschutz, Kultur und weitere gesellschaftlich wichtige Bereiche werden gerade im grossen Stil zusammengestrichen, um Mittel für den Krieg freizuspielen und mit irrsinnigen Schulden zu finanzieren.
Über kurz oder lang werden so auch noch die letzten «westlichen Werte» der Militarisierung untergeordnet. Was letztendlich dazu führt, dass wir gar keine Werte mehr haben, die es zu verteidigen gilt. Weil wir in einer militarisierten Gesellschaft leben. Und der wollen wir uns beileibe nicht unterwerfen – oder?

